In Sizilien wird der Höhepunkt der Corona-Pandemie Anfang April erwartet. Bereits jetzt fehlt es in den Krankenhäusern an Atemmasken und lebenserhaltenden Geräten. Hinzu kommen Lebensmittelplünderungen und soziale Spannungen aufgrund der Hungersnot vieler Familien. Ärzt*innen und Sozialarbeiter*innen bereiten sich auf das Schlimmste vor.
Von Helen Hecker, Palermo
Wenn Miriam Vitrano nach Hause kommt, folgt sie einem strengen Ritual, bevor sie ihren Sohn in die Arme nehmen kann: Ihre Schuhe bleiben vor der Haustür stehen, ihre Handtasche verschwindet in einem Plastiksack und sobald sie die Wohnung betritt, desinfiziert sie ihr Smartphone, die Türklinke und springt unter die Dusche. Nur 20 Tage, nachdem die junge Ärztin aus dem Mutterschutz ins Krankenhaus zurückgekehrt war, brach die Pandemie aus.
Die Stunden mit ihrem vier Monate alten Baby Stefano scheinen ihr seitdem noch kostbarer zu sein. Nie zuvor habe sie ihre Mutterinstinkte auf diese Weise wahrgenommen: „Als Chirurgin bin ich ein rational denkender Mensch und nur schwer in Panik zu versetzen. Eine derartige Furcht, meine Familie in Gefahr zu bringen, habe ich zum ersten Mal seit dem Ausbruch des Coronavirus empfunden. Es hat meine ganze Welt auf den Kopf gestellt.“
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Die auf Brustkrebs-Operationen spezialisierte Chirurgin war überglücklich, nach ihrer Schwangerschaft wieder arbeiten zu dürfen. Insbesondere in der Chirurgie sei es nicht immer leicht, sich als Frau durchzusetzen. Lange OP-Zeiten, familienunfreundliche Schichtpläne und extreme psychische Belastungen machen die Arbeit zu einer Männerdomäne. Doch die Freude über die Rückkehr in die Klinik währte nicht lang. Nachdem vor gut vier Wochen in ganz Italien eine Ausgangssperre verhängt wurde und Ärzt*innen in der Lombardei bereits auf Hochtouren um das Leben ihrer Patient*innen kämpften, schlugen auch die Krankenhäuser im Süden des Landes Alarm.
Die Klinik „Civico Partinico“ am Stadtrand von Palermo, in der die 34-Jährige arbeitet, wurde vollständig zum Quarantäne-Krankenhaus für Covid-19-Patient*innen umfunktioniert. Alle nicht lebensnotwendigen OP-Termine wurden abgesagt und viele Fachärzt*innen mussten in andere Krankenhäuser „umziehen“. Für die junge Mutter bedeutete dies täglich zwei Stunden Autofahrt in eine andere Stadt. Mit der Verschärfung der Ausgangssperre am 17. März fiel zudem die Unterstützung durch die Babysitterin weg. Vitrano blieb nichts weiter übrig, als ihren Dienst einzustellen und Urlaub zu beantragen. Nun befindet sich das Leben der Familie im Stand-by-Modus.
Wenn der Job zum Risiko wird
Während einzelne Krankenhäuser komplett zu Corona-Zentren umgebaut werden, fehlt es in vielen anderen Kliniken bereits jetzt massiv an nötiger Schutzkleidung, um den regulären Betrieb noch zu gewährleisten. Auch im Universitätsklinikum „Policlinico“ Palermo sei die Situation dramatisch, sagt Ornella Ferrara, Fachärztin für Orthopädie. Einige ihrer Kolleg*innen würden sogar mit chirurgischen Einwegmasken operieren, die sie seit mehren Tagen verwenden. Sie selbst habe erst kürzlich einen Patienten mit einem Oberschenkelbruch operiert, der unter einer schweren Lungenentzündung litt. Niemand habe sich getraut, ihn auf eine Corona-Infektion zu testen.
