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Lerne inspirierende Frauen weltweit kennen.

Gleichberechtigung im Fußball
Argentiniens Spielerinnen begehren auf

13. Juni 2018 | Von Anne Herrberg
"Pollo" ist unverzichtbar im zentralen Mittelfeld von „La Nuestra“. Fotos: Anne Herrberg

Maradona, Messi, Mascherano. Ohne Argentinien wären Fußball-Weltmeisterschaften nur halb so unterhaltsam. In kaum einem Land ist die Begeisterung für diesen Sport so leidenschaftlich – auch bei den Frauen. Doch die werden vom Nationalverband AFA noch immer ignoriert. Zunehmend lehnen sich die Fußballerinnen dagegen auf.

 Von Anne Herrberg, Buenos Aires 

Es begann am Montag, den 16. April 2018. Im Portada-Stadion von La Serena in Chile liegt Argentinien zurück. Kolumbien führt mit 1 zu 0 – bis zur 49. Minute. Da platziert Bonsegundo den ersten Treffer. Ausgleich. In der 66. schießt Jaime Argentinien mit einem Querschuss in Führung. Und schließlich macht Coronel mit einem eleganten Lupfer in der 70. Minute den Sieg perfekt. 3 zu 1 für Argentinien gegen den Favoriten Kolumbien!

Insgesamt machen die „himmelblauen“ Fußballerinnen den dritten Platz in der Südamerika-Meisterschaft, dem Pendant der Europa-Meisterschaft und haben damit erstmals seit Jahren wieder die Chance, sich für die WM 2019 in Frankreich zu qualifizieren. „Damit hätte niemand gerechnet, am wenigsten wir selbst“, sagt Gaby Garton, zweite Torhüterin der „Chicas“, des argentinischen Frauennationalteams.

Ein gutes halbes Jahr vorher hatte das Team, das auf der FIFA-Weltrangliste nur den 34. Rang belegt, noch nicht einmal einen Coach. Erst eine Woche vor dem Turnier konnten sie gemeinsam trainieren. Die AFA, der argentinische Fußballverband, zahlte kein Reisegeld, obwohl es zugesagt worden war. Als dann auch noch der Sponsor Adidas auf die Idee kam, das neue Nationaltrikot für beide argentinische Auswahlen vorzustellen – mit Weltstar Lionel Messi für die Männer und einem blonden Modell für die Frauen – da reichte es den 22 Nationalspielerinnen.

„Wir sind mehr als 22!“

„Fußball ist Nationalsport in Argentinien, kaum ein Land ist so fußballverrückt, aber wir Frauen werden dabei nach wie vor ignoriert“, sagt Garton. Sie und die anderen 21 posteten ein Gruppenfoto auf Twitter. Alle halten sich die rechte Hand ans Ohr nach dem Motto „Wir wollen gehört werden! Wir existieren!“ Die Geste galt der AFA, den Medien, den Sponsoren und den männlichen Kollegen. Und sie ging viral. Hunderte Frauen-Teams in Argentinien – von Klubs, Amateurverbänden bis hin zu Hobbyspielerinnen – posteten die gleiche Message: „Wir sind noch viele mehr als die 22!“

Argentinien ist eine Fußballnation und Buenos Aires die Stadt der Welt mit der höchsten Konzentration an Profi-Klubs. In kaum einem Land ist die Stimmung in den Stadien verrückter, die Begeisterung so leidenschaftlich, dass Fans sogar eine eigene Kirche im Namen ihres Idols Maradona gründen. An Spieltagen kann man 900 Minuten, also 15 Stunden, hintereinander Fußball gucken und hören. Die „Copa America“ der Frauen wurde dagegen nicht einmal von dem TV-Sender übertragen, der die Rechte ohnehin gratis besaß – erst nach dem Protest räumte man ein Sendefenster für die letzten beiden Spiele ein.

