Obwohl Millionen von Menschen an Hunger sterben, landet etwa ein Drittel der weltweit produzierten Nahrung im Müll. Die beiden Schweizer Jungunternehmerinnen Anastasia Hofmann und Naomi MacKenzie helfen mit einer intelligenten Mülltonne Lebensmittelabfälle in der Gastronomie zu vermeiden.
Von Helen Hecker, Zürich/Palermo
Was wäre, wenn wir nachverfolgen könnten, wie viele und welche Speisen täglich im Müll landen? Diese und ähnliche Fragen schwirrten Anastasia Hofmann und ihrer Business-Partnerin Naomi MacKenzie im Kopf herum, als sie 2015 das erste Mal an einer Idee zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen feilten. Heute leiten die beiden Freundinnen mit gerade einmal Ende 20 erfolgreich ihr eigenes Unternehmen. Unter dem Namen KITRO, der die Wörter „Kitchen“ (engl. für „Küche“) und „Hero“ (engl. für „Held*in“) vereint, setzten sie sich für die Rettung von Nahrungsmitteln ein.
„Wenn ein Viertel der Lebensmittel, die derzeit im Müll landen, gerettet werden könnten, würde das ausreichen, um 870 Millionen hungrige Menschen zu ernähren“, erklärt Hofmann die Dringlichkeit des Problems. Ihre innovative Lösung: eine handelsübliche Mülltonne, die ausgestattet mit künstlicher Intelligenz „Food Waste“ in Restaurants, Hotels und Kantinen um bis zu 60 Prozent reduzieren soll.
Bis vor einigen Jahren hätte Anastasia Hofmann selbst nicht für möglich gehalten, dass aus ihr einmal eine Tech-Unternehmerin werden würde. „Eigentlich habe ich internationales Hotelmanagement studiert, weil mich Sprachen und das Reisen faszinierten“, erzählt die gebürtige Baslerin. Mit Tech hätten weder sie noch ihre Mitgründerin Naomi MacKenzie etwas am Hut gehabt. Und doch kam den beiden bereits während des Studiums jene Idee, die all ihre ursprünglichen Pläne buchstäblich in die Tonne haute.
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Hofmann und die in Texas aufgewachsene Schweiz-Amerikanerin MacKenzie lernten sich an der Hotelfachschule in Lausanne kennen. In Vorbereitung auf ihre Bachelorarbeit nahmen die beiden 2015 an einem Wettbewerb der Uni zum Thema „Nachhaltigkeit in Restaurantküchen“ teil. Schnell war den Studentinnen damals klar, dass sie sich mit dem Thema „Food Waste“ auseinandersetzen wollten.
„Naomi und ich hatten bereits während verschiedener Praktika und Sommerjobs in Restaurantküchen miterlebt, dass Lebensmittelverschwendung ein Riesenproblem war, für das es noch keine Lösungen gab“, erinnert sich Hofmann. Nie werde sie vergessen, wie sie einmal nach einem Event eine halbe Stunde lang Häppchen wegschmeißen musste.
Simple aber genial: Anastasia Hofmann und Naomi MacKenzie revolutionieren mit ihrer Mülleimer-Idee den Markt | Foto: Kitro
Wenn Nahrung nichts mehr wert ist
Doch erst im Zuge ihrer Recherchen wurde den beiden mehr und mehr das globale Ausmaß des Problems bewusst. Laut dem aktuellen Bericht der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) werden weltweit etwa 31 Prozent aller produzierten Lebensmittel verschwendet oder gehen entlang der Wertschöpfungskette verloren. Im Gegensatz zur Lebensmittelverschwendung (engl. „Food Waste“), die vor allem in Privathaushalten und der Gastronomie durch Überfluss und fehlende Wertschätzung von Nahrung verursacht wird, entstehen sogenannte „Lebensmittelverluste“ (engl. „Food Loss“) hauptsächlich am Anfang der Lieferkette.
