Mit dem Startup „Infogram“ hat es Alise Semjonova auf die Forbes-Liste der besten 30 unter 30 in Europa geschafft. Jetzt hilft sie anderen Frauen und Mädchen in Lettland beim Einstieg in die Digitalbranche – denn dort liegt die Zukunft des Landes.
Von Jasper Steinlein, Riga
Wenn Alise Semjonova bei einer Podiumsdiskussion auf der Bühne sitzt, kreuzt sie Arme und Beine, hält den Kopf schief und hört vor allem zu. Ihre Gesten sind sacht, die Stimme leise; obwohl sie als Expertin eingeladen ist, stellt sie selbst eine Frage: „Ist nicht das gemeinsame Ziel das Wichtigste – noch wichtiger, als dass alle der gleichen Meinung sind?“ Dass die 31-jährige Lettin in der Rigaer Tech-Szene so etwas wie ein Star ist, weil sie das Startup „Infogram“ mitgegründet hat, dem der internationale Durchbruch gelang, hebt sie selbst mit keinem Wort hervor. Dabei stand sie 2017 sogar auf der Forbes-Liste der europäischen top 30 unter 30.
„Infogram“ ist ein Web-Tool, mit dem Nutzer auf einfache Weise Daten visualisieren und Infografiken erstellen können, ohne programmieren oder am Computer zeichnen können zu müssen. Inzwischen hat das Unternehmen Büros in Riga, San Francisco und Budapest. Zu den Kunden zählen „LinkedIn“, „MSN“, „Transparency International“ und „Goodyear“. „Infogram“ ist auch gelungen, was in der Startup-Szene „Exit“ heißt: Die Softwarefirma „Prezi“ hat die Firma aufgekauft. „Jetzt können wir uns die URL-Endung .com leisten“, kommentiert Semjonova den Erfolg scherzhaft.
Anfangs wollte die damalige Designstudentin den Mitgründern Uldis Leiterts und Raimonds Kaže nur mit Skizzen für ihre Idee, ein für jedermann nutzbares Grafiktool zu entwickeln, helfen: „Vier Knöpfe, ein Bearbeitungsfeld – lass uns das Leben von Journalisten einfacher machen! Und dann haben wir eine Anschubfinanzierung bekommen, Accelerator-Programme zur Entwicklung haben uns in ihre Förderung aufgenommen und wir wurden von der Startup-Welt verschluckt.“
Rasante Entwicklung im Tech-Bereich
In den sechs Jahren, die „Infogram“ besteht, war sie erst für Design, dann für die Nutzererfahrung zuständig. Jetzt ist sie die Produktmanagerin. „Die Tech-Branche bewegt sich schnell. Programmiersprachen, die man an der Hochschule lernt, haben sich geändert, wenn man ins Arbeitsleben eintritt. Man muss die ganze Zeit weiterlernen oder man verpasst den Anschluss“, sagt Semjonova. „Ich mag die Branche wirklich gern und habe irgendwann bemerkt, wie viele Frauen gar nicht wissen, dass man hier erfolgreich ins Berufsleben einsteigen und gut verdienen kann.“
Frauen sind im Bereich Technik und IT stark unterrepräsentiert – die Lettinnen sind da keine Ausnahme. Nur zwei Prozent der Achtklässlerinnen können sich in Lettland eine Karriere in der digitalen Industrie vorstellen, bei den Jungs sind es fünf- bis sechs Mal so viele. Diese Zahlen, die Semjonova zitiert, hat der Telekommunikationsanbieter „Tele 2 Latvia“ erhoben; sie decken sich mit Statistiken des Weltwirtschaftsforums. „Das hat aber nichts damit zu tun, dass sie dort nicht willkommen sind“, glaubt Semjonova. Den meisten Mädchen fehle es schlicht an Vorbildern: „Jungs landen in technischen Berufen, weil ihre Brüder und Väter dort arbeiten. Sie spielen Computerspiele, tüfteln aus, wie sie Spiele hacken können und kommen so zum Programmieren. Mädchen sind in erster Linie die Konsumentinnen von Software, sie machen Fotos und posten die auf Instagram.“
Mit „Riga Tech Girls“ Vorbilder schaffen
Mit der Initiative „Riga Tech Girls“ will Semjonova deshalb Vorbilder für Mädchen und Frauen sichtbarer machen. Mit 16 anderen Kolleginnen aus der Startup-Szene organisiert sie ehrenamtlich Veranstaltungen, weist auf Stipendien und andere Ausschreibungen hin. Etwa einmal im Monat lädt die Gruppe zu Programmier-Workshops und Vortragsrunden ein, auf denen erfolgreiche Frauen aus der Tech-Branche sich und ihre Arbeit vorstellen. Auf der Bühne standen schon eine Software-Entwicklerin der NATO und eine Forscherin im Bereich Künstliche Intelligenz an der Technischen Universität Riga.