Eigenes Terrain markieren

Die Frauen von „La Nuestra“, zu Deutsch „Die Unsere“, haben die Partie gegen Kolumbien deswegen per Streaming auf Facebook geguckt – wie rund 13.000 andere User auch. „La Nuestra“ ist eine der ersten Fußballschulen von Buenos Aires, in der ausschließlich Mädchen und Frauen kicken. Sie liegt mitten in der „Villa 31“, die sich wie ein Labyrinth hinter dem Bahnhof erstreckt.

Diese „Villa“ hat nichts mit einer Villengegend zu tun. Vielmehr sieht der Stadtteil so aus, als hätte jemand eine Ladung roter Backsteine abgeladen. Es gibt keinen Bauplan, keine Kanalisation und keinen Staat, der sich kümmert. Alles basiert auf Improvisation. Die Häuschen stehen eng an eng, ineinander verschachtelt, ein Stockwerk auf das andere gezimmert, dazwischen Treppen, Kabel, enge Gassen und offene Rohre. Der einzig unbebaute Fleck ist der Bolzplatz.

Monica Santino mit ihren Fußball-Frauen beim abendlichen Training.

„Der Bolzplatz ist der wichtigste öffentliche Raum der Villa und er war striktes Männerterrain. Fußball ist leider auch ein Sport voller Machismo und Gewalt“, sagt Monica Santino, Fußballpionierin, Feministin und Gründerin von „La Nuestra“. Auf diesem Fußballfeld spielen zu können war und ist ein zäher Kampf: gegen blöde Sprüche, Testosteron und Ellenbogen. Am Schluss schleppten die Mädels zentnerweise Steine an und sperrten damit ihr Spielfeld ab.

Plötzlich ein schriller Pfiff, Monica rennt quer über den Platz. Eine Gruppe Jungs beginnt vor einem der Tore zu kicken als ob die Frauen gar nicht da wären – „Manche akzeptieren uns immer noch nicht.“ Dabei sind sie jeden Dienstag- und Donnerstagabend da, seit über zehn Jahren. Am Spielfeldrand die Fans, darunter Dutzende Kinder, die ihren Müttern zujubeln.

Mannsweib, Lesbe, Verrückte

„Pollo“ führt den Ball dicht am Fuß, dribbelt die Abwehr und die Pfützen aus. Niemand kann sie aufhalten. Sie heißt eigentlich Karen Marin, aber alle nennen sie „Pollo“, Hühnchen. Der Grund: Die nur 1,50 Meter große Frau ist Fan vom Klub „River Plate“, die „Gallinas“, Hühner, genannt werden. Vor allem aber, weil ihre Mutter Hühner und Eier verkauft und „Pollo“ am Stand mithilft. Zuvor sammelt sie Abfall für eine Müll-Kooperative, trennt ihn und bringt ihn zum Recyclinghof. Doch wenn am Abend das Flutlicht angeht und der abgewetzte Kunstrasen in gleißend hellem Licht erstrahlt, fällt alles von „Pollo“ ab: Die Müdigkeit, um sechs Uhr morgens aufgestanden zu sein, der schmerzende Rücken von der Arbeit und die Sorge um die Familie, den Haushalt, das immer knappe Geld.

Auf dem Platz ist „Pollo“ wieder das Mädchen, das früher in den Hinterhöfen kickte. Gemeinsam mit den Brüdern und Cousins, die davon träumten, Profi zu werden und der Familie zu helfen wie Maradona oder Tévez. Auch „Pollo“ träumte. Ein mit Klebeband zusammen gehaltenes Bündel Zeitungspapier diente damals als Ball, zwei Jacken als Torpfosten. Dass die Kleine „wie die Jungs“ spielte, wurde belächelt. Doch mit der Pubertät hörte der Spaß auf: „Mannsweib“, „Lesbe“, „Verrückte“, hieß es da. Frauen hatten sich schließlich um anderes zu kümmern: „Ich ging nie raus, ich war so schüchtern, ich hatte keine Freundinnen.“

