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Frauen auf dem Scheiterhaufen
Aufarbeitung des Hexenjagd-Traumas

22. November 2023 | Von Sarah Tekath
Durch die Wiegeprobe, auch Hexenwaage genannt, wurde unzählige Frauen bis ins 18. Jahrhundert der Hexerei angeklagt. Foto: Archiv

Bei der Hexenverfolgung wurden Tausende Menschen getötet, die meisten von ihnen Frauen. Allerdings wird dieser Femizid kaum thematisiert. Nun fordern Aktivist*innen in den Niederlanden eine Aufarbeitung, denn die Stigmatisierung von Frauen als Hexen ist durch Hass auf Politikerinnen und ein intergenerationales Trauma auch heute relevant.

Sarah Tekath, Amsterdam

Vorsichtig stellt sich die Frau auf die schwebende Holzplatte. Gegenüber wird ihr Körpergewicht ausbalanciert. Ist sie zu leicht, kann die Situation für sie lebensbedrohlich werden. Die sogenannte „Hexenwaage“ steht in der niederländischen Stadt Oudewater. Auch wenn es jetzt nur eine Demonstration für die Besucher*innen des zugehörigen Museums ist, in der Vergangenheit ging es an diesem Ort um Leben und Tod.

Die Verfolgung fand zwischen 1430 und 1780 in Europa und in den USA statt. Schätzungen gehen heute von rund 60.000 Opfern aus, der Großteil waren Frauen. Teil des Vorgehens waren systematisch gegen die Angeklagten ausgerichtete Befragungen, Folter oder Tests, die die Opfer als Hexe oder Hexer entlarven sollten.


 

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Eine Ausnahme bildete die erwähnte „Hexenwaage“. Hier hatten die Beschuldigten die Möglichkeit, auf der Waage, die üblicherweise für Handelsgüter genutzt wurde, durch ihr Körpergewicht zu beweisen, dass es sich bei ihnen um keine zu leichten, übernatürlichen Wesen handelte. Nach Angaben der Website des Museums war dies aufgrund der Eichung der Waage die einzige Chance auf einen fairen Prozess.

Keine der Hexerei beschuldigte Person wurde jemals in diesem Gebäude verurteilt. Eine weitere Hexenwaage kann in Freiburg im Breisgau besichtigt werden. Anderenorts in den Niederlanden wurden im Laufe der Jahrhunderte rund 200 der Hexerei angeklagte Frauen getötet. Auf der Website der Stiftung „Nationales Hexenmonument“ sind ihre Namen aufgelistet.

Eine noch erhaltene Hexenwaage im niederländischen Oudewater. | Foto: Heimatverein Suderwick

Weiße Blumen und ein Denkmal    

Die Stiftung, 2023 gegründet von der Theatermacherin Manja Bedner, der Autorin und bekennenden modernen Hexe Susan Smit und der Journalistin Bregje Hofstede, will mehr Aufmerksamkeit erreichen für das Thema Hexenjagd. Außerdem wollen sie auf den damit verbundenen Femizid und die Folgen für spätere Generationen von Frauen hinweisen. Manja Bedner hat sogar ein eigenes Theaterstück produziert über Aleida, die erste Frau in den Niederlanden, die 1472 als Hexe die Todesstrafe erhielt. Susan Smit hat mehrere Bücher zum Thema Hexen veröffentlicht.

„Unsere Initiative ist entstanden, weil dem Thema weder in der Schule noch in der Gesellschaft genug Aufmerksamkeit geschenkt wird“, so Bregje Hofstede. „Die meisten denken bei Hexen nur an die Figur mit Hakennase und Warze aus Märchen und Geschichten. An Massenmord und Femizid denkt niemand.“ Im Juni 2023, dem Monat, in dem eine Essay-Sammlung der Organisation mit Beiträgen zum Thema Hexen erschienen ist, wurden erstmals an mehr als zwanzig Orten in den Niederlanden weiße Blumen für die Opfer der Hexenverfolgung niedergelegt. An der „Hexenwaage“ in Oudewater kamen Menschen zum Gedenken zusammen. Insgesamt nahmen mehr als 800 Personen an den Aktionen teil, unter anderem auf dem Platz vor dem Königlichen Palast in Amsterdam.

