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Frauen – emanzipiert euch!
Ein Essay über verschwendetes Potenzial

1. Dezember 2015 | Von Mareike Enghusen
Shadia Jaradat hat es geschafft: Sie ist berufstätig, erfolgreich und wird von ihren männlichen Kollegen akzeptiert. Fotos: Mareike Enghusen

Nirgends ist der Anteil berufstätiger Frauen so gering wie in den arabischen Staaten – ein enormes ungenutztes Potenzial. Frauen den Weg in den Job zu ebnen, würde nicht nur ihnen helfen, sondern auch ihrer Gesellschaft.

Von Mareike Enghusen, Tel Aviv

Egal ob Mann oder Frau, man braucht ein gesundes Selbstbewusstsein, um sich von Shadia Jaradat nicht einschüchtern zu lassen. Shadia Jaradat ist eine junge Palästinenserin aus einem Dorf nahe Hebron im Westjordanland. Sie arbeitet als eine der leitenden Ingenieurinnen in Rawabi, der ersten privat geplanten und finanzierten palästinensische Stadt. Ein international beachtetes Vorzeige-Projekt.

„Hunderte von Männern arbeiten auf den Baustellen von Rawabi“, erzählt Shadia Jaradat. „Anfangs fragten sie mich ständig: Wie alt bist du? In welchem Jahr hast du deinen Abschluss gemacht? Es war die Domäne der Männer. Einmal fing ich an zu weinen.“ Heute lacht sie, wenn sie davon erzählt, perlend, fröhlich, selbstsicher. Inzwischen, sagt sie, respektierten die männlichen Angestellten sie – „sie müssen!“ Denn in fünf Jahren hat sich Shadia Jaradat hochgearbeitet: Im Alter von 28 Jahren unterstehen ihr 40 Ingenieure. Ihr Chef, der Unternehmer Baschar Masri, nennt sie einen „Star“, wenn er über sie spricht. Wer sie beobachtet, wie sie die Baustelle betritt – mit hohen Absätzen, riesiger Sonnenbrille und energischen Schritten, die keinerlei Zweifel an ihrer Autorität lassen – kann das nicht wesentlich übertrieben finden.

Shadia Jaradat ist Erfolg gewöhnt: Als Studentin reiste sie als Mitglied des palästinensischen Schachteams um die Welt, zwei Jahre war sie sogar Team-Kapitän. Dabei gehören ihre Eltern nicht zur sozioökonomischen Elite: Sie schickten ihre Tochter auf eine öffentliche Dorfschule mit dürftiger Reputation und danach auf eine lokale Universität statt in die USA, wie es jene tun, die es sich leisten können. Shadia Jaradat ist nicht priviligiert aufgewachsen. Was sie von anderen jungen Frauen in ihrer Gesellschaft unterscheidet, ist nicht Geld sondern Eltern, die sie zur Selbstständigkeit ermutigt haben und in allen Lebensentscheidungen unterstützen.

Das ist nicht nur ein Glücksfall für Shadia Jaradat selbst. Es ist auch ein Glücksfall für ihren Arbeitgeber und ihre Gesellschaft. Ihr Beispiel erinnert daran, wie viel unerschlossenes Potential in der arabischen Welt – oder besser: in ihren Frauen – verborgen ist. Und es führt zu der Frage: Wie viel besser ginge es der Region, wenn mehr Frauen jene Chancen bekämen, die Shadia Jaradat offenstehen?

Nahezu überall auf der Welt arbeiten mehr Männer als Frauen, doch nirgends ist die Kluft zwischen den Geschlechtern so groß wie in den arabischen Staaten. Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation liegt die Beschäftigungsrate der Frauen in den arabischen Ländern im Nahen Osten und Nordafrika bei 26 Prozent – das heißt, nur jede vierte Frau geht einer bezahlten Arbeit nach. Dagegen arbeiten zwei Drittel der Männer in der Region. Zum Vergleich: Im weltweiten Durchschnitt arbeiten 56 Prozent der Frauen und 74 Prozent der Männer.

