Gerade wurde im Westjordanland ein Gesetz abgeschafft, das Vergewaltigern Straffreiheit versprach, wenn sie ihre Opfer heiraten. Für diesen Durchbruch mussten palästinensische Frauenrechtsorganisationen hart kämpfen.
Von Mareike Enghusen, Ramallah
Bis vor kurzem hatte ein Vergewaltiger im Westjordanland wenig zu befürchten: Um seiner Strafe zu entgehen, musste er lediglich einwilligen, sein Opfer zu heiraten – und schon wurde jegliche Anklage fallengelassen. Die Frauen wurden nicht gefragt. Was klingt wie eine Sitte aus lang vergangenen Zeiten, stand bis vor wenigen Monaten im Gesetzbuch der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) im Westjordanland. Dass die archaische Regelung im März dieses Jahres abgeschafft wurde, ist zum großen Teil palästinensischen Frauenrechtsaktivistinnen zu verdanken, die eine monatelange Kampagne gegen den Artikel 308 führten.
„Das Gesetz hat die Frauen zweimal zum Opfer gemacht“, empört sich Amal Abu Srur. Die 48-Jährige gehört zu den Aktivistinnen, die das Gesetz bekämpften. An einem schwülen Frühlingsvormittag sitzt sie in weißer Bluse in ihrem Büro im „Women’s Centre for Legal Aid and Counselling“ (WCLAC) in Ramallah, wo sie als Programmdirektorin arbeitet. Die Organisation hat keine Daten darüber, wie viele Vergewaltiger von dem infamen Artikel Gebrauch gemacht haben, doch angewandt worden sei er definitiv – mit schier unvorstellbaren Folgen für jede einzelne betroffene Frau. Und der Artikel, im Englischen etwas flapsig bekannt als „Marry-your-rapist-law“, ist nur das drastischste Beispiel einer ganzen Reihe von Gesetzen im palästinensischen Westjordanland, die Frauen benachteiligen.
Diese Missstände abzuschaffen gehört zur selbsterklärten Mission der 1991 gegründeten Frauenrechtsorganisation WCLAC – in Abu Srurs Worten „die erste feministische palästinensische Organisation“ überhaupt. Neben dem Hauptsitz in Ramallah unterhält WCLAC weitere Büros in Ostjerusalem, Hebron und Bethlehem. 35 Mitarbeiter beschäftigt die Einrichtung, finanziert wird sie unter anderem von westlichen Einrichtungen und Staaten, darunter Deutschland.
Die Abschaffung des Artikels 308 zählt zu ihren jüngsten Erfolgen; zusammen mit anderen Frauenrechtsinitiativen hatte WCLAC monatelang Öffentlichkeitsarbeit betrieben und Druck auf die Entscheidungsträger ausgeübt, bis Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas den umstrittenen Artikel per Präsidialdekret beseitigte. Trotzdem wird den Frauen die Arbeit so bald nicht ausgehen. „Etliche Gesetze diskriminieren Frauen massiv“, berichtet Amal Abu Srur.
Frauen werden vor Vergewaltigung in der Ehe nicht geschützt
Im Westjordanland gilt die Scharia, das islamische Rechtssystem, in Fragen des Personenstandsrechts, also etwa bei Hochzeiten, Scheidungen und beim Sorgerecht. Unter anderem führt das dazu, dass sich Männer ohne Angabe von Gründen jederzeit scheiden lassen können, während Frauen in einem Prozess beweisen müssen, dass ihr Mann seine Pflichten nicht erfüllt oder ihnen Schaden zufügt. Männer dürfen bis zu vier Frauen heiraten. Geschiedene Frauen verlieren das Sorgerecht für ihre Kinder, sobald sie erneut heiraten. Und im Falle eines Erbes erhalten Frauen nur halb so viel wie Männer. Auch das Strafrecht schütze Frauen in vielen Bereichen nicht ausreichend, sagt Abu Srur. So gebe es beispielsweise kein Gesetz, das Vergewaltigung in der Ehe verbiete. „Frauen und Mädchen in den besetzten palästinensischen Gebieten leiden unter tief verwurzelter institutioneller, legaler und sozialer Diskriminierung als Resultat nicht nur der israelischen Besatzung, sondern auch wegen eines veralteten, nicht angepassten Rechtssystems“, heißt es auch in einem UN-Bericht.
