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Im Reizgewitter
Leben mit Hochsensibilität

26. November 2024 | Von Sarah Tekath | 11 Minuten Lesezeit
Unsere Korrespondentin Sarah Tekath ist hochsensibel und berichtet von ihren Erfahrungen. Fotos: privat

Unsere Welt ist laut, grell, heiß, kalt, bunt, hektisch, eng und schnell. Den meisten Menschen fällt das nicht auf, weil sie diese Reize filtern. Hochsensible Menschen wie unsere Autorin können das nicht. Das kann ihr Leben zu einer täglichen Herausforderung machen. 

Sarah Tekath, Amsterdam

 

Zusammenfassung:

Das Leben hochsensibler Menschen ist oft eine tägliche Herausforderung in einer reizüberfluteten Welt, da sie Umwelteinflüsse ungefiltert und intensiv wahrnehmen. Während Geräusche, Lichter und Emotionen anderer bei ihnen stärker ankommen und oft zu Stress führen, können HSP eine besondere Empathie und Tiefgründigkeit entwickeln. Diese „Superkraft“ bringt aber auch die Notwendigkeit mit, persönliche Grenzen zu setzen und eigene Bedürfnisse zu schützen. Für die Autorin ist das Annehmen der eigenen Hochsensibilität der Schlüssel, um ein authentisches und erfülltes Leben zu führen.

 

Der Buddha auf dem Armaturenbrett blinkt hektisch. Rot, Gelb, Grün, Blau. Rot, Gelb, Grün, Blau. Rotgelbgrünblaurotgelbgrünblau. Straßenlaternen und Leuchtreklame jagen vor dem Fenster in der Dunkelheit vorbei, immer wieder dröhnt die Hupe in langanhaltendem Ton, wenn der Fahrer überholt. 

Auf den Bildschirmen, die im Gang hängen, betet eine Gruppe von Mönchen, die Gesänge hallen durch den Bus. Menschen telefonieren und versuchen, mit immer lauter werdenden Stimmen die Gebete und die anderen Gespräche zu übertönen. Vorne beim Fahrer läuft auf einem Fernseher ein Liebesdrama, bei dem sich in einer Todesszene gerade eine Frau kreischend auf den Boden wirft. 

Pause an der Raststätte. Der Versuch, sich in die hinterste Ecke des Restaurants zurückzuziehen, aber schon bald ist der gesamte Raum gefüllt mit fröhlich schnatternden Frauengruppen. Die Flucht auf die Damentoilette, in der Hoffnung, endlich einen Moment der Stille zu finden. Doch neben den Kabinen steht ein Generator, der wahrscheinlich irgendetwas in der Küche am Laufen hält und dabei Lärm macht wie ein Rasenmäher.

Ich hocke auf dem Klodeckel, vorne übergebeugt, zusammengekauert. Die Hände an die Ohren gedrückt, die Augen mit aller Kraft zusammengepresst und schluchze völlig erschöpft vor mich hin. Sicher einer der weniger würdevollen Momente meines Lebens. Heute weiß ich: Ich bin hochsensibel. Allerdings hat es mehr als 30 Jahre gedauert, bis ich das herausgefunden habe. Das Gefühl, anders als die anderen zu sein, hatte ich schon lange. Aber ich wollte einfach ‚normal‘ sein.  

In einem ihrer Bücher beschäftigt sich Esther Bergsma mit dem hochsensiblen Gehirn.

Ungefilterte Reize

Die Erkenntnis kam durch ein YouTube-Video, als ich mich über Introversion informieren wollte. Damit sind eher stille, manchmal in sich gekehrte Menschen gemeint, die viel Zeit für sich brauchen, um Energie zu tanken. Dem gegenüber stehen extrovertierte Personen, die ihre Kraft aus sozialer Interaktion ziehen können. Eines der rechts in der Leiste vorgeschlagenen Videos thematisierte Hochsensibilität. Als ich mir das Video anschaute, ergab plötzlich alles einen Sinn.

Die Forschung rund um Hochsensibilität und highly sensitive people (HSP) ist noch jung. Erstmals erschien ein Artikel im Jahr 1997, geschrieben von der amerikanischen Psychologin Elaine Aron, die auch Tests entwickelte, um eine mögliche Hochsensibilität auszumachen, denn eine richtige Diagnose gibt es bis heute nicht. Konkrete Zahlen übrigens auch nicht. Verschiedene Quellen sprechen von 15 bis 30 Prozent der Weltbevölkerung. Introvertierte Personen haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, hochsensibel zu sein, aber nicht jede introvertierte Person ist hochsensibel und nicht jede hochsensible Person ist introvertiert.