Diese Diskrepanz lässt sich nicht dadurch erklären, dass die Frauen schlechter qualifiziert seien. Im Gegenteil: Im Nahen Osten und Nordafrika studieren insgesamt mehr Frauen als Männer, im Durchschnitt kommen nach Angaben der Weltbank 108 weibliche auf 100 männliche Studenten. Kein Wunder, schließlich investieren viele Regierungen arabischer Staaten seit Jahren stark in Bildung.

Im Schnitt gaben sie im vergangenen Jahrzehnt 5,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) dafür aus – die höchste Rate weltweit. Das Merkwürdige ist, dass sich diese Fortschritte nicht in der der Arbeitswelt widerspiegeln. Die Beschäftigungsquote der Frauen ist, mit Ausnahmen weniger Länder wie Qatar und Bahrain, niedrig geblieben – niedriger, als man angesichts ihres durchschnittlichen Bildungsgrad erwarten sollte.

Die 28-jährige Shadia Jaradat bei einer Besprechung mit ihren Ingenieuren.

Warum ist das so? Wollen die Frauen ihre neu gewonnenen Kenntnisse nicht anwenden? Oder können sie nicht?

Eine Reihe von Experten hat sich mit diesen Fragen beschäftigt und verschiedene Erklärungen dafür gefunden. Vermutlich ist die Antwort, wie so oft, in einer Kombination mehrerer Faktoren zu suchen.

Einer von ihnen ist Tradition. In weiten Teilen der arabischen Welt herrscht ein konservatives Familien- und Geschlechterbild vor. Vor drei Jahren führte das Gallup-Institut eine großangelegte Umfrage in den 22 arabischen Staaten durch, um herauszufinden, warum so wenige Frauen arbeiten. Heraus kam, dass „langsam zu ändernde kulturelle Muster“ ein wesentlicher Grund dafür sind.

Selbst junge Frauen, die arbeiten, geben im Alter von Mitte zwanzig sehr häufig den Job auf – in jenem Alter also, in dem sie eine Familie gründen. Studien zeigen, dass verheiratete Frauen in der arabischen Welt wesentlich seltener arbeiten als unverheiratete. Das ist weniger selbstverständlich, als es im ersten Moment klingen mag: In anderen Weltregionen verhält sich der Zusammenhang genau andersherum, und verheiratete Frauen arbeiten im Schnitt häufiger als unverheiratete.

Die Weltbank schreibt in ihrem Bericht, dass tradierte Werte die Frauen zu Hause halten, etwa die zentrale Bedeutung der Familie, die Vorstellung vom Mann als „einzigem Verdiener“ und ein Ehrenkodex, der Kontakte zwischen Frauen und Männern stark reglementiert. Diese Werte werden Mädchen und Jungen oft schon von klein auf beigebracht, sie kommen auch in Lehrplänen und Schulbüchern vor. Eine junge Frau, die dagegen rebelliert, indem sie die Familiengründung zugunsten der Karriere auf später verschiebt, muss erheblichen sozialen Druck vonseiten konservativer Kreise und nicht selten auch von der eigenen Familie in Kauf nehmen.

Konservative Wertemuster sind jedoch nicht das einzige Hemmnis, das viele arabische Frauen vom Arbeitsmarkt fernhält. Die Wirtschaft vieler arabischer Staaten erzeugt schlichtweg nicht genügend Jobs – für Frauen wie für Männer. Nirgends auf der Welt ist der Anteil arbeitsloser junger Menschen (im Alter von 15 bis 24 Jahren) so hoch wie in der arabischen Welt, nämlich bei 26 Prozent. Selbst dort, wo die Wirtschaft relativ schnell wächst, hält sie meist nicht Schritt mit dem hohen Bevölkerungswachstum. Wenn also schon junge Männer Schwierigkeiten haben, einen Job zu finden, dann lässt sich leicht ausmalen, wie viel schwerer es angesichts kultureller Widerstände für junge Frauen sein muss.

