Die Beduinin Haidschar Elsaneh musste mit zwölf Jahren die Schule abbrechen und Schafe hüten. Weil ihre Töchter es einmal besser haben sollten, brach sie mit den Normen ihrer traditionellen Gesellschaft.
Von Mareike Enghusen, Tel Aviv
Sitzenbleiben – ein ganzes weiteres Jahr voll unausgeschlafener Morgen und Hausaufgaben am Nachmittag, wiederkäuen was vielleicht schon im ersten Durchgang langweilte, dazu lauter fremde Mitschüler. Kurzum: Eine Vorstellung, die deutsche Schulkinder gruseln lässt. Wie merkwürdig muss ihnen da die Geschichte von Haidschar erscheinen, einem Mädchen, das eine Klasse freiwillig wiederholte – und das, obwohl sie eine fleißige Schülerin war, mit guten Noten und viel Hunger nach Wissen?
Doch genau das passierte, vor 50 Jahren, in der israelischen Negev-Wüste. Das Beduinenmädchen Haidschar Elsaneh machte die fünfte Klasse zweimal, weil es ihre einzige Chance war, überhaupt in der Schule zu bleiben.
Heute ist Haidschar Elsaneh 63 Jahre alt, eine Frau mit wachen dunklen Augen, ein leichtes Tuch über die Haare gebunden, Goldreifen an den Handgelenken. An einem heißen, trockenen Nachmittag sitzt sie in einem großen Zelt, dessen Schatten der Hitze der Wüste nur wenig entgegenzusetzen hat. In einem ähnlichen Zelt ist sie aufgewachsen, hier, im Beduinendorf Lakiya.
Jenes Zelt, das Zuhause ihrer Kindheit, war in zwei Hälften geteilt: Links wohnten die Frauen, rechts die Männer. Die Küche, das war eine kleine Feuerstelle im Frauenteil; die Toilette, vornehm gesprochen, eine Stelle irgendwo draußen zwischen den kratzigen, trockenen Sträuchern der Negev-Wüste. Privatsphäre gab es nicht. Abends legten sich die Schwestern einfach in einer langen Reihe nebeneinander zum Schlafen auf den Boden. Und doch sagt Haidschar Elsaneh: „Das Leben war früher leichter.“ Sie und ihre Familie brauchten kein Geld, sie hielten Schafe und Hühner und bestellten Felder und was sie auch immer brauchten, stellten sie selbst her.
„Meine Brüder erlaubten mir, zur Schule zu gehen“
Haidschar Elsaneh war die jüngste von 17 Geschwistern. Der Vater hatte fünfmal geheiratet – einerseits, weil drei der Frauen jung starben, andererseits, weil Vielehe unter Beduinen nichts Ungewöhnliches ist. Der Vater starb kurz nach Haidschars Geburt. Ihre verwitwtete Mutter heiratete einen anderen Mann, zog zu ihm und ließ die Kinder zurück. Denn: Ein Mann, der mit Mädchen zusammenlebte, die keine Verwandten waren, das erlaubte die strengkonservative Sitte der Beduinen nicht. So wurde Haidschar Elsaneh von ihren Brüdern großgezogen. Immerhin, einen Lichtblick brachte dieser Einschnitt: „Damit ich nicht traurig bin wegen unserer Mutter, erlaubten meine Brüder mir, zur Schule zu gehen“, erzählt sie. Sie war das einzige Mädchen dort.
Es waren glückliche Jahre. Sie hatte kein Lieblingsfach – sie liebte jedes einzelne. Doch die Schule in Lakiya hatte nur fünf Klassen und die weiterführende Schule lag in einem anderen Dorf. Allein dorthin zu fahren, erlaubten ihr die Brüder nicht. Und so kam es, dass Haidschar die fünfte Klasse wiederholte, nur, um in der Schule bleiben zu können. Danach musste sie im Haushalt helfen und Schafe hüten. Sie hatte davon geträumt, später als Lehrerin zu arbeiten. Stattdessen wurde sie mit zwölf Jahren zur Hausfrau.
Bis zu diesem Zeitpunkt war ihre Geschichte nicht ungewöhnlich. Sie hatte sogar Glück: Noch im Jahr 1990 ging ein Beduinenmädchen in Israel im Schnitt nur drei Jahre lang zur Schule. Viele Beduinenfrauen in Haidschar Elsansehs Generation können bis heute nicht lesen und schreiben.