„Selbst ist die Frau“, sagte sich die einzige weibliche Medizinerin in ihrer Abteilung und bastelte die nötige Schutzkleidung aus sterilen OP-Hemden und einer Art Astronautenhelm, der sonst nur bei komplizierten Operationen am offenen Knochen eingesetzt wird. „Uns bleibt momentan leider nichts anderes übrig, als zu improvisieren“, betont die Chirurgin. Wie schwierig es ist, in dieser Situation sowohl Mutter als auch Ärztin zu sein, erlebt Ferrara am eigenen Leib.
Nicht nur ihr neunjähriger Sohn lebe mit der ständigen Angst, dass seine Eltern, die beide Ärzt*innen sind, sich und die restliche Familie mit dem Virus anstecken. „Wenn ich morgens das Haus verlasse, bekreuzige ich mich dreimal und wappne mich für einen weiteren Tag in Ungewissheit“, so die Orthopädin. Obwohl sie ihren Beruf aus tiefstem Herzen liebe, habe sie nie zuvor so mit sich selbst gehadert, zur Arbeit zu gehen.
Dass Not erfinderisch macht, bewiesen auch die Krankenschwestern im „Ospedale Cannizzaro“ in Catania, in dem bereits die ersten Fälle von Covid-19 unter Pfleger*innen und Ärzt*innen verzeichnet wurden. Ganz nach dem Motto „Do it yourself“ nähten sie sich aus Verzweiflung ihren Atemschutz selbst. Dieser erfüllt natürlich weder den nötigen Schutzstandard noch beruhigen sie die Gemüter des Krankenhauspersonals.
Mindestens eine Million Atemschutzmasken würden benötigt, um die sizilianischen Krankenhäuser für knapp drei Wochen zu versorgen. Jedoch werden die Lieferungen von Schutzutensilien aus dem Ausland derzeit vom Zoll beschlagnahmt und anschließend zentral vom nationalen Zivilschutz in ganz Italien verteilt. Dies blockiert den Nachschub erheblich. Indessen sprechen die Expert*innen des Gesundheitsministeriums von einem Wettlauf gegen die Zeit, um zu verhindern, dass das bereits fragile Gesundheitssystem Siziliens zusammenbricht.
Der nationale Zivilschutz warnt davor, dass der sogenannte „Peak“ der Corona-Pandemie Sizilien erst Anfang April erreichen soll. Besorgniserregend sei insbesondere die Zahl der mehr als 31.000 „Heimkehrer*innen“ aus dem Norden, die sich auf der Mittelmeerinsel in den vergangenen zwei Wochen laut Behörden registriert haben; die Dunkelziffer sei mit großer Wahrscheinlichkeit höher. Damit steige auch die Gefahr weiterer Infektionen und der stationären Aufnahme von Covid-19 Patient*innen.
15.000 Familien sind von Hungersnot betroffen
In Sizilien und insbesondere in der Landeshauptstadt Palermo häufen sich derzeit jedoch vor allem die Bedenken um die soziale Notlage der Menschen. Die aktuellen Zahlen der zentralen Notfallregistrierungsstelle belegen, dass sich allein in Palermo in einer Woche mehr als 15.000 Familien gemeldet haben, die unter Hungersnot leiden. Schätzungsweise 50.000 Haushalte sind derzeit ohne Einkommen. „Die Zahlen sind alarmierend“, sagt Gabriella Lipani, Leiterin des Vereins „Banco Alimentare Sicilia Occidentale“. Nach Angaben des karitativen Verbands habe sich der Bedarf an Lebensmitteln im ganzen Land aufgrund der Corona-Krise um 20 Prozent erhöht.
Seit mehr als 20 Jahren koordiniert Lipani mit Hunderten von Freiwilligen die Lebensmittelversorgung von sozial benachteiligten Familien. Hierfür arbeiten sie mit Pfarrhäusern und Schulen zusammen, die die wichtigsten lokalen Anlaufstellen für die Menschen in sozialen Brennpunktgebieten auf Sizilien sind. „Gerade in Palermos Arbeitervierteln leben viele überwiegend von den Einkünften der Väter, die ihre Familie gerade so mit Schwarzarbeit und Aushilfsjobs über Wasser halten. Ersparnisse gibt es da nicht“, so die Sozialarbeiterin. Mit der Ausgangssperre sei die einzige Einnahmequelle für Tausende von Menschen weggebrochen.
