Die HPV-Impfung schützt vor Gebärmutterhalskrebs und rettet weltweit zahlreichen Frauen das Leben. 2013 erschüttern Berichte über angebliche Impfschäden die Menschen in Japan. Die Ärztin und Journalistin Riko Muranaka will mit Fakten aufklären – und muss dafür einen hohen Preis bezahlen.
Von Eva Casper, Kyoto
Als Riko Muranaka die Videos zum ersten Mal sieht, denkt sie: „Was soll das?“ Die Aufnahmen zeigen junge Mädchen, die offenbar Anfälle haben: Ihre Körper zucken unkontrolliert und sie können nur mit Mühe laufen. Schuld daran soll eine Impfung sein. Es ist 2013 und Japan erlebt einen Skandal um ein Mittel, das Leben retten soll. Er wird das Vertrauen in die HPV-Impfung auf lange Zeit schädigen und viele vermeidbare Todesfälle verursachen.
Dabei ist die HPV-Impfung in Japan zunächst ein Erfolg: Seit 2010 fördert die Regierung die Impfung mit Cervarix und Gardasil für Mädchen zwischen 12 und 16 Jahren. Im April 2013 nimmt sie die Impfstoffe in das nationale Immunisierungsprogramm auf und spricht damit eine Art offizielle Empfehlung aus. Die Impfquote liegt bei rund 70 Prozent. Ungefähr zu dieser Zeit tauchen die Handyvideos der Mädchen auf, die angebliche Nebenwirkungen zeigen sollen.
Japanische Medien greifen das Thema auf. Die Aufnahmen gehen durch das Land und verunsichern viele zutiefst. Obwohl es keine wissenschaftlich belegbaren Beweise dafür gibt, dass die Symptome der Mädchen auf die Impfung zurückzuführen sind, zieht die japanische Regierung ihre Empfehlung nach nur zwei Monaten wieder zurück. Die Impfquote stürzt in Folge auf weniger als ein Prozent.
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„Es war alles nur ein Missverständnis“
Riko Muranaka ist Ärztin und Journalistin. Als der Skandal ausbricht, arbeitet sie für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und kehrt gerade von einer Mission in Manila zurück. Auch Muranaka ist zunächst geschockt über die Videos. Dann informiert sie sich. Sie spricht mit Kolleg*innen der WHO, interviewt Expert*innen, analysiert Daten und kommt zu dem Schluss: Es gibt keinen Zusammenhang zwischen der Impfung und den Symptomen der Mädchen. Ihre Erklärung: Die Beschwerden haben wahrscheinlich psychische Ursachen. „Es war alles nur ein Missverständnis“, sagt Muranaka.
Studien unterstützen ihre Aussage. Die HPV-Impfung gilt als sehr sicher. 2006 wurde sie erstmals zugelassen. Laut der WHO empfehlen 125 Länder die Impfung für Mädchen, 47 auch für Jungs. Mehr als 500 Millionen Impfdosen wurden bereits verabreicht. Wie bei vielen anderen Impfungen auch können leichte Nebenwirkungen wie Schmerzen, Rötungen oder eine Schwellung an der Einstichstelle auftreten. Es kann zu Kopf- oder Muskelschmerzen, Fieber, Magen-Darm-Beschwerden, Schwindel und Müdigkeit kommen. Allergische Schocks sind selten.
Im März 2016 weitet sich der Skandal in Japan aus: Shuichi Ikeda, Neurologe an der Shinshu University in Matsumoto, untersucht als von der Regierung beauftragter Gutachter mögliche Nebenwirkungen der HPV-Impfung. Als er seine Ergebnisse öffentlich präsentiert, zeigt er Abbildungen von Mäusegehirnen. Die Impfung sei für Zerstörungen in der Hirnstruktur verantwortlich, behauptet er. Muranaka ist skeptisch und hakt nach. Ikeda habe ihr die Forschungsergebnisse nicht aushändigen wollen, erzählt Muranaka. Durch Umwege erfährt sie: Die gezeigte Abbildung stammt von nur einer einzigen Maus.