Und bevor das moderne Staats- und Wirtschaftswesen in ihr Leben eindrang, brauchten die Beduinen diese Fähigkeiten auch nicht. Jahrhunderte lang lebten sie halbnomadisch im Negev, hielten Schafe, bauten Gemüse an und trieben Handel. Ende des 19. Jahrhunderts versuchten die Osmanen, die damaligen Herrscher über das Gebiet, ein modernes System von Landbesitz zu etablieren und forderten ihre Untertanen auf, ihr Land zu registrieren. Doch die meisten Beduinen verließen sich lieber auf ihre eigenen, althergebrachten Methoden, Gebiete untereinander aufzuteilen.
Fast die Hälfte der Beduinen lebt in eigenen Dörfern
Nach der Gründung Israels konnten sie deshalb keine Papiere vorweisen, die ihren Landbesitz bestätigt hätten – und so gingen große Teile der Territorien in Staatsbesitz über. Zwar baute der Staat den Beduinen eigene Städte, bis heute acht an der Zahl; doch viele Beduinen weigerten sich, ihre angestammten Territorien zu verlassen und ihren traditionellen Lebensstil aufzugeben. Bis heute leben fast die Hälfte der rund 210.000 Negev-Beduinen in eigenen Dörfern, die von der Regierung nicht anerkannt und deshalb nicht an die staatliche Infrastruktur angeschlossen sind.
Auf ihrem Weg von Nomaden zu sesshaften Bürgern eines modernen Staates ging vielen Beduinen ihre wichtigste Einkommensquelle verloren: die Landwirtschaft. Zum einen konnten ihre traditionellen Anbaumethoden nicht mit industrieller Landwirtschaft mithalten, zum anderen verloren viele das Land, das sie einst bewirtschaftet hatten. Damit ging auch ein Bedeutungsverlust der Frauen einher.
„Vor 1948 hatten die Beduinenfrauen mehr Aufgaben: die Arbeit auf dem Land, das Hüten der Schafe, das Weben“, sagt Khadrah Elsaneh. Sie ist Direktorin der Nichtregierungsorganisation Sidreh, die ihren Sitz in Lakiya hat und sich für die Bildung und Förderung von Beduinenfrauen einsetzt. Nachdem die Beduinen sesshaft wurden, erklärt sie, blieb den Frauen nur noch der Haushalt und die Kinder. Besonders problematisch sei bis heute die Lage in den inoffiziellen Dörfern, denn dort gibt es keine Schulen. „Viele brechen deshalb die Schule ab – vor allem die Mädchen.“ So wie einst Haidschar Elsaneh.
In Haidschar Elsanehs Jugend war es üblich, dass die Eltern einen Mann für die Tochter aussuchen; und weil sie keine Eltern mehr hatte, übernahmen ihre Brüder diese Aufgabe. Sie heiratete im Alter von 24 Jahren – ungewöhnlich spät für eine Beduinin. Der Grund dafür war ein Streit ihrer Brüder: „Wenn ein Mann heiraten will, dann kann der Bruder seiner Verlobten seine Schwester heiraten. Es ist eine Art Handel,“ erklärt sie, „aber meine Brüder konnten sich einfach nicht einigen, wer mit mir handeln durfte.“
Sie lacht vergnügt, als wäre es bei dem Streit um ein verlorenes Kartenspiel gegangen und nicht etwa um die Frage, mit welchem Menschen sie den Rest ihres Lebens verbringen sollte. Am Ende war es der älteste Bruder, der sich durchsetzte. Er wollte eine zweite Frau heiraten und gab dafür Haidschar Elsaneh dem Bruder seiner Verlobten als Ehefrau. Bis heute leben rund ein Viertel der Beduinen in Polygamie; das ist in Israel verboten, wird aber nicht verfolgt.
