Marlène Schiappa ist als Staatssekretärin für Gleichberechtigung zumindest offiziell die oberste Feministin Frankreichs. Sie will vor allem gegen sexuelle Belästigung in der Öffentlichkeit kämpfen und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen verbessern – Probleme, mit denen die 35-Jährige ihre eigenen Erfahrungen gemacht hat.
Von Carolin Küter, Lyon
Frankreich 2018: Monate nach dem Aufkommen der #MeToo-Bewegung ist das Thema sexuelle Gewalt gegen Frauen allgegenwärtig – Marlène Schiappa ist das politische Gesicht der Debatte. Die 35-Jährige ist seit etwa einem Jahr „Staatssekretärin für die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen“ und damit zumindest von offizieller Seite die oberste Feministin des Landes. Eine Rolle, auf die sie offensichtlich nur gewartet hat.
Kaum eine Debatte zu sexueller Gewalt und Feminismus, auf die Schiappa in den vergangenen Monaten nicht reagierte: Als vier Femen-Aktivistinnen 2017 für das Zeigen ihrer nackten Oberkörper zu Geldstrafen verurteilt wurden, unterstützte Schiappa die Organisation mit einem offenen Brief. Als die Republik im Januar erfuhr, dass eine Monate zuvor tot aufgefundene Joggerin von ihrem Mann ermordet worden war, kritisierte sie, der Anwalt des Geständigen betreibe „Opferbashing“. Der Jurist hatte die Tat unter anderem mit der „erdrückenden Persönlichkeit“ der Toten erklärt. So viel Einmischung gefällt nicht jedem: Parteikollegen erinnerten die Staatssekretärin daran, dass sich die Regierung nicht zu konkreten juristischen Verfahren zu äußern habe.
Marlène Schiappa sei „taub gegenüber Kritik“ und sprinte nach vorne, ohne sich umzuschauen, heißt es in der französischen Presse über sie. Ihr Mann nenne sie „Bulldozer“. Ihr politischer Mentor, der Bürgermeister der Stadt Le Mans, bescheinigt ihr „viel Temperament“. Wird sie damit konfrontiert, reagiert sie mit einem verbalen Achselzucken. „Ja, ja, hmm“, sagt sie. Es klingt nach: Genau, das bin ich. Ob man als Feministin solch einen Charakter brauche? „Ich habe noch nie gesehen, dass historische Fortschritte für Frauenrechte von jemandem erreicht wurden, der sich die ganze Zeit sagt: Oh Gott, vielleicht mache ich das nicht richtig, vielleicht haben die anderen recht, vielleicht verlange ich zu viel.“
Kampf gegen sexuelle Belästigung als „Schlüsselthema“
Bei ihrem politischen Projekt fühlt sich Schiappa vom Präsidenten persönlich unterstützt, den sie bisher gegen jede Kritik feministischer Gruppen verteidigte. So hatte Emmanuel Macron im Wahlkampf ein Ministerium für Frauenrechte statt nur ein Staatssekretariat versprochen. Schiappa argumentierte, als Staatssekretärin erreiche sie mehr, da sie Regierungschef Edouard Philippe direkt untergeordnet sei – so könne sie dessen Autorität nutzen, um auf andere Ministerien Einfluss zu nehmen.
Ihr bisher wichtigstes Vorhaben ist das „Gesetz gegen sexuelle und sexistische Gewalt“, das Anfang August verabschiedet wurde und für reichlich Kontroversen sorgte. Damit wurde erstmals ein Schutzalter für Sex mit Minderjährigen eingeführt, das bei 15 Jahren liegt. Ursprünglich wollte die Staatssekretärin, dass jede sexuelle Beziehung zwischen einem jüngeren Jugendlichen und einem Erwachsenen per se als Vergewaltigung gilt. Wegen verfassungsrechtlicher Bedenken wurde der Vorschlag jedoch geändert. Jetzt ist eine solche Beziehung nur unter bestimmten Umständen strafbar, was von vielen Feministinnen und Opferorganisationen scharf kritisiert wurde. Schiappa erhielt laut eigener Aussage auch Morddrohungen, da sie angeblich Pädophilie legalisieren würde und erstatte deswegen inzwischen Anzeige.