Eine rasante Abwärtsspirale, die genau dort ansetzt, wo bereits vorher soziale Not herrschte. Trotz dem Versprechen der Regierung, so schnell wie möglich die Sozialleistungen zu erweitern, kommt die Hilfe für viele Familien zu spät. Bei ihnen geht es schon jetzt um die tägliche Lebensgrundlage. Der Bürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando, befürchtet soziale Revolten und fordert ein „Armengeld“ aus Rom. Damit soll insbesondere dem Aufkeimen der Mafia entgegen gewirkt werden, die Menschen in Not schnelle Hilfe verspricht und sie zur Abhängigkeit zwingt.
Das wahre Elend zeigt sich im Supermarkt
„An den Supermarktkassen erleben wir momentan dramatische Szenen von Männern und Frauen, die in Tränen ausbrechen und um Hilfe flehen, weil sie nicht in der Lage sind, ihre Lebensmittel zu bezahlen“, gibt Lipani zu bedenken. Erst vor Kurzem habe sie eine junge Frau mit einem 18 Monate alten Baby angerufen, die sich sonst als Putzfrau durchs Leben schlägt und jetzt nicht mehr weiter weiß.
Ähnlich erging es wohl auch der Gruppe von Männern, die vergangene Woche versuchten, mit gefüllten Einkaufswägen aus einem Supermarkt zu fliehen. Dieser und ähnliche Plünderungsversuche haben die Polizei dazu veranlasst, ab sofort jegliche Einkaufszentren und Supermärkte der Stadt von einer Polizeistreife überwachen zu lassen. Einziger Lichtblick in der Not sei derzeit die große Solidarität vieler Bürger*innen.
„Wir waren überrascht, wie viele Freiwillige unseres Vereins, die älter als 60 Jahre sind, entgegen ihrer eigenen Furcht vor einer Ansteckung entschieden haben, uns beim Verteilen der Lebensmittel zu helfen“, so Lipani. Zahlreiche Unternehmen und Bürger*innen hätten sich zudem in den letzten Tagen gemeldet und gefragt, ob sie mit Großeinkäufen oder Spenden direkt helfen könnten. Auch Supermärkte und Restaurants, die aufgrund der Ausgangssperre schließen mussten, haben ihre Vorräte in die Lagerhallen des karitativen Netzwerks gebracht. Dort wurden bereits vor der Krise rund 3.000 Tonnen Lebensmittel jährlich umgesetzt.
Doch nicht nur auf diesem Wege zeigen sich die Sizilianer*innen solidarisch. Viele einfallsreiche Ideen spenden täglich Mut und Kraft. In Palermos Vorort Mondello errichteten einige kreative Köpfe spontan einen Soli-Lebensmittelstand an der Strandpromenade. Dort können Bürger*innen haltbare Lebensmittel, Obst, Gemüse und Wasser hinbringen und anderen kostenlos zur Verfügung stellen. Neben Balkonkonzerten, Kinderbetreuung im Internet und kollektiven Lesungen verbreitet die Aktion eines anonymen Künstlerkollektivs weiter Hoffnung in Palermo.
Seit einigen Tagen projizieren sie das mit einer Atemschutzmaske verhüllte Gesicht der Heiligen Rosalia an die Häuserwände der Stadt und rufen andere dazu auf, die Schutzpatronin Palermos zu teilen. Darunter steht der Hashtag #UnitedAgainstThePlague – eine Hommage an die bewegende Legende, die um die Heilige rankt. Demnach endete die schlimmste Pestepidemie im mittelalterlichen Palermo, als die Gebeine der Eremitin in einer Grotte gefunden und am 15. Juli 1624 in die Kathedrale überführt wurden. So soll auch heute die von Jung und Alt angebetete „Santuzza“ in Zeiten der Pandemie wieder Zuversicht spenden.