Zwar gab und gibt es ähnliche diskriminierende Gesetze auch in anderen arabischen Staaten. Doch zumindest in manchen dieser Länder werden sie allmählich überholt. Den berüchtigten Vergewaltigungsartikel schafften Marokko und Ägypten schon vor vielen Jahren ab, Jordanien und Libanon zogen im vergangenen Jahr nach. Im palästinensischen Westjordanland dagegen gestalte sich der Reformprozess äußerst zäh, sagt Amal Abu Srur: „Die Regierung nimmt zwar legale Reformen vor. Aber wenn es um Artikel geht, die Frauen benachteiligen, blockiert sie. Wir als Organisation glauben, die Palästinensische Autonomiebehörde hat nicht den politischen Willen, diese Gesetze zu reformieren. Wenn wir legale Gleichberechtigung von Frau und Mann fordern, heißt es oft: Das geht nicht, das widerspricht der Scharia.“
„Frauen verdienen es, geschlagen zu werden“
Solche Argumente haben durchaus gesellschaftlichen Rückhalt: Unter Palästinensern im Westjordanland und in Gaza herrschen konservative Geschlechterbilder vor. Das zeigt beispielsweise eine umfassende Umfrage von „UN Women“ und der brasilianischen Frauenrechtsorganisation „Promundo“ aus dem vergangenen Jahr: Demnach finden 80 Prozent der befragten palästinensischen Männer und 60 Prozent der Frauen, die wichtigste Rolle einer Frau bestehe darin, sich um den Haushalt zu kümmern. Jeder dritte palästinensische Mann stimmt der Aussage zu: „Es gibt Zeiten, zu denen eine Frau es verdient, geschlagen zu werden.“ Und fast die Hälfte der Männer meinen, im Falle eines „Ehrenmordes“ habe die Frau diese Strafe verdient.
Frauenrechtsorganisationen kämpfen also an zwei Fronten: Zum einen betreiben sie nach oben hin Lobbyarbeit für progressive Gesetze; zum anderen versuchen sie, gewöhnliche Männer und Frauen von der Gleichberechtigung der Geschlechter zu überzeugen. Die WCLAC-Aktivistinnen arbeiten mit Studenten zusammen, geben Workshops, halten Vorträge. Auch viele junge Männer und Frauen hingen traditionellen Rollenbildern an, berichtet Amal Abu Srur: „Aber wenn wir mit ihnen sprechen, stellen wir fest, dass sie offener für Konzepte von Menschen- und Frauenrechten sind als ältere Generationen.“
Das könnte als Anlass für Optimismus dienen – würde sie nicht zugleich besorgt feststellen, dass seit einigen Jahren eine konservative Auslegung des Islams unter Palästinensern an Beliebtheit gewinnt. Unter anderem macht sie ihre Beobachtung daran fest, dass immer mehr Frauen und selbst junge Mädchen sich für das Kopftuch entscheiden. „Wenn ich in Ramallah auf der Straße laufe, bin ich als unverschleierte Frau eine kleine Minderheit.“ Manche religiösen und konservativen politischen Wortführer würden inzwischen eine stärkere Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum fordern. „Das ist alarmierend,“ findet sie, „solche Haltungen sind ungewöhnlich in Palästina.“
Für diese Entwicklung macht sie konservative Medien anderer arabischer Staaten sowie die gewaltsamen Turbulenzen in der Region verantwortlich: „Wir sehen, was im Irak und in Syrien passiert,“ sagt sie, „und in Zeiten der Krise besinnen sich die Menschen auf die Religion. Aber in Wirklichkeit entscheiden sich viele für Konservatismus statt für Religion an sich.“ Sie richtet den Oberkörper auf, das Thema bewegt sie sichtlich. „Ich bin selbst Muslimin, ich weiß, was der Islam bedeutet. Er steht nicht für Konservatismus und äußere Erscheinungen. Menschen, die so etwas predigen, repräsentieren meine Religion nicht. Ich bin überzeugt, dass ich mit dem, was ich tue, eine viel bessere Vertreterin des Islams bin.“