Wie zeigt sich Hochsensibilität?

Die Niederländerin Esther Bergsma ist ebenfalls hochsensibel und forscht seit Jahren zu dem Thema. Sie hat mehrere Bücher veröffentlicht, unter anderem ‚The brain of the highly sensitive person‘, und bietet Coaching für HSP an. Sie weiß, Hochsensibilität ist keine Krankheit, sondern ein Temperament, basierend auf genetischer Veranlagung. Anders als ein Persönlichkeitstyp – introvertiert oder extrovertiert – verändere es sich im Laufe des Lebens nicht.

Esther Bergsma ist hochsensibel und forscht zu dem Thema.

Hochsensibilität äußert sich anhand von drei Aspekten. „Hochsensibilität bedeutet, dass jemand Informationen aus seiner Umgebung anders verarbeitet. Das eine ist die Wahrnehmung der Umwelt. Es werden mehr subtile Details wahrgenommen. Das zweite ist die tiefe Verarbeitung, was bedeutet, dass das Gehirn viel intensiver damit beschäftigt ist, einen Sinn von allem zu finden, was es wahrgenommen hat. Und das Dritte ist, dass es eine intensive Wirkung auf die betreffende Person hat, zum Beispiel in Form von Emotionen und Stressreaktionen. HSP erleben also dieselbe Situation völlig anders als Freunde, Familie oder Nachbarn.“ 

Dies betreffe alle Reize, die mit unseren Sinnen zu tun haben. „Lärm ist für viele HSP ein Problem“, erklärt Bergsma, „aber auch subtile Geräusche, die andere gar nicht bemerken, wie das Summen einer Glühbirne. Oder grelles Licht. Ebenso kann es sehr störend sein, wenn die Kleidung kratzt oder juckt.“    

Was für Hochsensible so anstrengend ist, ist für Nichthochsensible oftmals nur schwer nachzuvollziehen. In unserer doch sehr extrovertierten Welt schätzen viele Menschen Lautsein, Präsenz, ein vollgepacktes soziales Leben, Ausgehen in Menschenmassen, ein Reizgewitter mit Musik und Gesprächen und körperlicher Nähe. 

Für Hochsensible kann jedoch schon die Fahrt in einer überfüllten U-Bahn mit Gedränge, Gesichtsausdrücken, Gerüchen, Hitze, Bewegungen und Lärm zur körperlichen und geistigen Herausforderung werden. Auch ich kenne das Gefühl der körperlichen Erschöpfung durch zu viel Reiz-Stimulation. Ich mag Musik und Konzerte, aber ich weiß, dass ich danach ein paar Tage brauche, um meinen „social hangover“, wie ich es nenne, meinen Sozial-Kater, auszukurieren.

Hochsensibilität als Superkraft?

Aber es gibt noch einen weiteren Aspekt von Hochsensibilität. Denn HSP können Emotionen anderer Menschen und Stimmungen im Raum erfühlen. Das Gehirn einer hochsensiblen Person spiegelt die Gefühle anderer und verarbeitet sie, als wären es die eigenen, erklärt Esther Bergsma. Starke emotionale Reaktionen können die Folge sein, so dass HSP häufig zu hören bekommen, dass sie sich doch nicht immer alles so zu Herzen nehmen sollen.

Diesen Aspekt hat Bergsma in ihrem Buch ‚happy highly sensitive‘ aufgegriffen. „Viele HSP, die ich interviewt habe, erzählten, dass sie auf ihr Verhalten vor allem negatives Feedback bekommen. Sie wären zu sensibel, zu empfindlich, würden alles zerdenken und zu persönlich nehmen. Deswegen hatten die meisten den Eindruck, dass ihre Hochsensibilität etwas Schlechtes ist. Dabei sind die Talente von HSP sehr wertvoll für unsere Gesellschaft.“

Die YouTuberin EllaThe Bee, die ebenfalls hochsensibel ist und in ihren Videos darüber aufklärt, aber auch Esther Bergsma sprechen von einer Superkraft. Die feinen Antennen von HSP, zum Beispiel für minimale Veränderungen in jemandes Tonlage, nehmen die Gefühle von anderen Menschen auf, richten sich danach und ermöglichen so ein sehr empathisches Verhalten. 

