Mirtha Vásquez ist Menschenrechtsanwältin, Feministin und Politikerin. Seit dem 17. November 2020 ist sie darüber hinaus noch Präsidentin des peruanischen Kongresses. Vásquez hat die Aufgabe, eine von politischen Unruhen, Korruptionsskandalen und der Covid-19-Pandemie geprägten Regierungsperiode abzuschließen.
Von Eva Tempelmann, Lima
Es ist ein absolutes Novum: Eine Frau wird Präsidentin des peruanischen Kongresses. Und zwar nicht irgendeine Frau, sondern eine Frau, deren politischer Kurs im starken Kontrast steht zu dem ihrer Vorgänger. Denn Mirtha Vásquez ist Menschenrechtsanwältin, Feministin und Umweltaktivistin. Die 45-Jährige übernimmt dieses Amt inmitten einer der heftigsten Krisen, die Peru bisher erlebt hat: Korruptionsskandale bis in höchste Justizkreise, ein heruntergewirtschaftetes Sozialsystem und die Corona-Pandemie, die das Land an den Rand des wirtschaftlichen Kollaps bringt.
Für die Übergangsregierung bis Juli, die zudem die 200-jährige Unabhängigkeit Perus markiert, hat sich Vásquez einiges vorgenommen: Kampf gegen die Korruption, Stärkung der Menschenrechte und Durchsetzung wirksamer Sozialprogramme mit besonderem Fokus auf Frauen.
Ein Putschversuch und seine Folgen
„Wir müssen das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung unseres Landes wiederherstellen“, betont die neue Kongresspräsidentin in ihrer Antrittsrede. „Das Parlament ist den Menschen in unserem Land eine Entschuldigung fällig. Das Ausmaß an Straflosigkeit und Menschenrechtsverletzungen hat das Fass zuletzt – und zu Recht – zum Überlaufen gebracht.“
Damit bezieht sich Vásquez auf die heftigen Ausschreitungen, die den Neuwahlen vorangegangen waren. Anfang November 2020 hatte der peruanische Kongress mit einer großen Mehrheit das Staatsoberhaupt Martín Vizcarra wegen „moralischer Unfähigkeit“ abgesetzt – trotz großer Beliebtheit innerhalb der Bevölkerung. Der damalige Präsident des Kongresses, Manuel Merino, sollte das höchste Staatsamt kommissarisch übernehmen.
„Die Amtsenthebung wird den demokratischen Übergang und den Kampf gegen die Korruption in unserem Land enorm gefährden“, warnt die damalige Kongressabgeordnete Vásquez nur Minuten danach in den sozialen Medien. Tatsächlich löst die Neubesetzung, die viele als Putsch bezeichneten, die größte politische Krise seit 20 Jahren aus. Hunderttausende gehen in Lima und anderen großen Städten Perus auf die Straße.
„Merino ist nicht mein Präsident“, skandieren die Protestierenden, „wir haben es satt!“ Auch Vásquez schließt sich den Demonstrationen in Lima an. Die Polizei greift mit harter Hand ein, Dutzende Menschen werden verhaftet, zwei junge Männer von Polizisten erschossen. Fünf Tage später tritt Merino zurück. Dem Kongressabgeordneten der liberal-konservativen Partei Acción Popular droht wegen Putschverdacht nun ein Ermittlungsverfahren.
Sprung in ein mühsames Amt
Bei den eilig einberufenen Neuwahlen am 16. November benennen die Fraktionssprecher*innen die linke Politikerin und Schriftstellerin Rocio Silva Santisteban als mögliche neue Kandidatin für die Präsident*innenschaft. Santisteban ist wie Vásquez Mitglied des linken Parteibündnisses „Frente Amplio“. Aber die Abstimmung scheitert an einer fehlenden Mehrheit der 130 Abgeordneten: Santisteban gilt den teils ultrakonservativen Oppositionsparteien als zu progressiv.
