Das Rotlichtviertel in Amsterdam ist eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten des Landes. Viele gehen der Sex-Arbeit freiwillig nach, aber es gibt auch jene, die gezwungen werden. Sie sind nicht selten Opfer von Loverboys, die ihnen eine Liebesbeziehung vorspielen, um sie ausbeuten zu können. Einige Betroffene haben sich zusammengeschlossen und wollen aufklären.
Von Sarah Tekath, Amsterdam
Als Esther Ehlting 19 Jahre alt ist, trifft sie Mohammed, der hier nur einen Vornamen haben soll. Sie sind in einer Disko in Dronten, einer Stadt mit knapp 40.000 Einwohner*innen in der Provinz Flevoland. Der damals 17-Jährige fällt ihr durch seine langen, dunklen Haare und seine selbstbewusste Art auf. „Die anderen Jungs drucksten herum, wenn sie mich ansprechen wollten“, erinnert sich Ehlting. Aber Mohammed legt ihr einfach den Arm um die Schulter und sagt: ‚Wir gehen jetzt was trinken.‘ Das gefällt ihr.
Nach wenigen Tagen zieht Mohammed in Ehltings Wohnung ein. Ehlting arbeitet in einem Bekleidungsgeschäft, hat regelmäßige Arbeitszeiten. Wie aggressiv Mohammed werden kann, lernt sie, als sie ihn eines Morgens wecken will, weil sie zur Arbeit muss. Er rastet völlig aus. Danach versucht sie es nie wieder. Als sie wenige Monate zusammen sind, eröffnet er ihr, dass sie in die Türkei fliegen werden. Sie müsse dort einen Mann heiraten, damit der ein Visum bekommt. Sie will ablehnen. Da zieht er eine Waffe und hält sie ihr an den Kopf. „Ich war vor Schreck wie gelähmt“, erinnert sie sich. Wie in Trance packt sie, beide reisen in die Türkei und sie heiratet einen Fremden.
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Rotlichtviertel und Privatbordell
Dann kommt die Sex-Arbeit. Sie findet sich, nur in Unterwäsche, in einem Fenster im Rotlichtviertel in Amsterdam wieder. Sie ist völlig aufgelöst. „Ich habe die ganzen Stunden durchgeweint, weil ich mich so geschämt habe“, erklärt sie. Ob sie einen Freier gehabt hat, weiß sie nicht mehr. Danach bringt Mohammed sie in ein Privatbordell. Dort lebt Ehlting unter der Woche, am Wochenende ist sie mit Mohammed in der Wohnung. Sie putzt, macht die Wäsche und kocht – alles nur, um ihn zufriedenzustellen.
Das von ihr verdiente Geld gibt er für sich und die Miete aus. Ehlting sagt heute: „Hätte mich damals jemand gefragt, ich hätte gesagt: Nein, ich werde doch nicht gezwungen.“ Die Masche der sogenannten Loverboys ist perfide. An guten Tagen behandelt Mohammed Ehlting wie eine Prinzessin, macht ihr Geschenke und führt sie aus. „Er hat mir immer gesagt, noch einen Monat, noch eine Woche, dann kannst du aufhören“, sagt sie. „Ich habe das geglaubt und irgendwann ist es für mich eine Arbeit geworden wie jede andere auch.“ Eine Arbeit, die sie mehr als zehn Jahre lang für ihn macht.
Was Ehlting rettet, ist die Legalisierung von Sex-Arbeit im Jahr 2000 und eine Änderung im Steuersystem. Bisher lief alles über ihren Loverboy, jetzt muss sie sich als Sex-Arbeiterin registrieren und als Freiberuflerin Steuern zahlen. So bekommt die Regierung mehr Einblick, wer in der Industrie arbeitet. Außerdem wird sie schwanger von Mohammed. Als ihre Wehen einsetzen, erleidet er einen schizophrenen Schub und wird in eine Klinik zwangseingewiesen. Sein Zustand hat sich seither nicht wieder gebessert. Auch die heute 52-Jährige braucht lange, um wieder auf die Beine zu kommen, macht verschiedene Therapien.
