Die 26-jährige Kubra Khademi fordert mit ihren kritischen Performances die afghanische Gesellschaft heraus. Diese liebt es aber gar nicht, den Spiegel vorgehalten zu bekommen. Sie antwortet ihr mit Todesdrohungen.
Von Veronika Eschbacher, Wien / Kabul
Es war ein ungewöhnlich stiller Herbsttag. Die kleine Kubra war noch keine sechs Jahre alt, sie ging noch nicht zur Schule. Da nahm ihre Mutter das junge Mädchen mit ins Hamam, in ein öffentliches Bad. Bis dahin hatte das aufgeweckte afghanische Mädchen einzig ihr eigenes Geschlecht und das ihrer jungen Schwestern entblößt gesehen. Und nun fand sie sich völlig unerwartet und unvorbereitet inmitten völlig nackter, erwachsener Frauen wieder, die sich wuschen und dabei vielfältigste Erscheinungen ihrer Körper preisgaben. Kubra traute ihren Augen nicht. Mit offenem Mund bestaunte sie ohne Unterlass große und kleine Brüste, zierliche Oberschenkel und gewölbte Hintern. „Ich hatte davor nicht einmal das Bild einer nackten Frau gesehen“, sagt Kubra.
Von diesem Zauber inmitten der orientalischen Fliesen und des Stimmengewirrs tief beeindruckt, holte sie zu Hause eilig ihr Malbuch hervor. Und sie begann das, was sie gesehen hatte, aufzuzeichnen. Ihre Mutter hatte Kubra immer wieder erzählt, sie habe schon von Geburt an gewusst, wie man einen Stift halte. Denn Kubra liebte diese Beschäftigung. Ihr Talent war unübersehbar. „Die Zeichnungen von den nackten Frauen waren sehr plastisch, sie waren detailgenau und wirklich gut“, erinnert sich die heute 26-Jährige.
Doch in dem Moment, als sie den Bleistift abgesetzt hatte, überfielen das Mädchen große Schuldgefühle. Sie riss die Seite mit den nackten Frauen aus dem Malbuch und versteckte sie unter dem Teppich ihres Zimmers. Und, typisch für ein Kind, vergaß sie im selben Moment – und lief hinaus, um mit ihren Schwestern zu spielen.
Doch die Zeichnung sollte nicht lange vergessen bleiben. Zwei Tage später rief Kubras Mutter ihre Tochter in das Zimmer. Sie hielt ihr mit versteinerter Miene den Zettel ins Gesicht und sagte: „Ich weiß, nur du malst so.“ Noch bevor sich Kubra rechtfertigen konnte, holte ihre Mutter ein Stromkabel und bestrafte das Mädchen damit. „Sie schlug mich so hart, und ich schrie wie ein Baby“, erinnert sich Kubra. Sie habe ihre Mutter angefleht, ihr die Hand abzuschneiden, aber sie doch bitte nicht zu schlagen.
Dieser ersten Episode des „Missverhaltens“ von Kubra Khademi sollten noch einige folgen. „Ich bin schon ein wenig das schwarze Schaf in meiner Familie“, sagt sie und verzieht leicht verlegen das Gesicht. Doch die Performancekünstlerin war und ist nicht nur für ihre Familie eine Herausforderung – sondern durch ihre Arbeit auch für die ganze Gesellschaft. Die junge Afghanin hinterfragt ohne Unterlass Bräuche, Traditionen oder vorherrschende Einstellungen. Sie setzt sich etwa in einen weißen Raum, um sich eine Stunde lang selbst zu ohrfeigen, um häusliche Gewalt anzuprangern; sie zieht eine Eisenrüstung mit riesigen Brüsten und exponiertem Hintern an und läuft durch die Straßen von Kabul, um auf sexuelle Belästigung auf der Straße aufmerksam zu machen. Die afghanische Gesellschaft nimmt es ihr übel, dass sie ihr den Spiegel vorhält. Sie reagiert mit Todesdrohungen, die sie per Mail, SMS oder über Bekannte direkt ausgerichtet bekommt.
Den ganzen Monat nach dem Vorfall mit den nackten Frauenbildern ging es Kubra schlecht. „Ich war mental krank, denn ich fühlte mich so schrecklich schuldig“, sagt sie. Sie traute sich nicht mehr, ihren Kopf zu heben, ihre Schwestern sprachen nicht mehr mit ihr. Kein einziges Mal mehr wurde der Vorfall erwähnt – „weil es so etwas Sündhaftes war.“
„Frauen müssen das aushalten. Das ist unser Schicksal“
Auch wenn die Beziehung zu ihrer sehr religiösen und konservativen Mutter nicht immer einfach war und ist, so ist ihre Mutter die größte Inspiration für ihre Kunst. „Sie war ihr ganzes Leben lang ein Opfer,“ erklärt Khademi, „ich hab sie in jedem Moment beobachtet, wie sie alles akzeptierte.“ Khademis Schaffen ist eng mit ihrer eigenen Gewalterfahrung verbunden, mit fehlender Selbstbestimmung als Frau oder ständiger Migration. Themen, die heute zum Alltag gehören in einem Land, das seit 35 Jahren von Krieg gebeutelt ist und das heute wesentlich konservativer ist als noch vor Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen.