Im zweiten Anlauf wird der 76-jährige Zentrumspolitiker und ehemalige Weltbank-Beamten Francisco Sagasti zum Kongresspräsidenten gewählt – und Mirtha Vásquez zu seiner Stellvertreterin. Einen Tag nach der Wahl wird Sagasti zum Staatspräsidenten der Übergangsregierung vereidigt, da die Regierung derzeit keine*n Vizepräsident*in hat, der*die das Amt sonst übernommen hätte. Mirtha Vásquez steigt so zur Vorsitzenden des Kongresses auf.
„Ich wünsche ihr viel Kraft für diese verantwortungsvolle, aber mühsame Aufgabe“, schreibt ihre Parteikollegin Santisteban kurz darauf in den sozialen Netzwerken. Sie vertraue auf Mirthas Hartnäckigkeit und diplomatisches Geschick. In der Tat schlägt Vásquez‘ Bestreben, die weit verbreitete Korruption im Kongress anzugehen, auf wenig Gegenliebe. Noch vor Weihnachten drohte ihr der Sprecher der Mitte-Rechts-Partei „Podemos“ mit einem Misstrauensvotum. Doch in der Bevölkerung findet Vásquez großen Zuspruch. Ihre Forderungen nach mehr Gerechtigkeit treffen ins Herz einer Generation, die genug hat von Korruptionsskandalen, Cliquenwirtschaft und einem Staat, der sich kaum um die Belange seiner Bevölkerung kümmert.
„Die jungen Leute wollen Veränderungen in unserem Land“, sagt Vásquez der peruanischen Tageszeitung „El Comercio“: „Sie fordern soziale Gerechtigkeit, und zwar aus gutem Grund.“ Peru ist vom Coronavirus so schwer getroffen worden wie kaum ein anderes Land der Region. Trotz monatelanger strenger Ausgangssperren schießt die Zahl der Infizierten in die Höhe, weil der Großteil der Bevölkerung im informellen Sektor arbeitet. Die Menschen müssen hinaus auf die Straße – oder hungern. Tausende machen sich auf sogenannten Elendsmärschen zurück in ihre entlegenen Heimatregionen auf dem Land.
Peru in der Krise
Die Pandemie zeigt die Auswirkungen des heruntergewirtschafteten Sozialsystems in voller Härte: Krankenhäuser kollabieren, von der Regierung eilig versprochene Soforthilfen für hilfsbedürftige Menschen kommen nicht an, Angehörige von Covid-Erkrankten zahlen Monatsgehälter für eine Flasche Sauerstoff, die sie auf dem Schwarzmarkt erstehen müssen. Die tief verwurzelte Korruption in Peru, dessen ehemalige Präsidenten in der jüngeren Geschichte fast alle wegen Machtmissbrauchs im Gefängnis sitzen, zeigt seine schlimmsten Folgen.
Und genau hier will die neue Präsidentin des Kongresses ansetzen. Sie kämpft seit Jahren für mehr Gerechtigkeit in ihrem Land. Die studierte Juristin arbeitete als Anwältin und Leiterin der Umweltorganisation „Grufides“ und ist Mitglied des Kollektivs „Ni Una Menos“, das ein Ende der Gewalt gegen Frauen fordert.
2012 übernimmt Vásquez die Verteidigung der Kleinbäuerin Máxima Acuña in Cajamarca, die gegen den Bergbaukonzern „Yanacocha“ klagt. Die Chancen, das Bergbauunternehmen auf dem Rechtsweg zu besiegen, sind gering. Vásquez weiß das, nimmt die Herausforderung aber trotzdem an.
„Ich bin in dieser Region aufgewachsen,“ sagt die Juristin, „ich habe die Ohnmacht der Bevölkerung gegenüber ausländischen Bergbauunternehmen miterlebt.“ In den 1990er Jahren werden in Cajamarca große Vorkommen an Gold und Kupfer gefunden. Gewaltige Minen entstehen, darunter die Goldmine „Yanacocha“. Die Bevölkerung geht gegen die massive Verschmutzung ihrer Umwelt, Zwangsumsiedlungen und fehlende Unterstützung der Regierung auf die Straßen. Immer wieder eskalieren die Proteste.
