Der Verein „Imbradiva“ hilft Brasilianer*innen in Deutschland bei der Integration. Während früher Diskriminierung und häusliche Gewalt die dominierenden Themen waren, wollen Sara Freire Simões de Andrade und Patricia Santos da Cruz heute vor allem das Selbstwertgefühl und die finanzielle Selbstständigkeit der Migrant*innen stärken.
Von Anne Klesse, Hamburg / Frankfurt am Main
Das Telefon klingelt schon wieder. Jemand sucht dringend einen Kitaplatz. Wie andere Institutionen hält auch „Imbradiva e.V.“ aktuell vor allem telefonisch und virtuell Kontakt zu seinen „Schäfchen“. Deshalb sitzen Sara Freire Simões de Andrade und Patricia Santos da Cruz so oft es geht im Büro der Fraueninitiative in Frankfurt-Bockenheim und beantworten hier E-Mails und WhatsApp-Nachrichten.
Viele, die anrufen, können kaum Deutsch oder noch nicht gut genug vernetzt, um anderweitig Unterstützung zu erhalten. Beide Frauen wechseln problemlos vom Deutschen ins Portugiesische. Die gemeinsame Sprache schaffe sofort Vertrauen und nehme für viele die Hürde, überhaupt nach Hilfe zu fragen, sagt de Andrade.
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Sie, Patricia Santos da Cruz und die anderen Frauen vom „Imbradiva“-Beratungsteam geben Tipps und Antworten Themen wie Aufenthaltsstatus, Transferleistungen oder Jobbewerbung. Sie vermitteln portugiesisch-sprachige Ärzt*innen und organisieren Hilfe für Opfer von häuslicher Gewalt. „Früher haben uns viele Frauen kontaktiert, die von psychologischer oder physischer Gewalt betroffen waren und akut Hilfe benötigten“, so Sara Freire Simões de Andrade. Diese Fälle seien glücklicherweise weniger geworden.
Zu den Hauptthemen gehören die Sprachbarriere, die fehlende Anerkennung beruflicher Abschlüsse und Arbeitslosigkeit. „Heute findet ein weiblicher Brain Drain statt – hochqualifizierte Frauen verlassen Brasilien. Viele haben deshalb Fragen zum Arbeitsmarkt in Deutschland. Das war früher anders: Da waren die meisten Frauen, die uns anriefen, finanziell von ihrem Partner abhängig“, erklärt Santos da Cruz. „Aber auch kulturelle Unterschiede, Beziehungsprobleme in binationalen Ehen und psychologische Belastungen werden besprochen.“ Dass „Imbradiva“ in allen Lebenslagen hilft, sei in der brasilianischen Gemeinde bundesweit bekannt.
Rund 100.000 Brasilianer*innen leben in Deutschland
Sara Freire Simões de Andrade und Patricia Santos da Cruz sind die beiden Vorsitzenden des von Brasilianerinnen und deutschen Frauen gegründeten, 1998 als gemeinnützig anerkannten Vereins. Der Name „Imbradiva“ leitet sich ab von „Iniciativa de Mulheres Brasileiras contra Discriminação e Violência“ – Brasilianische Fraueninitiative gegen Diskriminierung und Gewalt.
1995 hatten Brasilianerinnen, die in unterschiedlichen Städten Deutschlands lebten, begonnen, sich über ihre Lage auszutauschen und zu vernetzen. Sie sprachen über persönliche Schwierigkeiten, die sich im Alltag ergaben. „Also beschlossen sie, offiziell Unterstützung für andere Frauen anzubieten“, erzählt Sara Freire Simões de Andrade. „Sie haben sich gegenseitig empowert. Sie waren Feministinnen, ohne sich so zu nennen.“
Seinen Sitz hat „Imbradiva e.V.“ in Frankfurt, seit 2001 ist hier auch die Geschäftsstelle. Rund 20.000 Menschen, etwa ein Fünftel der brasilianischen Migrant*innen in Deutschland, leben nach Schätzungen des Vereins allein im Rhein-Main-Gebiet, auf das sich die Arbeit von „Imbradiva“ konzentriert. Bundesweit hat der Verein 52 Mitglieder, die die Arbeit finanziell unterstützen: Etwa 50 informelle, kostenlose Beratungstermine finden pro Jahr in Frankfurt am Main statt. Vor Beginn der Pandemie wurde regelmäßig zu Kultur- und Infoveranstaltungen eingeladen. Es gab Seminare zu Familien- und Migrationsrecht, mehrsprachiger Erziehung und Berufsausbildung.
Vereinsziel ist es, die Portugiesisch sprechenden Migrant*innen bei ihrem Integrationsprozess in die deutsche Gesellschaft zu unterstützen. „Wir glauben, dass diese Integration nur durch die Teilnahme am sozialen, ökonomischen und kulturellen Leben möglich ist – unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Glauben, Hautfarbe oder sozioökonomischer Situation“, so Patricia Santos da Cruz. „Integration entsteht durch den gerechten Zugang zu Bildung und Information, Stärkung des Selbstwertgefühls, Wertschätzung von professionellen und persönlichen Kompetenzen und Förderung der Freundschaft und des Respekts zwischen verschiedenen Kulturen“, ergänzt de Andrade.