In meinem Beruf als Journalistin ist meine Hochsensibilität in der Tat Gold wert, weil ich bei Gesprächen, zum Beispiel mit traumatisierten Personen, ein Umfeld schaffen kann, in dem sich jemand sicher und verstanden fühlt. Aber diese Superkraft kommt mit einem hohen Preis. 

Denn andere Menschen profitieren zwar von meiner Empathie, aber dafür navigiere ich jeden Tag durch eine Welt, die nicht für Menschen wie mich gemacht ist. An guten Tagen sehe ich durchaus die Vorteile der Hochsensibilität. An schlechten Tagen aber wünsche ich mir insgeheim, dass sie doch eine Krankheit wäre, die ich mit ein paar Pillen kurieren könnte. 

Besonders tiefe Gefühle 

Autorin Sarah Tekath (rechts) mit einer Freundin bei einem Konzert. Danach brauchte sie mehrere Tage Erholung.

Esther Bergsma kennt dieses Gefühl von anderen hochsensiblen Menschen. „Es ist die Natur einer hochsensiblen Person, sehr auf ihr Umfeld und das Wohlbefinden anderer zu achten, oft bis zur eigenen Erschöpfung. HSP müssen darum erst lernen, dass ihre eigenen Bedürfnisse genauso wichtig sind.“ 

Außerdem, so erklärt sie, erlebten HSP zwar Negatives in dieser Welt sehr intensiv, aber eben auch Positives. „Hochsensible Menschen haben sehr tiefe Gefühle und erleben Freude, Glück und Liebe auf einem Level, das andere nicht erspüren können. Es ist zum Beispiel nicht ungewöhnlich, dass jemand bei einem schönen Sonnenaufgang oder beim Anblick eines wunderschön blühenden Baums in Tränen ausbricht. Das ist doch etwas Wundervolles.“

Sie verstehe den Wunsch, die eigene Hochsensibilität wegzumedikamentieren oder sich auf eine andere Art abzuschirmen, und doch sagt sie: „Hochsensibilität ist ein Geschenk. Der Trick liegt in der Akzeptanz. Gegen die eigene Natur zu arbeiten wird nicht klappen.“ Auch Bergsma musste das lernen. Mit 38 erlitt sie einen Burnout. 

„Ich hatte einen Job als Managerin mit sehr viel Verantwortung. Ich fühlte mich wie eine Versagerin, weil ich es nicht schaffte, so zu arbeiten, wie ich sollte. Aber dann verstand ich, dass nicht meine Art das Problem war, sondern dass der erwartete Management-Stil nicht zu mir gepasst hat.“ Erst damals habe sie erfahren, dass sie hochsensibel ist. Das habe geholfen, sich neu zu orientieren.

An diesem Punkt stehe ich nun. Aktuell arbeite ich an meinem Hochsensibilitäts-Selbstbewusstsein und daran, dass die Welt uns und unsere Bedürfnisse versteht. Ich will nicht mehr so tun, als würden mir Menschenmassen, große Events, Konferenzen und Clubnächte Spaß machen. Ich werde mich nicht mehr selbst erschöpfen an lauten, überfüllten Orten, weil das von mir erwartet wird. Ich werde es mir nicht mehr selbst schwer machen, damit es für andere leichter ist. 

Meine engen Freund*innen wissen mittlerweile, dass ich eine HSP bin, was ich kann und was eben nicht. Heute spreche ich es offen an – auch mit Menschen, die ich gerade erst kennenlerne. Hochsensibilität erklären muss ich eigentlich immer. 

 

Weitere Informationen: 

In dieser Folge spricht Sarah Tekath in ihrem Podcast „AmsterDames“ mit Esther Bergsma eine Stunde über Hochsensibilität (auf Englisch): https://open.spotify.com/episode/0mPnS5wNCmCG5jphCMypft  

Für weitere Informationen empfehlen wir diese Reportage von ZDF Terra Xplore:
https://www.youtube.com/watch?v=_lC4jY8HL4M

 

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Von Sarah Tekath, Amsterdam

Sarah Tekath kommt ursprünglich aus dem Ruhrgebiet, hat in Prag gelebt und schrieb dort als Freie für die Prager Zeitung und das Landesecho. Im Jahr 2014 zog sie nach Amsterdam, wo sie unter anderem für das journalistische Start-up Blendle arbeitete. Seit 2016 ist sie selbständige Journalistin und hat sich in den vergangenen Jahren vor allem auf die Produktion von Podcasts spezialisiert.

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