Hasskampagnen und Morddrohungen
Der Rechtsstreit mit dem Goldkonzern ist kräftezehrend und hat drastische Folgen für das Leben der Anwältin und ihrer Klientin. „Máxima wurde über Jahre immer wieder körperlich angegriffen, man stahl ihr Vieh und beschimpfte sie als Terroristin“, erzählt Vásquez. Auch sie selbst bekommt in der Öffentlichkeit schnell den Ruf der Umweltterroristin und Entwicklungsgegnerin. Sie erhält Morddrohungen, Bremskabel ihres Autos werden zerschnitten, Unbekannte brechen in ihr Haus ein. „Die Hasskampagnen waren schwer zu ertragen“, erinnert sich die Anwältin.
Viele richten sich gezielt gegen sie als Frau. Eine Schlangenbeschwörerin sei sie, liest sie in den Medien, sie solle zu Hause bleiben und die Finger von Themen lassen, von denen sie nichts verstehe. „Gegen den Bergbau zu sein gilt in Peru als provinzieller Protest von ungebildeten Menschen, die den Fortschritt nicht akzeptieren“, sagt Vásquez. Das bestätigt auch José de Echave, ehemaliger Vize-Umweltminister und langjähriger Wegbegleiter von Vásquez: „Bergbaukritiker sind ein Dorn im Auge der wirtschaftlichen und politischen Interessen Perus.“
Enge Freunde raten ihr, den Fall aufzugeben. Aber Vásquez verbeißt sich in diesen Rechtsprozess, der ein Exempel statuieren soll. Schließlich bestätigt das Gericht Acuñas Anspruch auf den Besitz von 25 Hektar Land, über den sie mit dem Bergbauunternehmen im Streit liegt. Der Fall wird international bekannt. 2018 bekommt die Kleinbäuerin für ihr Engagement den „Goldman Umweltpreis“ verliehen. „Ohne Mirtha hätte ich diese Jahre nicht durchgestanden“, sagt Acuña später über ihre Anwältin. „Ich bewundere sie für ihren Mut und ihre Ehrlichkeit.“
In guter Gesellschaft
Nach dem erfolgreichen Prozess ist Vásquez am Ende ihrer Kräfte. Die jahrelangen Anfeindungen haben ihren Tribut gezollt. 2018 zieht sie mit ihrem Mann und ihren Kindern, damals sechs und vier Jahre alt, in die Hauptstadt. Dort arbeitet die Anwältin für die Organisation „Vereinigung von Menschenrechten“, die die Bevölkerung in Bergbauregionen in Rechtsfragen unterstützt, und wird Mitglied der Nationalen Menschenrechtskommission.
Als der ehemalige Präsident Martin Vizcarra Anfang 2020 den Kongress auflöst und zu Neuwahlen aufruft, kandidiert Vásquez als Kongressabgeordnete für die Region Cajamarca. Mit Erfolg: Im März zieht sie in den Kongress ein. Mit dem Sturz Vizcarras und den eiligen Neuwahlen hat Vásquez nun wenige Monate später einen großen Sprung in eines der höchsten politischen Ämter des Landes gemacht.
„Dieser Schritt ist natürlich weit entfernt von einem ruhigen Familienleben“, sagt Vásquez im Interview. Sie sehe die kommenden Monate jedoch als eine unverhoffte Möglichkeit, den Menschen in ihrem Land ein Stück weit Vertrauen in ihre Regierung zurückzugeben. Dafür ist sie in guter weiblicher Gesellschaft: Gleich acht weitere Frauen haben den Vorsitz wichtiger politischer Ämter inne, unter anderem die Premierministerin Violeta Bermúdez. Ihre Spezialgebiete sind Menschenrechte mit Schwerpunkt Gender, Minderheiten und Demokratie.
Es wird sich zeigen, ob die Gesinnungsgenossinnen Bermúdez und Vásquez im kommenden halben Jahr erste Weichen für ein gerechteres Sozialsystem in Peru stellen können. Die Chancen dafür stehen besser als je zuvor.