Fragwürdiges Maus-Experiment
Wissenschaftlicher Standard ist jedoch, Experimente mehrmals zu wiederholen, um etwa Zufälle auszuschließen. Zudem wurde der gezeigten Maus der HPV-Impfstoff gar nicht direkt verabreicht. Stattdessen wurde das Hirngewebe mit einem Serum besprüht, das Auto-Antikörper enthält, die körpereigenes Gewebe angreifen. Sie veröffentlicht ihre Recherche in dem japanischen Nachrichtenmagazin „Wedge“ und wirft Ikeda Betrug vor. Er wiederum spricht von Verleumdung und verklagt sie auf Schadenersatz. Seine Argumentation: Er habe die Studie nur zitiert, nicht selbst gemacht.
Es folgt ein langer Rechtsstreit. Muranaka wird derweil von Impfgegner*innen angefeindet. Sie bekommt Drohungen per E-Mail, Telefon und auf Social Media. Medien kündigen die Zusammenarbeit mit ihr auf. Sie entscheidet sich, Japan zu verlassen und geht nach Deutschland. Die Universität von Ikeda untersucht selbst den Fall. Sie kommt zu dem Schluss, dass das Maus-Experiment zwar keinen Beleg für Impfschäden liefert, Fälschungen seitens Ikeda will sie aber nicht erkennen.
Während sie in ihrer Heimat von Impfgegner*innen angegangen und von den Medien ignoriert wird, gewinnt Muranaka 2017 den internationalen John-Maddox-Preis, der Menschen auszeichnet, die sich gegen Widerstände für faktenbasierte Wissenschaft einsetzen. Der Preis wird von der britischen Wohltätigkeitsorganisation „Sense about Science“ vergeben, in Partnerschaft mit der Fachzeitschrift „Nature“.
Am Anfang hätten die Anfeindungen ihr Angst gemacht, sagt Muranaka. Doch sie sei nie körperlich attackiert worden. Sie glaubt, dass es am besten sei, solche Nachrichten zu ignorieren. Ihr Fazit: „Wenn ich überreagiere, macht sie das nur zufriedener.“ Derweil kommt eine groß angelegte epidemiologische Studie der Stadt Nagoya zu dem Schluss, dass es keine Hinweise für einen Zusammenhang zwischen der HPV-Impfung und den von Impfkritiker*innen beschriebenen Symptomen gibt. Dennoch hält sich die japanische Regierung mit einer erneuten Empfehlung weiterhin zurück.
Niederlage vor Gericht
Der Gerichtsprozess erweist sich derweil als schwierig. In Japan steht Muranaka als Beschuldigte in der Beweispflicht. Doch Ikeda weigere sich bis heute, die Daten der Studie auszuhändigen, so Muranaka. Immer wieder springen ihr renommierte Wissenschaftler*innen zur Seite, wie zuletzt der japanische Medizin-Nobelpreisträger Tasuku Honjo. Dennoch gibt 2019 ein Gericht in Tokio Ikeda recht und verurteilt die Journalistin und das Magazin „Wedge“ zu einer Strafe von umgerechnet 21.000 Euro. Muranaka möchte in Berufung gehen. Doch das Magazin zahlt die komplette Summe, entschuldigt sich und entfernt die Vorwürfe aus dem Text. Somit seien Ikedas Forderungen erfüllt und Muranaka hat ihr Recht auf Berufung verloren.
Trotzdem findet sie, dass sie im Nachhinein gewonnen habe, weil Ikedas Ansehen durch den gesamten Prozess gelitten habe. Inzwischen hat er die Universität verlassen und führt eine private Praxis. Eigentlich galt er als guter Arzt, doch durch sein fragwürdiges Maus-Experiment sei er laut Muranaka „zu einer Stütze der Anti-HPV-Impfstoff-Bewegung in Japan geworden“.
Regierung empfiehlt HPV-Impfung wieder
Immerhin: Die japanische Regierung hat ihre Meinung geändert und empfiehlt die HPV-Impfung seit April 2022 wieder – acht Jahren und zehn Monate, nachdem sie sie ausgesetzt hatte. Auch das sieht Muranaka als Bestätigung. Richtig freuen kann sie sich darüber aber nicht, weil viele Erkrankungen und Todesfälle hätten vermieden werden können.