Vor allem ein Gespräch mit der Mutter veränderte Khademis Leben. Eine der Schwestern war sehr jung verheiratet worden. Sie hatte ständig Probleme in ihrer neuen Familie, ihr Ehemann und der Schwiegervater schlugen sie. Eines Tages kam die Schwester mit einem gebrochenen Arm nach Hause. Khademi sagte: „Oh mein Gott! Jemand muss etwas tun!“ Aber die einzige Reaktion, die von ihrer Mutter kam, war: „Frauen müssen das aushalten. Das ist unser Schicksal.“
Daraufhin geriet Khademi in Rage: „Wer hat dir eigentlich das Recht gegeben, sechs Töchter zu gebären? Ist das das Schicksal, das wir alle ertragen sollen? Dass wir täglich weinen, weil unser Mann uns schlägt?“ Khademi erinnert sich, dass sie sehr harsch zu ihrer Mutter war, denn diese hatte ihr etwas gesagt, was sie partout nicht akzeptieren konnte. Nach einer langen Pause sah die Mutter ihrer aufmüpfigen Tochter tief in die Augen und sagte: „Ich war so glücklich in meinem Leben, ich musste viele Kinder bekommen.“
Khademi konnte daraufhin nicht mehr tun, als erneut den Kopf zu senken und ihr Gesicht mit einer Hand zu verdecken. „Da hatte ich die Antwort“, sagt sie. „Ihr ganzes Leben dachte sie, sie sei glücklich. Was für ein Konzept vom Glücklichsein kannte diese Frau? Diese Aussage brannte richtig in meinem Herzen.“ Ihre Mutter war demnach die erste Person, die die Künstlerin zum Nachdenken brachte. Und Kubra Khademi dachte viele lange Stunden über ihre Gesellschaft und ihr Leben nach. Dazwischen studierte sie Kunstwissenschaften in Kabul und dem pakistanischen Lahore. Nach ihrem Abschluss begann sie, in Kabul als Künstlerin zu arbeiten.
Im Vorjahr, bei einer ihrer Performances in Kabul, setzte sie sich, schwarz gekleidet, in einer leeren Galerie mit weißen Wänden auf einen Stuhl. Und sie begann, sich selbst zu ohrfeigen. Immer wieder. Der Auftritt war für eine Stunde angesetzt. „Viele Frauen begannen zu weinen, viele Männer fanden es so abstoßend und sinnlos, dass sie den Raum verlassen haben“, erinnert sich Khademi.
Nach 44 Minuten kam die Künstlerin zu einem Punkt, an dem sie selbst den Auftritt abbrechen musste. Und es brach eine Erkenntnis über sie herein: „Ich habe diesen Raum geschaffen, einen Raum, in dem sie passiert, die Gewalt.“ Seither ist die Künstlerin überzeugt davon, dass „auch wir Frauen Teil der Gewalt und Brutalität sind, wenn wir nichts dagegen unternehmen und sie einfach akzeptieren.“
Am meisten Gewalt schlug Khademi selbst bei ihrer dritten Performance in Kabul entgegen. Da jede Frau in Kabul ständiger Belästigung auf der Straße ausgesetzt ist, wollte, ja musste sie auf dieses Thema reagieren. Sie ging sie zu einem Schmied und bestellte dort eine eiserne Rüstung, die große Brüste und einen großen Hintern hatte. Damit lief sie im Zentrum Kabuls eine Straße entlang, um so einen Raum zu kreieren, in dem ihr Publikum, also die Männer auf der Straße, selbst beobachten konnten wie ihre Gesellschaft ist. Sie machte sie zum Teil ihrer Performance.
„Und sie haben wirklich für mich eine Performance abgeliefert – die schlimmste Art von Performance, die man sich hat vorstellen können.“ Kaum war sie in ihrer Rüstung aus dem Auto ausgestiegen, strömte eine Masse an Männern auf sie zu, mehrere hundert wollten sie sehen, zu ihr durchkommen und ihr etwas sagen, etwas tun. „Das war für mich die Kulmination der gesamten Belästigung von Frauen auf der Straße.“ Khademi fasziniert heute aber auch, wie puristisch das Ganze war: „Jeder war so radikal er selbst. Ich war ich selbst, weil ich die Belästigungen nicht mag, ich will nach draußen gehen können ins Leben, ich selbst sein, aktiv mein Leben leben. Und die Männer waren sie selbst, indem sie versuchten, all das zu verhindern.“
Der Tumult um sie wurde schließlich so groß, dass sie die Aktion nach siebeneinhalb Minuten abbrechen musste. Sie stieg in ein Taxi, das sich kaum den Weg durch die Menge bahnen konnte, manche sprangen gar auf das Auto. „Sogar der Taxifahrer verstand, dass ich nicht mehr nach Hause fahren konnte“, meint sie – ansonsten hätten die Männer sie nach der Aktion dort sofort aufstöbern und töten können. Die Bilder der Aktion verbreiteten sich wie ein Lauffeuer über soziale Medien. Den Zorn der Männer zog sie auch auf sich, da sie es wagte, mithilfe ihrer Performance auf die Belästigung zu reagieren.
