Irland entdeckt seine Frauen – wieder. Ein angesagter Partykeller besinnt sich auf historische Figuren, eine Ausstellung zeigt irische Heldinnen und eine Fernsehserie wirft ein Schlaglicht auf Pionierinnen der vergangenen Jahrhunderte. Das Land besinnt sich auf seine Vergangenheit, um seine Zukunft zu stärken.
Von Mareike Graepel, Dublin
Das Bild der irischen Frau ist traditionell das der „Irish Mammy“. Die sei – so scherzen die Ir*innen gern im Pub – zwar ein bisschen ruppig, liebe aber ihre Familie, koche besser als jede Schwiegertochter und habe Haus, Kinder (gerne viele) und Hof im Griff, solange der Mann das Geld nach Hause bringe. Ein schlechter Scherz, würde Rachel Lysaght bestimmt sagen, wenn sie dabeistünde. Und so überholt, dass selbst viele Frauen aus den vergangenen Jahrhunderten nicht ins Bild passen würden.
Die TV-Produzentin hat für die öffentlich-rechtliche Sendeanstalt „Raidió Teilifís Éireann“, kurz RTÉ, eine Serie mit dem Titel „Herstory“ gedreht. „Herstory“ ist ein Wortspiel – in dem englischen Wort „history“ für „Geschichte“ wird das männliche Possessivpronomen „his“ durch das weibliche „her“ ersetzt. „Das ist seit 2016 eine Bewegung und auch eine Website in Irland, die uns inspiriert hat, und wir fanden den Titel sehr passend, als wir die Frauen ausgesucht hatten, die wir porträtieren wollten“, sagt sie.
Wissenschaftlerinnen, Künstlerinnen, Politikerinnen, Aktivistinnen, Sportlerinnen sind dabei. Zeitgleich zeigt das „Irish Immigration Museum“ (EPIC) eine Ausstellung mit dem Titel „Blazing a trail“ – zu Deutsch „eine Spur bahnen“ – das Leben und die Vermächtnisse irischer Frauen in der Diaspora. Vier der Frauen der Fernseh-Doku-Reihe tauchen dort auch auf. Es sei offenbar dringend notwendig, „endlich große Lücken in der Geschichte Irlands zu füllen“, so die Kuratorin und Historikerin Angela Byrne.
Dass auch die Cocktailkarte in den „Liquor Rooms“ des Clarence Hotels derzeit die Geschichten dieser und weiterer tapferer und mutiger Frauen aus Irlands Vergangenheit erzählt, ist zwar ebenso Zufall, aber ein deutliches Zeichen für die Stimmung im Land. „Zurückzublicken, um dadurch die Frauen der Gegenwart zu stärken, das ist mehr als nur gutes Timing“, sagt Chandrika Narayanan Mohan. „Das ist Zeitgeist.“ Sie war Kunst-und-Kultur-Managerin der Bar, als das Drinks-Menü entworfen wurde. „Die Rezepte zu den Persönlichkeiten haben mein Chef und eine Kollegin kreiert, ich habe die Recherche zu den Lebensläufen der Frauen gemacht.“
In einem Gedicht – das als Vorwort in der Cocktailkarte dient – schreibt Mohan: „Sie waren Wegbereiterinnen und Unruhestifterinnen, Autorinnen, Kämpferinnen, Mütter und Mörderinnen. Sie brachten Regierungen zu Fall und haben Nationen geschaffen, Regeln, Knochen und Herzen gebrochen.“ Und ihr Geist finde sich nun in den Spirituosen wieder, ihre Komplexität in jedem einzelnen Glas.
Wie der Wodka (gemischt mit chinesischem Wein, Apfel- und Zitronensaft, Port und Orangenblütenwasser), der so säuerlich ist wie Maud Gonne, Schauspielerin und Suffragette, vermutlich ihrem oft zurückgewiesenen Verehrer William Butler Yeats geschmeckt haben muss. „Tread softly“ heißt der Drink, in Anlehnung an ein Gedicht, das Yeats für sie schrieb. „Ich habe meine Träume unter deinen Füßen ausgebreitet; Gehe sanft, denn du trittst auf meine Träume.“
Es sind Piratinnen wie Gráinne Mhaol und Rebellinnen wie Constance „Die Gräfin“ Markievicz, die im Unabhängigkeitskampf Irlands zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielte, Designerinnen wie Eileen Gray oder Frauen, die als Männer lebten – auch, um studieren zu können – wie James Barry, die in den „Liquor Rooms“ viele Gäste zu Gesprächen inspirieren.