Eine Studie, die 2020 in der renommierten Fachzeitschrift „The Lancet“ erscheint, kommt zu dem Schluss, dass die verringerte HPV-Impfung in Japan zwischen 2013 und 2019 zu 5.000 bis 5.700 zusätzlichen Todesfällen bei Frauen führen könnte. Die Regierung solle die HPV-Impfung an Schulen verteilen, so wie es auch in anderen Ländern der Fall sei, meint Muranaka – damit die Impfquote steigt und die Menschen das Vertrauen zurückgewinnen.
Ganz vorbei ist das Drama um die HPV-Impfung in Japan aber nicht. Es läuft noch immer eine Sammelklage gegen die Regierung wegen angeblicher Impfschäden. Allerdings haben einige der Mädchen, die damals von Nebenwirkungen berichtet haben, ihre Klagen inzwischen zurückgezogen, berichtet die Zeitung „Sankei“. Die Anfeindungen gegen sie seien weniger geworden, erzählt Muranaka. Aktuell ist sie Gast-Professorin an der Doshisha University in Kyoto, lebt aber weiterhin in Deutschland. Sie beobachtet auch, dass die japanischen Medien aus dem Vorfall gelernt haben und nun vorsichtiger über vermeintliche Impfschäden berichten.
Zudem sei im Zuge der Corona-Pandemie die Skepsis gegenüber Impfgegner*innen gestiegen. Japan hat eine extrem hohe Corona-Impfquote. Laut der OECD sind zudem rund 97 Prozent der japanischen Kinder gegen Masern geimpft. Bei Diphtherie, Tetanus und Keuchhusten sind es sogar mehr als 98 Prozent. Muranaka musste für ihr Engagement viel opfern. Doch sie glaubt, dass es das wert war. Hätten sie und andere Ärzt*innen sich nicht für die HPV-Impfung eingesetzt, hätte es noch viel länger gedauert, bis die Regierung sie wieder empfohlen hätte, ist sich die Ärztin sicher – und es würde in Zukunft noch mehr Todesfälle geben.
Weitere Informationen:
HPV steht für Humane Papillomviren. Infektionen mit HPV gehören zu den häufigsten sexuell übertragbaren Infektionen. Die meisten sexuell aktiven Menschen infizieren sich in ihrem Leben mit HPV. Selbst Kondome bieten keinen vollständigen Schutz davor. In der Regel sind die Infektionen harmlos, sie können aber auch Genitalwarzen oder sogar Krebs verursachen. Gebärmutterhalskrebs ist fast ausschließlich auf Infektionen mit HPV zurückzuführen. Laut dem Robert-Koch-Institut erkranken in Deutschland jährlich etwa 4.600 Frauen neu an Gebärmutterhalskrebs, pro Jahr sterben etwa 1.600 daran.
Innerhalb der HPV gibt es viele verschieden Virustypen. Eine Impfung kann vor einem großen Teil der HPV-Typen, die Gebärmutterhalskrebs auslösen können, schützen – allerdings nur, wenn sich die Person noch nicht infiziert hat. Eine Impfung sollte daher vor den ersten sexuellen Kontakten erfolgen.
In Deutschland empfiehlt die Ständige Impfkommission (STIKO) die HPV-Impfung für Mädchen und Jungen ab 9 Jahren. Aber auch, wer sich bereits mit HPV infiziert hat, kann von einer Impfung immer noch profitieren, da das Vakzin zumindest vor weiteren Virusvarianten schützen kann, mit denen die Person noch keinen Kontakt hatte. Das RKI bewertet die HPV-Impfung als „sehr sicher“.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) führt das HPV-Vakzin auf ihrer Liste der unentbehrlichen Arzneimittel. Demnach könnte die Impfung bei einer weltweiten Anwendung 60 Millionen Gebärmutterhalskrebs-Fälle und 45 Millionen Tote in den nächsten 100 Jahren verhindern.