Seit Beginn der Wirtschaftskrise in Brasilien viele Jobanfragen
Beide wissen, wovon sie reden, denn sie haben natürlich auch ihre eigene Migrationsgeschichte: Als Sara Freire Simões de Andrade vor etwa zwölf Jahren aus der Hauptstadt Brasília nach Frankfurt am Main kam, hatte sie gerade ihren Masterabschluss gemacht und wollte hier mit einem Stipendium ihres Heimatlandes promovieren. „Von Anfang an wollte ich mich ehrenamtlich engagieren, um etwas zurückzugeben“, erinnert sie sich.
„Imbradiva“ veranstaltet auch in Brasilien Events, sie kannte den Verein schon aus einem Zeitungsbericht zum Thema Menschenhandel. „In Deutschland habe ich dann über die ehrenamtliche Arbeit im Verein meine Berufung gefunden – statt zu promovieren bin ich in der Sozialarbeit gelandet.“ Seit 2008 ist sie im Verein aktiv. Patricia Santos da Cruz war hingegen 2002 nach ihrem BWL-Studium für ein sechsmonatiges Praktikum nach Deutschland gekommen. Hier bekam sie ein gutes Jobangebot, verliebte sich und blieb.
Auch sie schlug einen anderen Weg ein als geplant, engagierte sich schon kurz nach ihrer Ankunft bei „Imbradiva“. Nach einer Ausbildung zur Erzieherin leitet sie nun die 2009 eröffnete internationale Kita „Curumim“. Zwölf Beschäftigte aus fünf Nationen arbeiten in der Kita, eine weitere Einrichtung ist in Planung. Mittlerweile rufen Frauen direkt aus Brasilien an und interessieren sich für „Imbradiva“ als Arbeitgeber. „Seit Beginn der Wirtschaftskrise 2014 dort hat sich die Nachfrage nach Jobs stark erhöht“, so Sara Freire Simões de Andrade.
Deutschland beliebt bei brasilianischen Studierenden
Nach Zahlen der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) reisten zwischen 2010 und 2019 rund 2,66 Millionen mehr Menschen aus Brasilien aus als ein. In den 80er und 90er Jahren emigrierten demnach vor allem ärmere Brasilianer*innen in die USA und nach Europa. In den 2000er Jahren kamen im Gegensatz dazu vermehrt Angehörige der Mittelschicht nach Europa.
Deutschland spielt als Zielland eine bedeutende Rolle – nach Großbritannien, Portugal und Spanien leben die meisten nach Europa ausgewanderten Brasilianer*innen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nannte 2018 Brasilien auf dem fünften Platz der häufigsten Staatsangehörigkeiten bei der Erwerbsmigration und auf dem zweiten Platz der „Einreisen zum Zweck der Teilnahme an einem Sprachkurs sowie des Schulbesuchs“. Brasilianische Studierende an deutschen Hochschulen zählten ebenfalls zu den zehn häufigsten sogenannten Bildungsausländer*innen aus Drittstaaten.
Doch die Arbeitssituation von Migrant*innen gestaltet sich hier oft schwierig. Ausländer*innen aus Nicht-EU-Staaten dürfen eine Beschäftigung in Deutschland grundsätzlich nur ausüben, wenn ihr Aufenthaltstitel es erlaubt. Nicht- und Geringqualifizierte haben nur eingeschränkte Möglichkeiten. Akademiker*innen können seit 2012 über die „Blaue Karte EU“ arbeiten. Für diese sind ein Nachweis der Qualifikation und ein konkretes Arbeitsplatzangebot mit einem jährlichen Bruttogehalt von mindestens 56.800 Euro nötig.
Aktuell betreut „Imbradiva“ eine Frau, die mit Beziehungsproblemen und psychischen Problemen kämpft: „Sie ist seit drei Jahren in Deutschland, kann nicht arbeiten und hat seit Monaten Angst, abgeschoben zu werden. Wir vermitteln in dem Fall mit den zuständigen Behörden, gleichzeitig besteht ein Großteil unserer Hilfe daraus, die Frau zu beruhigen und ihr immer wieder zu sagen, dass sie nicht einfach so abgeschoben werden kann.“ Dabei wirke sich bei vielen das Leben zwischen zwei Kulturen negativ auf die Psyche aus.
Integration fängt mit kultursensitiver Kinderbetreuung an
Genau deshalb sei es wichtig, schon Kindern passende Angebote zu machen und sie in ihrer Unsicherheit aufzufangen. Für Kinder aus binationalen Familien hat der Verein 2003 einen wöchentlichen Gruppentreff geschaffen. „Dort lernen Kinder spielerisch durch Musik die deutsche und portugiesische Sprache, dazu bringen ihnen Profis aus der Kulturerziehungswissenschaft die brasilianische Kultur und Geschichte näher. Für die Eltern sind die Angebote wichtige Möglichkeiten für den Informationsaustausch“, so Sara Freire Simões de Andrade. Im Familienalltag gehe manches einfach unter.
Gleichzeitig liegt den Frauen die Sensibilisierung der Deutschen für unterschiedliche Bräuche am Herzen. Dafür wollen de Andrade, da Cruz und ihre Mitstreiterinnen so schnell es geht wieder die persönliche Begegnung fördern, um das Interesse für die brasilianische Kultur zu wecken. Bald wollen sie wieder einmal im Monat eine Einrichtung für Senior*innen in Frankfurt am Main besuchen, um dort Musik zu machen. Denn: „Musik ist Bestandteil unserer Kultur und trotzdem universell – und ein Mittel, Gefühle auszudrücken, ohne die Sprache zu sprechen. Musik verbindet.“