Sie ruckelt an der roten Schieberkappe, schiebt sich die schwarzen Fransen aus dem Gesicht, verschränkt die kräftigen Oberarme vor der Brust. Es ist klar, dass sie heute, mit 21 Jahren, eine andere ist, unverzichtbar außerdem im zentralen Mittelfeld von „La Nuestra“. All das, weil Monica Santino in die „Villa 31“ kam. „Fußball ist ein politischer Akt, etwas Revolutionäres, denn er setzt etwas in Bewegung“, sagt die 52-Jährige. „Die Mädchen, die hier spielen, wissen, was sie können. Sie gewinnen Selbstbewusstsein und können sich wehren, wenn sie als Frau diskriminiert oder angegriffen werden.“

Der Männer-Verein

Monica Santino war die erste Frau, die vom Fußballverband AFA offiziell den Trainertitel erhielt. Trotzdem sagt sie: „Im AFA regiert der Machismo. Die Strukturen sind verkrustet. Wenn wir Frauen im Fußball weiter kommen wollen, müssen wir unsere eigenen Strukturen aufbauen.“ Zwar haben viele der Profi-Klubs heute Frauen-Teams und manche sogar Kinderschulen, in denen Jungen und Mädchen zusammen trainieren. Doch danach wird wenig investiert, eine wirkliche Nachwuchsförderung beginnt für Frauen erst ab 14 Jahren.

Und selbst, wer es in die erste Liga schafft, bleibt Amateur, muss neben dem Training arbeiten und dazu oft die Kosten für Kleidung, Reise und Verpflegung selbst tragen. Doch wenn die Frauen im Spiel unterliegen, geht es mit den Hass-Kommentaren los: „Ihr beschmutzt das Trikot“, „Euer Spiel ist zum Einschlafen“, „Fußball ist nichts für Frauen“. So auch, als das Nationalteam 2007 zuletzt an einer Weltmeisterschaft teilnahm. Es verlor gleich im Eröffnungsspiel 0:11 gegen Deutschland – die höchste Niederlage in einer WM überhaupt.

Zwar gab sich der neue AFA-Präsident Claudio Tapia im August 2017 als großer Erneuerer. „Ich will der Präsident für Gleichberechtigung im argentinischen Fußball sein“, sagte er. Zu diesem Zeitpunkt erhielten die Spielerinnen der Selección weder die ohnehin lächerliche Summe von umgerechnet sechs Euro Reisegeld pro Tag, noch hatten sie die Möglichkeit, auf einem echten Rasen zu trainieren. Sie traten daraufhin in den Streik und machten deutlich, wie weit entfernt der Verband von seinen Gender-Zielen ist.

Argentinien gehört zu den Schlusslichtern der Region, die beim Frauenfußball ohnehin hinterherhinkt. Laut der FIFA investiert der Südamerika-Verband CONMEBOL pro Jahr wenig mehr als zwei Millionen Euro in seine Frauen. Zum Vergleich: In Europa sind es über 85 Millionen. Zudem verpflichtet der Weltverband die Mitgliedstaaten, 15 Prozent ihrer Fördergelder für Frauenfußball aufzuwenden. Argentiniens Fußballerinnen fragen sich schon lange, wo dieses Geld geblieben ist.

Die „Evas des Fußballs“

Dass auch Frauen kicken können, hat der Verband AFA ohnehin erst im Jahr 1991 festgestellt – 20 Jahre zuvor hatte Argentinien bereits seine erste Frauen-WM bestritten. Das war 1971 in Mexiko, gegen den Willen der FIFA. Deutschland verbot seinen Spielerinnen eine Teilnahme, die Tschechoslowakei bekam keine Visa. Es spielten letztlich außer Argentinien und Mexiko noch Frankreich, Italien, England und Titelverteidiger Dänemark.

Pionierin Betty Garcia spielte schon 1971 eine WM.