„Inzwischen bekommen wir auch gezielte Anfragen: ‚Wir wollen unser Panel geschlechtergerecht besetzen, kennt ihr eine Expertin?’“, erzählt Edīte Millere, die sich bei den Riga Tech Girls um die Kontakte zu Firmen und neuen Tech-Leaderinnen kümmert. Sie selbst arbeitet als Beraterin und unterstützt etwa das Bildungsministerium dabei, Lehrpläne zeitgemäßer zu machen. „Wenn wir mit 16-jährigen Mädchen reden, erzählen die von ihren Physiklehrern, die sagen: „Es ist in Ordnung, wenn du sieben von zehn Punkten bekommst. Das ist schon sehr gut für ein Mädchen!“, sagt Millere und ist empört – „Ernsthaft, das bringt man Kindern bei?“
Auch auf den Veranstaltungen der „Riga Tech Girls“ berichteten Frauen oft davon, „wie es war, als einzige Frau im Hörsaal zu sitzen und vor den Männern herabgesetzt zu werden – etwa, wenn etwas extra für dich noch einmal wiederholt wird“, sagt Millere. Wenn aus den Studentinnen dann erfolgreiche Absolventinnen würden, machten viele nicht mehr viel Aufhebens darum. „Dabei könnten sie den Frauen, die nach ihnen studieren, die Sache wesentlich angenehmer machen.“ Auch hier bieten die „Riga Tech Girls“ Chancen: Sie helfen beim Netzwerken und unterstützen Schülerinnen auf der Suche nach Praktikumsplätzen im Bereich IT.
Sind die „Riga Tech Girls“ Feministinnen?
„Wir hatten eine Diskussion über Feminismus, aber konnten uns nicht auf eine einzige Haltung oder ein markiges Statement einigen“, sagt Alise Semjonova. „In unserem Team sagten einige: „Ich will damit nichts zu tun haben. Ich will einfach mehr Frauen in Tech!“ Aber wenn wir uns für eine Frauenangelegenheit einsetzen, macht uns das wohl zu einer feministischen Organisation.“ Und Edīte Millere ergänzt: „Bei Feminismus geht es nicht darum, Frauen an erste Stelle zu setzen, sondern die Welt gleichberechtigter zu machen.“
Als etwa der lettische Mobilfunkanbieter „LMT“ einen Werbespot mit einem Gedicht von Laimonis Vāczemnieks unterlegte, das Jungen als „rastlos, hinterfragend, voller Unruhe im Geist“ lobt, war nur in einer einzigen Szene eine Frau zu sehen: Die sah grübelnd zu, wie ein Mann ihr eine wissenschaftliche Formel erklärte. Die „Riga Tech Girls“ veröffentlichten einen Artikel mit der Überschrift „Keine Frauen, keine Innovation“ und forderten die Firma darin auf, Stereotype zu brechen, statt sie zu wiederholen.
Lettland könne sich Diskriminierung gar nicht leisten, meint Semjonova. Seit Jahren schrumpft die Bevölkerung, jedes Jahr wandern mehr als 20.000 Menschen aus – unter ihnen viele hochqualifizierte Absolventen. Bis zum Jahr 2020 prognostiziert das lettische Wirtschaftsministerium einen Fachkräftemangel von mindestens 16.000 Stellen im Bereich IT – in einem Land, das eine der weltweit schnellsten Internetverbindungen hat und die Digitalbranche der am schnellsten wachsende Wirtschaftszweig ist. „Wer, wenn nicht die jungen Frauen sollen unsere nächsten Fachkräfte sein?“