Aktuell sammelt die Stiftung Geld von privaten Spender*innen, um ein Hexendenkmal zu errichten. Mehrere Gemeinden hätten bereits Interesse daran bekundet. Welche das sind, will Hofstede allerdings nicht sagen, um den Entscheidungsprozess nicht zu beeinflussen. Es habe aber auch Unverständnis gegeben. „Es war das Argument, was wir oft hören, wenn es um Feminismus geht. ‚Was für ein Unsinn. Das ist kein echtes Problem. Das ist schon Jahrhunderte her.‘“

In Nijmegen legen Menschen weiße Blumen nieder im kollektiven Gedanken an die Opfer der Hexenverfolgung nieder. I Foto: Rinze Heining

Auswirkungen auf nachfolgende Generationen

Allerdings sieht Hofstede die systematische Jagd auf Hexen nicht nur als ein Ereignis einer dunklen Vergangenheit. Sie habe auch heute einen erkennbaren Effekt.

„In ganz Europa wurden Tausende Menschen ermordet. 80 Prozent der Beschuldigten und 85 Prozent der Verurteilten waren Frauen“, so Hofstede. Der Grund dafür sei unter anderem, dass Frauen als einfältiger und beeinflussbarer gesehen wurden als Männer und darum der Verführung durch den Teufel – auch sexuell – leichter erlagen.

Frauen seien als dumm und notgeil angesehen worden. Das mache deutlich wie viel Frauenhass der Hexenverfolgung zugrunde gelegen habe. Außerdem habe die Hexenverbrennung die Einschüchterung von Frauen zur Folge und zum Ziel gehabt. „Bis in das 18. Jahrhundert hinein wurden Frauen trotz völlig haltloser Vorwürfe verbrannt. Das ist ein sehr deutliches Signal an Frauen und Mädchen, was mit ihnen passieren kann, wenn sie nicht das tun, was sie sollen.“ Daraus habe sich ihrer Auffassung nach gar ein intergenerationales Trauma entwickelt.

Eine, die sich in diesem Jahr ebenfalls mit Hexen beschäftigt und bei einer der Gedenkaktionen mit einer Gruppe Blumen niedergelegt hat, ist Jente Posthuma. Ihr Buch „Hexe! Hexe! Hexe!“ ist Anfang 2023 erschienen. Bevor sie anfing, sich mit dem Thema zu beschäftigen, hatte sie selbst ein negatives Bild von Hexen: „Ich dachte an die bekannte Karikatur: eine ältere Frau, ungepflegt und böse.“ Doch dann bekam Posthuma, die zuvor bereits zwei Romane veröffentlicht hat, den Auftrag, Volkssagen neu aufzuschreiben.

Hexen wurden ausnahmslos schlecht dargestellt

„Es hat mich sofort gestört, wie Hexen beschrieben wurden. Es waren Frauen in meinem Alter, damit habe ich mich identifiziert – und diese Figuren wurden ausnahmslos schlecht und sexistisch dargestellt“, entdeckte die 49-Jährige während ihrer Recherche. Also formulierte Posthuma die Erzählungen um. Aus dem ursprünglichen Auftrag ist wegen der modernen Versionen der Sagen nichts geworden, dafür schlug sie die Idee ihrem Verlag vor ­– und bekam die Zusage, ein Buch über Hexen zu schreiben.

Darin zeigt sie jetzt unter anderem die Frauen aus den alten Geschichten in neuer Vielschichtigkeit, als sexuelle Wesen – auch im höheren Alter – mit eigenem Willen und eigenem Charakter. Nach der Veröffentlichung habe sie viele positive Reaktionen – vor allem von Frauen – erhalten. „Eine sagte: ‚Ich wünschte, ich hätte es gelesen, als ich 25 war.‘ Und meine 16-jährige Nichte findet es auch super“, so die Autorin. „Ich hatte dadurch wirklich ein Gefühl von Verbundenheit, von Zusammengehörigkeit unter Frauen.“ Natürlich habe es auch negative Meinungen gegeben, insbesondere von Männern.

Dabei haben die Themen im Buch Posthuma auch persönlich berührt: „Ich habe, so wie viele Frauen, Schwierigkeiten damit, mich zu äußern, aus Angst vor Negativreaktionen. Ich würde nicht unbedingt sagen, dass das jetzt ausschließlich ein Ergebnis der Zeit ist, wo autonome Frauen auf dem Scheiterhaufen gelandet sind, aber es spielt da sicher mit rein.“

Und ihr sei noch etwas anderes klar geworden: Zwar werde das Bild von Hexen heute stark in Verbindung mit Magie gesehen, dabei sei es aber vor allem der Umgang und das Verständnis für die Natur und die Umwelt. Und das sei etwas, das die Welt, gerade in Zeiten des Klimawandels, dringend wiederentdecken müsse. Sie hat sich kürzlich der Umweltorganisation „Extinction Rebellion“ angeschlossen, die Mitte September für mehrere Tage ein Autobahnstück in Den Haag blockierte.