Kapitänin Betty Garcia und ihre 16 Kolleginnen reisten ohne Trainer, ohne Arzt, ohne Schuhe und mit einem Trikot, das nach dem ersten Spiel auseinanderfiel. Ein argentinischer Unternehmer hatte den Trupp zusammengestellt, Gastgeber Mexiko gab erst einmal ein Paar Schuhe und ein neues Trikot für alle aus. Beim Eröffnungsspiel waren 120.000 Zuschauer im Aztekenstadion, Garcia wäre im Tunnel auf das Spielfeld beinahe wieder umgedreht: „Es klang, als liefen wir in eine römische Gladiatoren-Arena.“

Die ganze Stadt stand Kopf und die Argentinierinnen gewannen furios 4:1 gegen England. Die Zeitungen nannten Betty „die Königin Garcia“ und ihr Team „die Evas des Fußballs“. Das nötige Taschengeld verdienten sie sich mit dem Verkauf von Autogrammkärtchen, dazu sang Torwartin Marta Soler abends Tangos und Boleros im Steakhaus neben dem Hotel. Danach rief der Klub „Racing“ in einem Vorort von Buenos Aires das erste Frauenteam ins Leben. Heute ist Betty Garcia 76 Jahre alt und sagt nüchtern: „Sehr viel hat sich seitdem nicht getan.“

Mit Staub, Schweiß und Solidarität

Von Verbandseite nicht, von unten schon – mit Staub, Schweiß und Solidarität. „Wir sind rund eine Million“, schätzt Evelina Cabrera. Als Jugendliche lebte sie auf der Straße, heute ist sie Trainerin und soziale Unternehmerin. 2013 hat sie den „Argentinischen Fußball-Verband der Frauen“ (AFFAR) gegründet, der eine eigene Liga, Trainingscamps, Turniere organisiert. In Buenos Aires und den Provinzen sind neue Schulen und Netzwerke entstanden, auf den Fußballplätzen in jedem Viertel von Buenos Aires treffen sich heute nicht nur „die Jungs“, sondern auch „die Mädels“. An Universitäten werden Doktorarbeiten zum Thema Frauenfußball angemeldet, auf Festivals Dokumentarfilme gezeigt und zur Weltmeisterschaft nach Russland fahren diesmal acht Sportreporterinnen – 2010 in Südafrika waren es noch zwei.

Argentiniens Frauen bei der WM 1971.

Lucky Sandoval, 35 Jahre lang Torhüterin in so ziemlich allen großen Klubs der Stadt, hat in ihrem Radioprogramm „Pasión Pionera“ die Geschichten der Pionierinnen von 1971 wieder ausgegraben. „Es gibt einen Fußball-Boom bei den Frauen“, erklärt sie. Selbst im wohlhabenden privaten Wohnkomplex Nordelta fand ein Frauen-Turnier statt. „Wenn die Oberschicht anfängt, den Sport der Straße für sich zu entdecken, dann sind wir nahe am Durchbruch,“ sagt Sandoval, „der Tango wurde hier auch erst akzeptiert als er in Paris berühmt wurde.“

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Von Anne Herrberg, Buenos Aires

Anne Herrberg ist als Reporterin in Südamerika unterwegs. 2015 und 2016 hat sie als Juniorkorrespondentin für den ARD-Hörfunk über den Friedensprozess in Kolumbien oder die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro berichtet. Nun unterstützt sie das ARD-Studio in Buenos Aires weiterhin regelmäßig. Schwerpunkt: Geschichten über die vielen faszinierenden und mutigen Frauen Südamerikas.

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Mareike GraepelHaltern
Die US-Amerikanerin Cindy O’Brien lebt seit den 90er Jahren in Connemara, ganz im Westen von Irland und züchtet seltene Seeschnecken. Die sogenannten japanischen Abalone gedeihen an der irischen Küste gut. Sie gelten als Delikatesse und Aphrodisiakum, kosten bis zu 44 Euro pro Kilo – und sehen aus wie Vulven.

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