Insbesondere in den meisten afrikanischen oder asiatischen Ländern geht der größte Teil der Lebensmittel so zum Beispiel bei der Ernte, beim Transport oder der Verarbeitung verloren. In westlichen Industrieländern liegt die Verantwortung dagegen mehrheitlich bei den Endkonsument*innen. So waren nach Angaben des Statistischen Bundesamts in Deutschland im Jahr 2020 Privathaushalte mit 59 Prozent die Hauptverursacher von „Food Waste“. Die Außer-Haus-Verpflegung, zu der unter anderem Restaurants, Hotels, Fast-Food-Ketten und Kantinen gehören, waren dagegen für 17 Prozent der insgesamt elf Millionen Tonnen Speisemüll verantwortlich.
Nur zwei Prozent der Lebensmittel gingen im Zuge der Primärproduktion verloren. Diese Zahlen, findet Anastasia Hofmann, seien nicht nur erschreckend, sondern machten vor allem die extremen sozialen Unterschiede auf der Welt deutlich. Allein in Deutschland wirft jede*r Verbraucher*in rund 78 Kilogramm Nahrung im Jahr weg. Dazu gehören neben unvermeidbaren Küchenabfällen wie Nuss- und Obstschalen vor allem übrig gebliebene Speisereste sowie verdorbene Lebensmittel. Nach Berechnungen der Welternährungsorganisation FAO belaufen sich die dadurch verursachten Kosten weltweit jährlich auf umgerechnet rund 2,4 Milliarden Euro.
Doch „Food Waste“ hat nicht nur soziale und wirtschaftliche, sondern vor allem auch ökologische Auswirkungen. So betont Hofmann, dass die Reduzierung von Lebensmittelabfällen ein entscheidender Weg sein könnte, um den Klimawandel zu bekämpfen. Schätzungen der Vereinten Nationen gehen davon aus, dass etwa acht bis zehn Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen – also 4,4 Gigatonnen – auf die Produktion von später nicht verwerteten Lebensmitteln zurückzuführen sind.
Anders ausgedrückt: Eine Fläche, die größer ist als China und 25 Prozent der weltweiten Süßwasservorräte werden für den Anbau und die Zucht von Nahrung verwendet, die niemals gegessen wird. Für Hofmann und MacKenzie stand fest, dass sie zumindest für die Gastronomie eine Lösung finden wollten.
Nur was gemessen wird, wird auch gemanagt
„Schnell merkten wir, dass eines der größten Probleme darin bestand, dass schlichtweg Daten fehlten. Eigentlich wusste niemand genau, wie viel von was entsorgt wird“, so Hofmann. Tag und Nacht tüftelten die Mitbewohnerinnen an einem Konzept, das Großküchen dabei helfen sollte, ihren Müll effektiv zu messen, um zu erkennen, was davon vermieden werden kann.
„Viele Gastronomen hatten ihre Abfälle vorher gar nicht gemessen oder nur manuell. Also mit Waage, Stift und Papier oder allenfalls einer Software, die sie mit Zahlen füttern mussten.“ In den meisten Küchen gäbe es für solch komplizierte Arbeitsprozesse jedoch keine Zeit. Beim Brainstormen über automatisierte Messverfahren ließen sich die Studentinnen schließlich von einem Tech-Giganten inspirieren. “Damals kam gerade Tesla mit ihrer neuen Bildanalysen Technologie auf und wir dachten: Wenn diese Technologie Straßenschilder erkennt, kann sie vielleicht auch Food Waste erkennen“, erinnert sich Hofmann. Die meisten Expert*innen, mit denen sie über ihr Konzept sprachen, sagten ihnen jedoch, dass dies nicht funktionieren würde.
Angespornt von ihren Professoren machten die Frauen jedoch unbeirrt weiter und entwickelten bald ein innovatives System: Dabei wird ein ganz normaler Abfalleimer mit einer Präzisionswaage und einer Kamera ausgestattet. Diese macht jedes Mal ein Foto, sobald Speisereste in der Tonne landen – egal ob Apfelreste, Pommes oder Müsli. Die Fotos werden anschließend mit dem dazugehörigen Gewicht von einer Software per Bildanalyse und Deep Learning ausgewertet.