Und schließlich gibt es Probleme institutioneller und legaler Art, Probleme, die auch Frauen in anderen Weltgegenden – unsere eingeschlossen – kennen: Wie die Gallup-Studie feststellt, haben Frauen an vielen Orten in der arabischen Welt keine oder unzureichende Möglichkeiten, bezahlten Mutterschaftsurlaub zu bekommen oder ihre Kinder in Tagesstätten unterzubringen – Dinge, die es ihnen erleichtern würde, Kinder und Job in Einklang zu bringen.

Bevor man jedoch fragt, was sich dagegen tun lässt, ist noch eine andere Frage zu beantworten: Warum ist es überhaupt wünschenswert, dass mehr Frauen in der arabischen Welt arbeiten? Sollte das nicht eine sehr persönliche, individuelle Entscheidung sein?

Die Antwort lautet: Ja, natürlich! Wenn sich eine Frau aus freien Stücken für Familie und gegen Karriere entscheidet, ist das völlig legitim – ob nun in Deutschland, Saudi-Arabien oder Singapur. Ein Problem besteht erst dann, wenn eine Frau gegen ihren Willen von einer Karriere abgehalten wird oder aber wenn ihr die Entscheidung zwischen Kindern und Karriere niemals offenstand. Damit wäre schon der erste und moralisch schwerwiegendste Grund genannt, warum Frauen in der arabischen Welt leichter arbeiten können sollten: individuelle Freiheit.

Zur Selbstverwirklichung kommt ein zweiter, handfesterer Vorteil hinzu: Würden mehr Frauen in der arabischen Welt bezahlten Jobs nachgehen, würden nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Familien profitieren. Arme Familien könnten ihren Kindern ein besseres Leben ermöglichen. Die Weltbank schätzt, dass arabische Frauen, die arbeiten gehen, das Einkommen ihres Haushaltes durchschnittlich um 25 Prozent erhöhen könnten. „Für viele Familien sind diese erhöhten Einkommen die Eintrittskarte in die Mittelschicht“, heißt es in dem Bericht der Weltbank.

Und natürlich sind die wirtschaftlichen Vorteile nicht auf die einzelne Familie begrenzt. Millionen gutausgebildeter Frauen, die nicht arbeiten, stellen aus gesamtwirtschaftlicher Sicht ein riesiges unerschlossenes Potential dar. Würden mehr Frauen arbeiten, würden sie das BIP ihrer Länder in die Höhe treiben. Der Internationale Währungsfonds hat versucht, auszurechnen, wie stark die Wirtschaft in verschiedenen arabischen Ländern wachsen würde, wenn der Anteil berufstätiger Frauen dort ebenso hoch wäre wie jener der Männer.

Das Ergebnis: Das BIP der Vereinigten Emirate könnte um zwölf Prozent steigen, dasjenige Ägyptens sogar um 34 Prozent. McKinsey-Analysten kommen zu dem Schluss, dass das BIP im Nahen Osten insgesamt sogar um über 50 Prozent wachsen könnte. Natürlich sind diese Zahlen hypotethisch. Doch der grundsätzliche Zusammenhang – mehr Frauen im Beruf bringen mehr Wohlstand – steht außer Frage.

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Shadia Jaradat beim Schach spielen.

Darüber hinaus gibt es noch einen gesamtgesellschaftlichen Vorteil, der schwerer zu quantifizieren, aber womöglich noch bedeutsamer ist. Studien haben gezeigt, dass berufstätige Frauen einen höheren Anteil ihres Gehalts in die Bildung ihrer Kinder investieren als Männer. Arbeiten mehr Frauen, fließt also auch mehr Geld in die nächste Generation.

Und schließlich würde ein höherer Anteil arbeitender Frauen die Bürde der Männer lindern. In der arabischen Welt muss eine berufstätige Person im Schnitt zwei nicht berufstätige Menschen mitversorgen – das ist die höchste Abhängigkeitsrate weltweit. Vielerorts stagnieren oder sinken die Reallöhne, so dass es selbst für Männer schwerer wird, den Lebenstandard ihrer Familien zu erhöhen. Ein zweites Einkommen könnte Erleichterung bringen.

Bleibt die Frage: Wie lässt sich Frauen in der arabischen Welt der Weg in die Berufstätigkeit ebnen?