„Nur die wenigsten Frauen konfrontieren die Männer und stellen sich ihnen entgegen.“ Eine Freundin der Künstlerin hatte einmal einem Mann nach einer Belästigung eine Ohrfeige verpasst. Dieser reagierte darauf, in dem er sie zurückschlug. Und eine andere Freundin, die ihre Aktion mit der Rüstung fotografierte, erzählte ihr, dass sie während der Performance ständig belästigt wurde. Als Khademi bereits im Taxi saß, fühlte sie sogar zwei Hände zwischen ihren Beinen.
Khademi versteckte sich mehrere Tage in Kabul und musste nach Todesdrohungen schließlich ins Ausland fliehen. Sie erinnert sich aber zufrieden an einen kurzen Moment während der Performance, gleich, nachdem sie zu laufen begonnen hatte. Ein Kind erblickte sie, und rief anderen zu: „Ah, seht, dieses Mädchen will nicht angegriffen werden!“
Hoffnung auf eine Rückkehr in die Heimat
Neun Monate ist Khademi nun in Europa, pendelt von einem von hiesigen Sponsoren finanzierten Künstleraustauschprogramm zum nächsten, hält Vorträge. Sie will eigentlich nach Kabul zurückkehren, da sie, wie sie sagt, das Land für ihre Arbeit braucht – und es ihre Heimat ist und sie dort sein will. „Ich gehe über an Fragen über mein Land und meine Kultur,“ erzählt Khademi, „ich will wissen, wohin uns unsere Geschichte führte, will sehen, woraus diese konservative Mentalität besteht, wieso wir heute so extrem sind, dass man mit dem Leben bezahlen muss, um ihr zu entkommen.“ Ein Leben in Afghanistan war ihr ohnehin lange verwehrt: Da ihre Eltern vor dem Krieg mit den Sowjets in den Iran geflohen waren, wurde sie dort geboren. Und als sie zehn Jahre alt war, musste die Familie vor den Taliban erneut fliehen. Sie landete in Pakistan. Heute weiß sie nicht, wann eine Rückkehr möglich sein wird.
Bis es soweit ist, erkundet sie, für die das Frau-Sein eine sehr große Rolle in ihrem Leben und ihrer Kunst spielt, die Freiheit in Europa. „Ich als Person will doch eine Lehrerin sein, eine Krankenschwester, eine Anwältin, eine Künstlerin, irgendwas darüber hinaus, was die Realität heute für Frauen bereithält in meinem Land“, sagt sie. Das ganze Leben für afghanische Frauen spiele sich heute im Haus ab. „Du kannst eine Frau sein, eine Tochter, eine Schwester. Das ist es.“
Damit erklärt sie auch ihre Besessenheit von Straßen. In ihrer allerersten Performance packte sie alle ihre Sachen, die sie zum Leben brauchte, zusammen, und setzte sich auf einen Teppich mitten auf eine viel und schnell befahrene Straße in Kabul. Sie stellte ihre Bücher auf, ihren Laptop, schenkte sich Tee ein und begann, auf diesem Platz zu leben. Sie wollte so simplifizieren, was Leben ist. In Khademis erster Performance nach ihrer Flucht nach Europa lief sie – mit ihren ganzen Habseligkeiten auf dem Kopf – von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang barfuß durch Paris. „Eine Straße bringt mich woanders hin. Sie ist ein Weg, der mich an einen Ort bringt, an dem ich mich selbst entdecken kann, ich selbst sein kann und nicht das sein muss, was für mich definiert wurde.“
In diesem Auftritt entdeckte sie einen riesigen Unterschied zu der Aktion, als sie in der Rüstung in Kabul die Straße entlanglief. „Mit der Rüstung wurde ich so stark als Eigentum behandelt, als afghanische Frau. Jeder wollte über mich entscheiden, sogar über mein Leben“, sagt Kubra Khademi. Sie habe davor erfahren, wie es ist, wenn die engsten Verwandten, Vater, Brüder, Onkel ständig für einen entscheiden. Doch nach der Rüstungsperformance, die sie im ganzen Land bekannt machte, wollte plötzlich auch das ganze Land über sie entscheiden. Als diejenigen, die ihr gedroht hatten, herausfanden, dass sie in Paris und am Leben war, sei das „unerträglich“ für sie gewesen.
Wenn sich Khademi heute an die Zeichnungen der nackten Frauen zurückdenkt, schämt sie sich schon fast nicht mehr. Stattdessen kann sie beinahe darüber lachen. Sogar ihre Mutter, mit der sie per Skype Kontakt hält, findet mittlerweile etwas Nützliches und Wertvolles an ihrer Arbeit. Das hat sie zwar noch nicht zum Ausdruck gebracht, denn „vielleicht ist die Zeit noch nicht reif dazu, es in Worte zu fassen, aber ich sehe es in ihren Augen.“