Die rechtskonservative Regierung Ungarns prägt das Frauenbild des Landes und spaltet seine Bürger*innen. Hinzu kommt, dass ungarische Frauen dazu gezwungen sind, eine Lösung für die fehlende Betreuung von Kleinkindern und die Pflege älterer und kranker Familienangehöriger zu finden, die nur zu einem geringen Teil professionell organisiert wird.
Von Dóra Diseri, Budapest / Berettyóújfalu
„In meiner Heimat leben die Menschen, die ehrlich arbeiten, von Tag zu Tag. In meiner Heimat vegetieren wir nur dahin. In meiner Heimat können zwei Erwachsene nur dann über die Runden kommen, wenn sie sich gegenseitig stützen. Wenn du keinen Partner hast, keinen Freund, mit dem du die Kosten teilst, kannst du mit 22 zu deiner Mutter zurückkehren, die dich aber auch nicht mehr unterstützen kann, weil sie selber kaum noch zurechtkommt“. Dieser Facebook-Post ging am Tag nach den ungarischen Parlamentswahlen im April 2018 viral.
Innerhalb weniger Stunden teilten Zehntausende den Beitrag, in dem Luca Mészáros, eine 22-jährige Studentin, verzweifelt davon schrieb, wie ihre Mutter mit ihrem extrem niedrigen Erzieherinnen-Gehalt zwei Kinder alleine erzog. Und welche finanziellen Schwierigkeiten die ganze Familie bekommt, sobald ihre kleine Schwester mit dem Abitur fertig ist und kein Kindergeld mehr in die gemeinsame Kasse fließt – auch wenn dieses Kindergeld umgerechnet „nur“ 38 Euro beträgt. Außerdem erklärte die junge Frau, warum sich sich trotz aller Schwierigkeiten für diesen Beruf entschied und das obwohl sie nahezu ihr komplettes Monatsgehalt für das WG-Zimmer in Budapest ausgeben wird.
Doch warum stieß Luca Mészáros‘ Hilferuf auf so große Resonanz? Vermutlich weil er genau die Punkte anspricht, die die Realität vieler ungarischer Frauen beschreiben: unterbewertete und schlechtbezahlte Berufe, prekäre Arbeitsverhältnisse, finanzielle Abhängigkeit vom Partner, Care-Arbeit innerhalb der Familie, ausgewanderte Kinder. Armut ist auch in Ungarn weiblich: 13,6 Prozent der Frauen leben unter der Armutsgrenze. Unter den alleinerziehenden Müttern sind es 40 Prozent.
Frauen leisten vier Mal so viel unbezahlte Arbeit wie Männer
„Die Situation der ungarischen Frauen hat sich seit der Wende sehr unterschiedlich entwickelt, zeigt aber ähnliche Muster auf wie in anderen postkommunistischen Ländern“, sagt Anikó Gregor, Soziologin und Assistenzprofessorin der ELTE Universität in Budapest. Die Wende 1989 habe den Zusammenbruch der Wirtschaft ausgelöst, der sowohl bei den Frauen als auch bei den Männern zu einer ähnlich hohen Arbeitslosigkeit geführt hat.
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Die Beschäftigung von Frauen blieb seitdem jedoch konstant niedrig: Aktuell arbeiten nur knapp 66 der ungarischen Frauen, was unter dem EU-Durchschnitt und deutlich unter der Beschäftigungsrate von ungarischen Männern mit gut 81 Prozent liegt. Laut den Angaben des Zentralen Statistikbüros Ungarns (KSH) liegt die aktuelle Gehaltslücke zwischen Männern und Frauen bei 17 Prozent. Die benachteiligte Lage der Ungarinnen zeigt aber vor allem das aktuelle EU-Ranking zum Stand der Gleichstellung, bei dem Ungarn mit 50,8 Prozent auf dem vorletzten Platz der 28 EU-Länder steht.
„Das größte und schichtenübergreifende Problem der Frauen ist, dass sie viel unbezahlte Arbeit – vor allem Care-Arbeit innerhalb ihrer Familie – leisten müssen“, schildert Gregor. 2018 befragte sie zusammen mit der Politikwissenschaftlerin Eszter Kováts für eine große wissenschaftliche Studie mehr als 1.000 ungarische Frauen zwischen 25 und 70 Jahren, wie sie ihre Wirklichkeit erleben. Die Mehrheit nannte das Arbeitsumfeld, die unzureichende Bezahlung und die finanziellen Schwierigkeiten als größte Herausforderung. Viele beschrieben ihren Job als „Ausbeutung“ und „Sklaverei“, wo vor allem Männer das Sagen hätten und wenig Verständnis für Familienprobleme aufbrächten.
„Es zeigte sich eine eklatante Spannung zwischen Erwerbs- und Care-Arbeit. In Ungarn gibt es aktuell keine allgemeine institutionelle Lösung für die Versorgung von Kleinkindern oder älteren Menschen. Jede Familie muss das intern lösen – und am häufigsten nehmen die Frauen diese Aufgabe auf sich“, so Gregor. Demnach kümmern sich die Männer eine Stunde am Tag um Haus bzw. Betreuung, Frauen aber mindestens vier Mal so viel. In Ungarn sei die sogenannte „Sandwich-Generation“ der heute 40- bis 60-Jährigen „eingeklemmt“, da sie gleichzeitig für die Pflege von Angehörigen und für die Kindererziehung zuständig sei, besonders viel Last trage und deshalb frustriert sei.