Masche ins Internet verlegt
Im Jahr 2021 hört sie von der Merel van Groningen Foundation, die mit Menschen zusammenarbeitet, die selbst von Loverboys ausgebeutet wurden. Sie geben Workshops an Schulen, um Schüler*innen aufzuklären. Denn durch die Digitalisierung hätten viele Loverboys ihre Masche ins Internet verlegt, ihre Opfer landeten statt im Bordell auf Seiten wie „OnlyFans“, erklärt Ehlting. Dadurch seien sie weniger sichtbar und die Täter noch schwerer zu fassen. Die Stiftung unterstützt zudem Frauen und Mädchen bei ihrem Weg aus der erzwungenen Sex-Arbeit. Dafür ist ein direkter WhatsApp-Chat auf der Webseite eingerichtet, der über einen Button gleich den Kontakt zu einem Mitarbeitenden ermöglicht.
Ehlting weiß, wie schwer der Ausstieg ist, wenn niemand da ist, um zu helfen. Innerhalb kurzer Zeit hatte Mohammed sie von Familie und Freund*innen isoliert. Nun will sie durch ihre Mitarbeit bei der Organisation mithelfen, zu erreichen, dass sich keine Frau je wieder so fühlen muss. Sie sagt: Jetzt sei da eine ausgestreckte Hand, an der sie sich festhalten könnten. Oft sei es so, dass die Frauen nicht sofort bei der ersten Kontaktaufnahme Hilfe annehmen würden. Aber der Grundstein sei gelegt und nach ein paar Wochen oder Monaten würden sie wiederkommen.
Eine, die sich in der Industrie gut auskennt, ist Violet (Name geändert, Anmerkung durch die Redaktion). Sie ist Koordinatorin im sogenannten „Prostitution Information Center“, kurz PIC, in Amsterdam und Sex-Arbeiterin. Die Organisation ist eine Stelle, an die sich Sex-Arbeitende wenden können, die gleichzeitig allen offensteht, die mehr über das Thema erfahren möchten. „Wir versuchen, eine Brücke zu bauen zwischen Sex-Arbeit und der Öffentlichkeit“, erklärt Violet. Ziel ist es, dem Stigma dieser Tätigkeit mit Wissen entgegenzuwirken.
Denn vielen Menschen sei es immer noch unangenehm, sodass sie es nicht offen als ihren Job angeben würden. Auch deshalb hat die niederländische Regierung keine Zahlen, wie viele Menschen in der Sex-Industrie arbeiten. „Und es liegt auch daran, dass es keine statische Profession ist, sondern nur temporär sein kann. Außerdem verschwimmen die Grenzen zwischen legal und illegal“, so Violet.
Komplizierte Regulierungen
In der Theorie ist Sex-Arbeit in den Niederlanden legal – sowohl das Angebot als auch die Inanspruchnahme. Wer zum Beispiel in einem der Fenster, als Escort oder in einem Bordell arbeitet, muss sich als Selbständige*r bei der Handelskammer registrieren. Dort gibt es allerdings keine entsprechende Kategorie. Die Sex-Arbeitenden melden sich dann in den Bereichen „Unterhaltung“ oder „Gesundheit“ an.
Um das tun zu können, erklärt Violet, brauche die jeweilige Person eine Arbeitserlaubnis in der EU, denn per Gesetz sei der Zugang von Menschen von außerhalb der EU in die niederländische Sex-Industrie – übrigens als einziger Branche – untersagt. Aber auch da gebe es, mit bestimmten Visa, Ausnahmen. Und: Jede Stadt oder Region macht ihre eigenen Regeln. In Tilburg sei Sex-Arbeit zum Beispiel ab 18 Jahre legal, in Amsterdam erst ab 21. Außerdem erlauben von 352 Gemeinden nur drei Sex-Arbeit in der eigenen Wohnung. Wer erwischt wird, riskiert heftige Strafen und den legalen Rauswurf durch die Vermietenden.