Für andere Teile des Gesetzes gab es mehr Zustimmung: Es verbietet sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum. Wer jemanden auf öffentlicher Straße beleidigt, bedroht, obszöne Gesten macht oder verfolgt, muss mindestens mit einer Geldstrafe rechnen. Bisher wurde diese Art von Belästigung als unausweichlich angesehen, so Schiappa. Dabei habe die Frage, inwiefern Frauen sich frei bewegen können, auch Einfluss auf alle anderen Lebensbereiche. Sie sagt: „Ich glaube, dass das ein Schlüsselthema ist. Frauen können im Berufsleben keine Gleichberechtigung erreichen, wenn sie auf der Arbeit oder auf dem Weg dorthin sexuell belästigt werden.“
Jugendlektüre: Rosa Luxemburg
Schiappa widmet sich als Staatssekretärin ganz praktischen Problemen. Dabei kam sie bereits früh mit feministischen Theoretikerinnen in Berührung. „Ich habe bereits als ich jung war Louise Michel und Rosa Luxemburg gelesen“, erzählt sie. Ihre Eltern lernten sich in einer kommunistischen Partei kennen, der Vater ist ein bekannter linker Historiker, die Mutter Lehrerin. Diskussionen über Politik und Feminismus gehörten zum Familienalltag, so Schiappa, die die Älteste von vier Halbgeschwistern ist. Bewusst zur Feministin sei sie jedoch erst geworden als sie am eigenen Leib erfahren habe, wie unterschiedlich Männer und Frauen in der Öffentlichkeit behandelt würden.
Schiappa verbrachte den Großteil ihrer Jugend in Paris. Während sich ihre männlichen Mitschüler ungehindert bewegen konnten, glichen ihre Wege oft einem Spießroutenlauf, erinnert sie sich: „Wenn ich irgendwohin wollte, musste ich Kerlen ausweichen, die versucht haben, mir zu folgen, mich anzusprechen, mich zu beleidigen.“ Marlène Schiappa ist Mutter von zwei Mädchen, sechs und elf Jahre alt. Für ihre älteste Tochter sei Belästigung durch Männer auf der Straße bereits ein Thema. Höchste Zeit, dass sich eine Regierung endlich darum kümmere, sagt sie und zitiert, wie oft im Gespräch, eine Statistik, die Nachfragen vorweggreift: Acht von zehn Französinnen hätten Angst, wenn sie abends alleine unterwegs seien.
Mit Anfang 20 sei sie einem weiteren ganz konkreten Problem begegnet, das sie zur überzeugten Feministin gemacht habe: der schwierigen Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Nach ihrem Studium in den Fächern Geografie, Kommunikation und Medien arbeitete Schiappa mit 24 Jahren als junge Mutter in einer Werbeagentur und stellte fest: „Es schien so, als wäre Kinder zu haben für Frauen ein Problem und für Männer kein Thema.“ Selbst Kollegen, die drei oder vier Kinder hatten, machten Dienstreisen und blieben abends lange bei Veranstaltungen, so Schiappa. Für Kolleginnen hingegen, die Mütter waren, sei irgendwann immer der Moment gekommen, an dem sie aufgrund ihrer Kinder verhindert gewesen sein.