Frauen geben Klischees an ihre Kinder weiter
Ein weiteres Problem ist, dass immer mehr ungarische Frauen es nicht schaffen, überhaupt Arbeit zu finden. Im Osten des Landes bei Berettyóújfalu arbeitet Nóra Ritók. Der Landstrich zählt zu den 20 ärmsten Regionen der Europäischen Union. In den Dörfern gibt es kaum Infrastruktur, noch weniger Arbeit und die Busse fahren nur nach Gusto. „Ursprünglich habe ich Geografie und Kunst in einer staatlichen Schule unterrichtet, wo ich mit den Problemen armer Kinder tagtäglich konfrontiert war. So habe ich gelernt, was alles anders gemacht werden sollte“, erzählt Ritók.
Sie gründete vor 20 Jahren eine Nichtregierungsorganisation, um den Kindern konkret helfen zu können. „Im Laufe der Zeit haben wir aber festgestellt, dass wir uns mehr auf Frauen konzentrieren müssen, weil die unreflektierte Weitergabe der Frauenrollen und Geschlechterklischees von Generation zu Generation unheimlich prägend. ist. Frauen werden hier als hauptamtliche Mütter wahrgenommen, die zu Hause bleiben und sich um die Kinder und den Haushalt kümmern sollen und deren schulische Ausbildung deswegen nicht so wichtig ist.“
Die von Ritók gegründete Organisation „Igazgyöngy Alapítvány“, zu Deutsch „echte Perle“, bietet Aufklärung und Weiterbildungen an. Vor allem möchte sie aber das Bewusstsein der Frauen stärken, was Familienplanung, Finanzen und andere offizielle Angelegenheiten angeht. „Viele von ihnen werden schon mit 14, 15 Jahren schwanger, weil sie keine Verhütungsmethoden kennen, und verlassen ihre Familien bevor sie volljährig sind, weil sie auf etwas Eigenes hoffen und ihr Zimmer nicht mehr mit vier oder fünf anderen Personen teilen wollen“, erläutert Ritók.
Es gibt jedoch einen Index, in dem Ungarn seit Jahren einen prominenten Platz einnimmt: der „Glass Ceiling Index“ der Zeitung „The Economist“. 2018 landete Ungarn auf Platz 9, davor sogar auf Platz 3, weil mehr als 40 Prozent der Managerpositionen Frauen innehatten. „Hier geht es aber um alle möglichen Führungspositionen, wie zum Beispiel um Schul- oder Kindergartenleitung bzw. um die Leitung von kleinen und mittleren Unternehmen, die oft nur aus steuerrechtlichem Zwang begründet sind. Denn wenn Frauen nur auf Honorarbasis für eine Firma arbeiten können, müssen sie als Freiberufler ein Unternehmen gründen“, sagt Beáta Nagy, Professorin am Institut für Soziologie und Sozialpolitik der Corvinus Universität Budapest.
Nur zwei Ministerinnen im Kabinett von Orbán
Bei den großen führenden Unternehmen sehen die Zahlen dagegen deutlich anders aus: Weniger als 15 Prozent der Vorstandmitglieder sind Frauen. Noch dramatischer ist es bei wichtigen Posten in der Politik: Im Kabinett von Viktor Orbán saß zwischen 2010 und 2014 eine einzige Frau, zwischen 2014 und 2018 überhaupt keine. Aktuell gibt es zwei Ministerinnen, eine davon ohne Geschäftsbereich. Damit liegt Ungarn schon seit 2010 auf dem letzten Platz im EU-Ranking, was die Teilnahme von Frauen an politischen Entscheidungen angeht.
„In der Regierungsrhetorik werden Frauen regelmäßig in der Mutterrolle dargestellt, die das Gebären als Hauptaufgabe haben und die demographische Krise Ungarns lösen sollen. Parallel dazu wurde ein Kampf gegen ‚Gender‘ und ‚Genderismus‘ gestartet“, erläutert Beáta Nagy. Demnach sprechen Minister der Orbán-Regierung über ‚Gender‘ als Bedrohung und Gefahr für die christlichen Werte der Gesellschaft. Auch Nagys Lehrstuhl war betroffen als Orbán 2018 die Gender-Studies aus der Liste der zugelassenen Masterstudiengänge strich. Die Familienpolitik der Regierung mit Krediten, Steuerentlastungen und Baufinanzierungen spalte die ungarische Gesellschaft noch weiter, meint Nagy, weil diese vor allem Familien begünstige, die Startkapital hätten.
So wie in vielen anderen Ländern Europas findet man Aufstiegsmöglichkeiten vor allem in Großstädten: Edina Heal, die acht Jahre lang die ungarische Tochtergesellschaft vom Google in Budapest leitete, ist zuversichtlich, dass die konservative Frauenpolitik der ungarischen Regierung auf lange Sicht nicht gewinnen kann. „Ich beobachte, dass immer mehr Unternehmen verstehen, dass es eine strategisch gute Entscheidung ist, Frauen und generell Diversität innerhalb des Unternehmens zu fördern. Alle brauchen jetzt gut qualifizierte Arbeitskräfte und das ist die Chance, die die Frauen nutzen können und sollen.“
Info: Kooperation mit der Frankfurter Rundschau
Dieser Artikel ist der fünfte in unserer achtteiligen Serie „Wie emanzipiert ist Europa?“. Dabei kooperieren wir exklusiv mit der Frankfurter Rundschau. Mit der Serie wollen wir beleuchten, wo es in Europa in puncto Gleichberechtigung besonders gut läuft und wo es noch Nachholbedarf gibt. Die nächste Geschichte erscheint Anfang Dezember und handelt von der Emanzipation in Russland.