Auch außerhalb der Städte kommen Menschen für die Blumen-Aktion zusammen. I Foto: Jedidja Smalbil
 

„Weg mit der Hexe“

Dass das Wort Hexe für Frauen auch heutzutage gefährlich werden kann, zeigt der Fall der niederländischen Politikerin Sigrid Kaag der linksliberalen Partei D66. Anfang 2023 wurde die Finanzministerin und stellvertretende Ministerpräsidentin in der Stadt Diepenheim im Osten des Landes, wo sie zu einer Talkshow eingeladen war, von rund 20 Bauern, Bäuerinnen und Querdenker*innen umringt. Einige der Personen trugen brennende Fackeln. Tags darauf erklärte die Politikerin in einem Fernsehinterview, sich dadurch an die Zeit des Mittelalters oder den Ku-Klux-Klan erinnert gefühlt zu haben.  

Auch in den Sozialen Medien ist Kaag wiederholt der Bezeichnung als Hexe ausgesetzt. Zahlreiche Tweets mit #kaagmoetweg, zu Deutsch „Kaag muss weg“, enthalten auch den Satz ‚Weg mit der Hexe‘. Gegnerische Politiker*innen griffen dies auf, wie zum Beispiel der rechte Politiker Geert Wilders. So zeigte er im Dezember 2021 ein Video auf seinem TikTok-Kanal mit Weihnachtsmusik, in dem er eine Grußkarte schrieb: „Liebe Sigrid Kaag, flieg vorsichtig.“ Dazu ein Besen als Geschenk.

„Wir sehen, dass das Schimpfwort Hexe heute noch verwendet wird, um mündige Frauen – im metaphorischen Sinn – einen Kopf kürzer zu machen“, so Bregje Hofstede. Die Politikerin habe ihres Wissens sogar vermehrt Bilder mit Scheiterhaufen erhalten. Die Bezeichnung als Hexe erlebten viele Politikerinnen, erklärt sie. So sei zum Beispiel Hillary Clinton im US-Wahlkampf als „The Wicked Witchof the Left” bezeichnet worden. Auch kursierte ein Meme von Clinton als Hexe von Oz.

Aktuell stehen T-Shirts mit dem Aufdruck ‚The Wicked Witchof the Left‘ und einem Cartoon von Hillary Clinton daneben bei einem bekannten Online-Händler zum Verkauf. Posthuma sieht in diesem Fall besonders die Ablehnung von älteren Frauen. Sigrid Kaag ist 61 Jahre alt. „Frauen werden noch immer nach ihrem Äußeren beurteilt. Ältere Frauen, die nicht mehr als attraktiv angesehen werden, sollten nicht zu sichtbar sein. Die Frauen, die es aber doch wagen, werden schnell als Hexen beschimpft.“

Im Juli 2023 gab Kaag ihren Rücktritt bekannt, als Gründe nannte sie, dass sie der Effekt von Hass, Einschüchterungsversuchen und Bedrohungen auf ihre Familie zu groß geworden sei. Ihr Rücktritt wurde anschließend auf Twitter mit #Hexit, ein Wortspiel von Hexe und Exit, gefeiert. Diese Fälle zeigen laut Hofstede und Posthuma, wie viel in Sachen Aufklärung zum Thema Hexenverfolgung noch getan werden muss. Für die Aufarbeitung von historischem Unrecht, aber auch für das Bewusstsein, dass der Schaden dieser Menschenjagd heute noch nachwirkt.

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Von Sarah Tekath, Amsterdam

Sarah Tekath kommt ursprünglich aus dem Ruhrgebiet, hat in Prag gelebt und schrieb dort als Freie für die Prager Zeitung und das Landesecho. Im Jahr 2014 zog sie nach Amsterdam, wo sie unter anderem für das journalistische Start-up Blendle arbeitete. Seit 2016 ist sie selbständige Journalistin und hat sich in den vergangenen Jahren vor allem auf die Produktion von Podcasts spezialisiert.

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