Einschränkungen befeuern Illegalität
Und obwohl die Regierung versuche, mit diesen Regeln Menschenhandel und Ausbeutung entgegenzuwirken, erreiche sie eher das Gegenteil, findet Violet. „Ich glaube nicht, dass der Mangel an Regulierungen Loverboys oder Ausbeutung in die Hände spielt, sondern eher, dass es zu viele Regeln gibt.“ So kenne beispielsweise eine Sex-Arbeitende aus dem Ausland das geltende System nicht und sei darum häufig auf eine Drittpartei angewiesen. Natürlich gäbe es da solche, die das ausnutzten. „Je schwerer es ist, legal in der Sex-Industrie zu arbeiten, desto wahrscheinlicher ist es, dass Menschen ausgebeutet werden“, erklärt Violet.
Außerdem läge bei der Suche nach ausgebeuteten Personen der Fokus auf Menschen aus Asien und Osteuropa. Dabei seien es junge niederländische Frauen, die am Häufigsten Opfer von Loverboys würden. Dies sei der Einfachheit geschuldet, da diese bereits die nötigen Papiere und Sprachkenntnisse hätten. Oft seien die Frauen zudem minderjährig und könnten so nicht selbständig in der Industrie arbeiten. Dies sei einer der Gründe, mit denen Loverboys ihre Opfer erpressen könnten – nämlich, dass sie beide illegal operieren.
Gleichzeitig gehe die Regierung häufig nach rassistischen Motiven bei der Tätersuche vor, mit Blick auf Männer aus Marokko oder der Türkei. Ein Report des niederländischen Jugendinstituts aus dem Jahr 2014 lieferte zuletzt konkrete Zahlen zu den Opfern von Loverboys. So waren es beispielsweise im Jahr 2009 knapp 900 – etwa ein Drittel niederländischer Herkunft, zwei Drittel aus dem Ausland. Allerdings geben diese Zahlen nur die Fälle wieder, die polizeilich bekannt geworden sind. Hilfsorganisationen schätzen, dass die Dunkelziffer der niederländischen Betroffenen vermutlich sehr viel höher ist, da die Frauen häufig aus Scham oder aus Angst keine Anzeige erstatten.
Keine Statistiken über Verurteilungen
Wird die Justiz aber doch aktiv, drohen den Tätern Haftstrafen von mehreren Jahren. Auch wenn die Medien in den vergangenen Jahren immer mal wieder von Verurteilungen mit Gefängnisstrafen für Loverboys berichteten, so gibt es dazu keine Statistiken. Das Factsheet Tätermonitor Menschenhandel (2015 – 2019), das sich allerdings nicht konkret auf Loverboys, sondern auf nationalen Menschenhandel in jeder Form bezieht, spricht von 180 aufgespürten Tätern und 85 Verurteilungen mit Freiheitsstrafen.
Einem Aktionsplan zufolge „arbeitet die Regierung mit einer Vielzahl unterschiedlicher Partner zusammen, die direkt an der Bekämpfung des Menschenhandels […] beteiligt sind, wie beispielsweise Kommunen, Polizei, Staatsanwaltschaft, Gesundheits- und Bildungswesen, sowie nationale und internationale Nichtregierungsorganisationen und Organisationen.“ Sex-Arbeitende werden nicht genannt.
Violet sagt trocken: „Es gibt in der Community viel Wissen, aber uns wird nicht zugehört.“ Sie findet, dass der Begriff von Ausbeutung bei Sex-Arbeit oder von Loverboys für Fahndung und Aufklärung zu schmal gefasst sei. Der Begriff Loverboy sei oftmals mit Gewalt und direktem Zwang verbunden. Das könne dazu führen, dass Betroffene Ausbeutung nicht erkennen würden – weil sie so etwas wie Liebe vorgaukelt.