„Es ist Zeit, unsere Frauen zu feiern“
James Barry – geboren als Margaret Bulkley aus Cork im Südwesten Irlands – versteckte seit Beginn ihres Medizinstudiums als Militärarzt bis zu ihrem Tod 1865 ihr Geschlecht, um praktizieren zu können. Sie bzw. er führte den ersten erfolgreichen Kaiserschnitt im britischen Empire durch, bei dem Mutter und Kind überlebten. Heute ist James Barry für die Trans-Szene in Dublin ein Idol. „Für unsere Serie hatten wir eine riesige Auswahl an Frauen, deren Geschichten wir erzählen wollten, und mussten uns für sechs entscheiden“, so Rachel Lysaght.
Um historische Fakten für das Fernsehpublikum spannend aufzubereiten, brauchte RTÉ Bilder, idealerweise Videos und genug Material. „James Barrys Geschichte ist eine spannende Folge, aber meine Lieblings-Episode ist die über Mother Jones.“ Die Irin wanderte nach Kanada aus, lebte später in Memphis und verlor ihre vier Kinder innerhalb einer Woche – alle starben an Gelbfieber. „Mother Jones hat danach eine Näherei eröffnet, die kurze Zeit später ausbrannte. Aber sie gab nicht auf und setzte sich ihr Leben lang für andere Arbeiter und Arbeiterinnen ein, erst recht für die Rechte der Kinderarbeiter.“
Hohe Einschaltquoten sprechen für eine Fortsetzung nach der Ausstrahlung der letzten Folge. Rachel Lysaght meint: „Wir haben beim Schreiben der Manuskripte bemerkt, wie sehr diese Frauen die Mädchen von heute inspirieren und motivieren.“ Ob Flugpionierin Lady Mary Heath aus Limerick, die zunächst Krankenwagenfahrerin im Ersten Weltkrieg war und später allein von Kapstadt nach London flog, oder Kay McNulty, die zu den sechs Programmierer*innen des ENIAC, des ersten elektronischen Digitalcomputers für allgemeine Zwecke, gehörte. „Diese Frauen unserer Geschichte ermutigen Schülerinnen heute, Naturwissenschaften und Informatik zu studieren“.
Für die Dubliner Fernsehproduzentin hat die „Herstory“-Serie noch eine andere Aufgabe: „Wir haben eine lange Tradition in Irland, die Frauen unseres Landes schlecht zu behandeln. Es ist an der Zeit, sie endlich zu feiern.“ Dieser Ansatz deckt sich mit der Ausstellung „Blazing a Trail“, die von Angela Byrne kuratiert wurde. Seit 2018 wanderten die Exponate durch 30 verschiedene irische Botschaften auf der ganzen Welt, wo sie oft durch weitere Persönlichkeiten ergänzt wurden. Obwohl die irische Bevölkerung „zu Hause“ nur 4,9 Millionen Einwohner*innen zählt, leben geschätzt 40 bis 70 Millionen Ir*innen und Menschen direkter irischer Abstammung verstreut auf der ganzen Welt.
„Die Ausstellung war an jedem Ort ein riesiger Erfolg, was uns zeigt, wie groß der Wissensdurst in Sachen weiblicher irischer Geschichte ist“, so Historikerin Byrne. „Und die Umsetzung hat uns alle auch noch einmal spüren lassen, was die Frauen in der Vergangenheit schon erfahren haben: Kein magisches Talent hat ihre Erfolge geschehen lassen, sondern Willenskraft und die Zusammenarbeit mit anderen, mit anderen Frauen. Wir müssen und können einander tragen.“
Sie sagt, dass ihr die Geschichten „nur so vor die Füße gefallen seien“. Gleichzeitig fragten die Menschen immer wieder: Warum ist diese oder jene Frau nicht dabei? Deshalb hatten die Besucher*innen die Möglichkeit, auf einer großen Wand im Museum ihre eigenen Wegbereiterinnen einzutragen. Die Ausstellung, die Serie und die Cocktails – sie alle zeigen, dass die historischen Heldinnen Irlands wieder en vogue sind. Angela Byrne: „Sie haben Licht ins Dunkel gebracht – und tun es noch jetzt, für die Irinnen der Gegenwart.“