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Der Westen kann in dieser Entwicklung bestenfalls beratend oder sanft unterstützend wirken, falls denn eine solche Unterstützung erwünscht ist. Die Erfahrung zeigt, dass Menschen auf Einmischung fremder Mächte tendenziell abwehrend reagieren – nicht nur im Nahen Osten, sondern generell. Die Iraner haben im Zuge der 1979er Revolution sogar ein Schimpfwort für die Übernahme westlicher Praktiken erfunden: „Gharbzadegi“, eine Kombination aus „Verwestlichung“ und „Krankheit“. Menschen in anderen Weltgegenden eigene Wertemuster und Lebensentwürfe aufzudrängen ist also erstens aussichtslos und zweitens moralisch zweifelhaft.

Den Regierungen der betroffenen Länder dagegen steht eine Reihe von Hebeln zur Verfügung, die sie bewegen könnten, um Hindernisse für Frauen abzubauen und sie zu ermutigen, einen Beruf zu ergreifen. Sie könnten unterstützende Infrastruktur wie Kindertagesstätten auf- und ausbauen. Sie könnten Arbeitsgesetze erlassen, die Müttern den Wiedereinstieg in den Job vereinfachen. Sie könnten weiterhin stark in Bildung investieren und Universitäten ermutigen, spezielle Kurse für Frauen anzubieten, in denen zum Beispiel Bewerbungstechniken und Selbstvermarktung gelehrt werden.

Nicht alles lässt sich mit Gesetzen und Subventionen regeln. Viele Studien weisen darauf hin, dass konservative Geschlechterbilder zu den größten Hürden zählen. Zugleich ist der Wandel von Wertemustern schwerer steuerbar und geht langsamer voran als das Verfassen von Gesetzen. Doch gerade auf diesem schwierigen Feld gibt es Hoffnung. Das Gallup-Institut fragte Frauen und Männer in arabischen Ländern im Alter zwischen 23 und 29 Jahren, wie sie zu folgendem Satz stehen: „Frauen sollten jeder Art von Job außerhalb des Hauses nachgehen können, für den sie qualifiziert sind.“

70 Prozent aller Männer und 82 Porzent aller Frauen sagten, sie befürworteten diese Aussage. Diese Frauen und Männer gehören zu jener Generation, die nun in den Arbeitsmarkt drängt und in den kommenden Jahren zunehmend prägen wird. Wenn diese Menschen in ihrer großen Mehrheit dafür sind, dass Frauen jeder Art von Job nachgehen können sollten, dann bietet das gute Aussichten für zukünftige Karrierefrauen.

Es ist schwer, Einstellungen und Traditionen zu ändern – aber nicht unmöglich. Shadia Jaradat, die palästinensische Karriere-Ingenieurin, hat das erlebt. Sie war eine der ersten Frauen in ihrem Dorf, die aus dem Elternhaus auszog, um in einer anderen Stadt zu studieren. Ihre konservativen Nachbarn, erinnert sie sich, hätten sie einst mit Skepsis beäugt. „Aber dann fuhr ich 2006 zur asiatischen Schachmeisterschaft nach Qatar“, erzählt sie. „Damals gab es in palästinensischen Zeitungen viele Artikel über mich und als ich nach Hause zurückkam, hing mein Bild überall im Dorf. Die Menschen verstehen mich jetzt. Und wenn ich heute nach Hause zurückkomme, dann ist das einzige Gefühl, das mir entgegenschlägt, Stolz.“

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Von Mareike Enghusen, Tel Aviv

Mareike Enghusen berichtet als freie Auslandsreporterin über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Nahen Osten, vor allem aus Israel, Jordanien und den palästinensischen Gebieten. Mehr unter: http://www.mareike-enghusen.de.

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Mareike GraepelHaltern
Die US-Amerikanerin Cindy O’Brien lebt seit den 90er Jahren in Connemara, ganz im Westen von Irland und züchtet seltene Seeschnecken. Die sogenannten japanischen Abalone gedeihen an der irischen Küste gut. Sie gelten als Delikatesse und Aphrodisiakum, kosten bis zu 44 Euro pro Kilo – und sehen aus wie Vulven.

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