In schneller Abfolge brachte Haidschar Elsanehs neun Kinder zur Welt: fünf Töchter und vier Söhne. Im Jahr 1991 gründete eine Gruppe von Beduinenfrauen in Lakiya die Initiative, aus der später die Organsation Sidreh erwachsen sollte. Anfangs wollten die Frauen anderen Beduininnen helfen, eigenes Geld zu verdienen, indem sie nach traditioneller Methode Teppiche webten und verkauften. Und weil Haidschar Elsaneh, damals 39, gut lesen und schreiben konnte, baten die Frauen sie, sich um die Buchhaltung zu kümmern. Sie sagte sofort zu.
Job, Kinder und Haushalt unter einen Hut bringen
Anfangs war es nicht leicht. Ihr Mann war verstimmt, weil sie ihn nicht vorher um Erlaubnis gefragt hatte. Nachbarn tratschten. Eine Frau, die außer Haus arbeitet – das schien suspekt, unzüchtig. „Aber ich wollte ihnen und mir selbst beweisen, dass ich es schaffe: einen Job zu haben und mich trotzdem noch um meine Kinder und den Haushalt zu kümmern“, sagt Haidschar Elsaneh. „Als die Leute sahen, dass ich das alles unter Kontrolle habe, begannen sie, meine Arbeit zu akzeptieren.“
Seitdem ist Sidreh stetig gewachsen. 70 Weberinnen beschäftigt die Organisation heute, dazu bietet sie Beduinenfrauen etliche weitere Projekte und Kurse an – etwa in Lesen und Schreiben, Finanzverwaltung, Marketing, Unternehmensgründung, Gesundheitsvorsorge und Frauenrechten. Haidschar Elsaneh ließ sich hier zur Touristenführerin ausbilden und webt inzwischen nicht nur für die Organisation, sondern führt auch Besucher durch die Einrichtung und erzählt ihnen von der Kultur der Beduinen.
„Die Besucher lieben sie!“, sagt Baian Jabour, eine jüngere Mitarbeiterin. Sie spricht fließend Englisch, hat die weiterführende Schule beendet, will studieren und ist damit keine Ausnahme mehr in ihrer Gesellschaft. „Heute haben die Frauen weniger Probleme, an Bildung zu kommen,“ stellt Haidschar Elsaneh fest, „inzwischen sind die meisten Väter sind stolz, wenn ihre Tochter eine akademische Ausbildung hat.“
Tatsächlich hat sich in den letzten Jahrzehnten einiges getan. Im Jahr 2007 verbrachte die durchschnittliche Beduinin sechseinhalb Jahre in der Schule statt nur drei wie noch 1991. Trotzdem bleibt für die Frauen von Sidreh viel zu tun, denn jüdisch-israelische Schülerinnen gehen im Schnitt 13 Jahre zur Schule. Hinzu kommt, dass die Negev-Beduinen die ärmste Bevölkerungsgruppe in Israel darstellt. Und noch immer sind fast 90 Prozent der Beduinenfrauen ohne Job.
Israelische Regierung fördert Beduinen mit knapp 300 Millionen Euro
Immerhin scheint die israelischen Regierung den Handlungsbedarf erkannt zu haben. Sie erklärte die Förderung des Negev in einem Bericht aus dem Jahr 2011 zu einer „der wichtigsten nationalen Aufgaben im kommenden Jahrzehnt“ und verkündete, 1,2 Milliarden Schekel – umgerechnet 290 Millionen Euro – in die Modernisierung der Beduinenstädte zu investieren, darunter in den Bau von Jobcentren und Kindertagesstätten.
Als Haidschar Elsaneh vor 50 Jahren die Schule verlassen musste, machte sie sich selbst ein Versprechen: „Meine Töchter sollen die Schule abschließen können und sie sollen sich ihre Ehemänner selbst aussuchen dürfen.“ Sie hat das Versprechen gehalten. Alle fünf Töchter haben die weiterführende Schule beendet, sind aufs College oder zur Universität gegangen und dank ihrer Arbeit bei Sidreh konnte sie alle finanziell unterstützen.
Außerdem haben alle fünf den Mann ihrer Wahl geheiratet. Eine arbeitet heute als Anwältin, eine andere als Krankenschwester, eine dritte als Buchhalterin. Bildung ist das, was die Beduinen am dringendsten brauchen, erklärt Haidschar Elsaneh: „Wenn viele Menschen in unserer Gesellschaft gebildet sind, werden sie schließlich auch Jobs bekommen – und das würde am Ende uns allen helfen.“