Stammt ein Großteil der Abfälle zum Beispiel von Tellern, heißt die Lösung weniger servieren und dafür Nachschlag und / oder Behälter zum Mitnehmen anbieten. Werden viele Reste dagegen vom Buffet weggeworfen, könnten kleinere Schöpflöffel sowie das häufigere Nachfüllen der Platten das Problem eindämmen. Das Four Season Hotel in Genf etwa lernte, dass unnötig viel Obst von den Hotelzimmern entsorgt wird, das dort als Aufmerksamkeit für die Gäste bereitgestellt wird. Außerdem stellten sie zum Frühstück zu viel vom berühmten Schweizer Bircher Müsli her.
„Gut 50 Prozent davon warfen wir täglich weg“, sagt Hotel-Manager Benjamin Moury. Dank KITRO konnten sie ihre Produktion anpassen. Das helfe nicht nur die Umwelt zu schonen, sondern auch Kosten einzusparen. Im Schnitt, so Hofmann, würde jeder Gastronomiebetrieb in der Schweiz pro Tag Lebensmittel im Wert von über 150 Euro wegwerfen. In Deutschland geht das Umweltbundesamt sogar im Durchschnitt von 460 Euro pro Tag aus. Insbesondere seit der Corona-Pandemie und mit steigenden Rohstoffkosten würden daher immer mehr Neukund*innen Interesse für ihre Technologie zeigen, freut sich Hofmann.
Von der Uni zum Tech-Startup
Heute zählt KITRO stolze 15 Mitarbeitende und 120 aktive Kundenabonnements. Vor allem größere Boutique Hotels, internationale Hotelketten und Kantinenbetreiber*innen wie zum Beispiel die Stadt Zürich mit ihren Krankenhäusern, Altersheimen und Schulen gehören dazu. Rückblickend ist Hofmann stolz, den Mut zur Unternehmungsgründung aufgebracht zu haben. Insbesondere weil keine der beiden vorher das technische Know-how, Erfahrungen oder finanzielle Mittel hatten.
„Wir sind einfach mit einem A4-Blatt zu Kunden gegangen und haben über ,Food Waste‘ geredet. Einer von denen wollte es dann ausprobieren. Also dachten wir: Oh, dann müssen wir es halt bauen“, lacht die Schweizerin heute. Um anschließend die entsprechenden Förderungen beantragen können und die nötigen IT-Expert*innen für die Entwicklung der Hard- und Software zu finden, gründeten Hofmann und MacKenzie 2017 im Alleingang ihr Startup. „Eigentlich sind wir da eher so reingerutscht und es hat sich nie als ein Riesenschritt angefühlt. Wir waren jung, hatten keine Familie und nichts zu verlieren.“
Für die Zukunft wünschen sich die Gründerinnen, dass sie mit ihrem Projekt noch mehr Menschen für „Food Waste“ sensibilisieren und dabei helfen, langfristig umweltbewusstere Entscheidungen zu treffen. Hoffnung setzen sie vor allem auf neue Maßnahmen der Politik. So schrieb beispielsweise die UN kürzlich in ihren Zielen für nachhaltige Entwicklung fest, dass die weltweiten Lebensmittelabfälle bis 2030 um die Hälfte verringert werden müssen. Die Europäische Kommission entschied daraufhin, bis Ende 2023 rechtsverbindliche Ziele zur Reduktion der Abfallmenge vorzuschlagen. Wie diese genau aussehen sollen, wird derzeit in Brüssel diskutiert.
Würde es nach Hofmann und MacKenzie gehen, müsste es ein Umweltgesetz geben, das die Entsorgung von essbarer Nahrung komplett untersagt. Beide wissen jedoch, dass Innovationen oft viel Zeit in Anspruch nehmen. „Als wir 2015 begannen, an unserer Idee zu arbeiten, gab es noch gar keine Regulierungen“, sagt Hofmann. „Es ist cool, zu sehen, dass langsam etwas passiert und wir an dieser Entwicklung aktiv Anteil hatten.“ Im Umgang mit dem „Food Waste“ zu Hause gibt die Pionierin noch den Tipp, Brot in Scheiben geschnitten einzufrieren, bevor es alt wird. „Einfach in den Toaster damit und fertig!“