„Mama arbeitet“: über einen Blog in die Politik
Irgendwann kündigte Schiappa ihren Job bei der Werbeagentur, um sich besser um ihre Tochter kümmern zu können und machte sich selbstständig – aber die Probleme blieben. In ihrem Bekanntenkreis sei die Erste gewesen, die Kinder bekommen habe. Deshalb hatte sie für viele ganz praktische Fragen keinen Ansprechpartner. Beispielsweise habe sie sich gefragt, wie man einen Krippenplatz finde oder sich darauf vorbereite, nach dem Mutterschutz wieder zu arbeiten. Deshalb gründete Schiappa 2008 einen Blog, der genau diese Fragen beantworten sollte: „Maman travaille“, zu Deutsch „Mama arbeitet.“ „Ich wollte mich mit anderen Müttern verbinden, die dieselben Probleme hatten, um sich auszutauschen und Lobbyarbeit zu betreiben“, erzählt die heutige Staatssekretärin. Offenbar traf sie damit einen Nerv: Die Seite kam schnell auf mehrere Tausend Besucher pro Tag, Schiappa veröffentlichte mehrere Ratgeber und etablierte sich als Expertin. Aus dem Blog wurde eine Organisation, die Konferenzen zum Thema organisiert und die Regierung in Gleichstellungsfragen berät.
„Maman travaille“ ebnete Schiappa auch den Weg in die Politik. 2014 lebt sie im nordwestfranzösischen Le Mans. Der Bürgermeister der Stadt, Jean-Claude Boulard, wird auf sie aufmerksam. „Ich habe ihre konkreten Vorschläge, vor allem was die Kinderbetreuung angeht, geschätzt“, sagt er. Bis 2017 arbeitete Schiappa hauptberuflich als Lokalpolitikerin in Le Mans und kümmerte sich unter anderem um das Thema Gleichberechtigung. 2016 schließt sie sich Macrons Partei an, die heutige „La Republique En Marche“ (LREM). Die Forderungen von „Maman travaille“ habe sie mit in ihr jetziges Amt genommen, so Schiappa. So untersuche die Regierung derzeit, inwiefern der Vaterschaftsurlaub verlängert werden kann, den Männer für elf Tage nach der Geburt nehmen können. Zudem soll der Mutterschutz für Selbstständige verbessert werden.
Die zukünftige Präsidentin?
Schiappa legt Wert darauf, dass sie sich aus eigener Kraft hochgearbeitet hat. „Ich hatte kein Netzwerk, ich komme aus einer Sozialsiedlung, ich habe meine Abschlüsse an der Abendschule gemacht.“ Die 35-Jährige ist Autorin von über einem Dutzend Ratgebern, Sachbüchern und Romanen. Gerade ist „Si souvent éloignée de vous“ („So oft von euch entfernt“) erschienen – eine Sammlung von Briefen, in denen sie ihren Töchtern erklärt, warum sie so viel arbeitet. „Mein Antrieb ist, die Welt um mich herum zu verändern,“ erklärt sie. Konkret heißt das, dafür zu sorgen, dass man als Frau genauso viele Freiheiten hat und genauso behandelt wird wie ein Mann.
Denn auch als Politikerin erlebt sie Doppelstandards – etwa wenn ein Abgeordneter im Parlament Andeutungen zu ihrem angeblich freizügigen Sexualleben macht. Trotzdem glaubt Schiappa, dass Frankreich im Prinzip bereit dafür sei, erstmals eine Präsidentin zu wählen – vorausgesetzt, die Parteien würden sich trauen, eine Frau als Kandidatin aufzustellen. Auch Macrons Partei besetzte die wichtigsten Ämter, also Regierungschef, Parteichef oder Regierungssprecher, bislang ausschließlich mit Männern. Sie selbst habe jedoch, trotz ihre Ehrgeizes und Durchsetzungswillen, gar kein Interesse am höchsten Amt im Staat: „Es gibt viele Bereiche, in denen ich sehr kompetent bin, aber es gibt auch Themen, in denen ich mich überhaupt nicht auskenne, vor allem in der Verteidigungspolitik, die Aufgabe des Präsidenten ist.“ Ein typisches Beispiel für weibliches Understatement? Nein, wirklich nicht, winkt Schiappa ab – „Man wirft mir wirklich vieles vor, aber Bescheidenheit gehört sicher nicht dazu.“