Beatriz Bataszew wurde während der chilenischen Militärdiktatur in den 70er Jahren brutal gefoltert und vergewaltigt, um Informationen aus ihr herauszubekommen. Sogar einen Schäferhund haben die Täter dabei eingesetzt. Keiner wurde dafür jemals verurteilt. Und auch heute existiert noch immer eine erschreckende politische sexuelle Gewalt im Land.
Von Sophia Boddenberg, Santiago de Chile
Calle Irán, Hausnummer 3037, Santiago de Chile. Es ist der Ort, an dem Beatriz Bataszew gefoltert und vergewaltigt wurde. Sie kommt mit dem Auto. Der kleine Chevrolet ist so feuerrot wie ihre gefärbten Haare. Am Ansatz wachsen sie weiß nach. Falten zeichnen ihr Gesicht, sie ist 63 Jahre alt. Es ist ein grauer Tag im Mai und es regnet in Strömen.
An einem ebenso grauen Tag im Jahr 1973, dem 11. September um genau zu sein, um 11.55 Uhr bombardieren Kampfjets der chilenischen Luftwaffe den Präsidentenpalast La Moneda. Putsch-Militär stürmt den Palast. Der drei Jahre zuvor demokratisch gewählte sozialistische Präsident Salvador Allende nimmt sich das Leben. Eine Militär-Junta unter der Führung von General Augusto Pinochet regiert daraufhin das Land als Militärdiktatur bis zum Jahr 1990. „Es war ein furchtbarer Tag“, erinnert sich Beatriz. „Danach wurde alles grau“, sagt sie, während sie im Auto sitzt und aus dem Fenster schaut.
Mitglieder und Sympathisanten von Allendes Regierung, von Linksparteien und Gewerkschaften werden in den folgenden Jahren verfolgt, verhaftet und gefoltert. Öffentliche Gebäude wie Stadien, Konferenzhallen und Schulen werden zu Konzentrationslagern und Folterzentren umgerüstet. So auch das Haus mit der Nummer 3037 in der Calle Irán. Es ist bekannt unter dem Namen „Venda Sexy“ oder „La Discotéque“. „Venda“ heißt Augenbinde und soll darauf hindeuten, dass die Verhafteten mit verbundenen Augen in das Haus kommen und sexuell missbraucht werden. „La Discotéque“, weil immer laute Musik läuft, um die Schreie aus dem Folterkeller zu übertönen.
Beatriz Bataszew wird am 12. Dezember 1974 in die „Venda Sexy“ gebracht. An jenem Tag will sie sich mit einem Freund treffen. Sie ist 20 Jahre alt, Studentin und Mitglied der Bewegung der revolutionären Linken: „Movimiento de Izquierda Revolucionario“, abgekürzt MIR. Alle MIR-Mitglieder werden von der chilenischen Geheimpolizei beobachtet und verfolgt. Sie sind die Feinde der Militärregierung Pinochets. Deshalb haben sie geheime Treffpunkte. Wenn jemand zum ersten und zweiten Treffpunkt nicht erscheint, bedeutet das, dass er in Gefahr ist.
„Mein Freund war an diesem Tag nicht erschienen. Ich wusste, dass es gefährlich war, aber ich bin trotzdem zum dritten Punkt gegangen“, erzählt sie. Als sie ihren Freund sieht, kann er kaum laufen und atmen, denn seine Rippen sind gebrochen. Er ist noch fünf Meter von ihr entfernt, als plötzlich beide von Chevrolets umkreist werden. Jemand packt Beatriz, klebt ihr die Augen mit Klebeband zu und setzt ihr eine dunkle Sonnenbrille auf. „Mein Freund war zu diesem Zeitpunkt bereits in Haft und gefoltert worden. Sie hatten ihn zu unserem Treffpunkt gebracht, um mich zu finden“, erklärt sie.
Sie weiß zunächst nicht, dass sie in die „Venda Sexy“ gebracht wird. Sie spürt, wie sie jemand aus dem Auto zerrt, eine Tür öffnet und sie in ein Haus bringt. Sie wird von ihrem Freund getrennt. Im Wohnzimmer des Hauses nimmt ihr jemand das Klebeband und die Sonnenbrille ab, legt ihr eine Augenbinde um und bringt sie in den Folterkeller.
Die Tage in der „Venda Sexy“ waren die schlimmsten ihres Lebens
Heute, mehr als 40 Jahre später, zündet sich Beatriz Bataszew eine Zigarette an, während sie von den schlimmsten Tagen ihres Lebens erzählt. Wenn sie am Filter angelangt ist, holt sie schon die nächste aus der Packung. Zwischendurch muss sie den vollen Aschenbecher des Autos entleeren. „Aus Selbstschutz erzähle ich diesen Teil nicht in Details. Aber ich unterscheide zwischen zwei Dingen: Folter und politischer sexueller Gewalt. Die Folter hat mit der physischen Gewalt zu tun wie Schlägen zum Beispiel. Die politische sexuelle Gewalt hat mit der Verletzung unserer körperlichen und sexuellen Integrität zu tun aus dem Grund, dass wir Frauen sind. Da ist die Vergewaltigung, die Einführung von Gegenständen oder der Missbrauch mit Tieren. Hier gab es ein Tier, das darauf trainiert wurde, Frauen zu vergewaltigen“, sagt Beatriz mit ihrer rauchigen Stimme und macht eine Pause.
Das Tier, von dem sie spricht, war ein deutscher Schäferhund namens Volodia. Seine Trainerin war Ingrid Olderock, von den Gefangenen auch die Hundefrau genannt. Sie war die Tochter von deutschen Einwanderern mit nationalsozialistischem Hintergrund. 1981 überlebte sie ein Attentat von MIR-Mitgliedern. Im Jahr 2001 starb sie – ungestraft – eines natürlichen Todes. „Diese Frau war eine Tochter des Patriarchats. Sie wollte genauso grausam sein wie die Männer, um Ansehen von ihnen zu erhalten. Ich wurde auch von dem Hund vergewaltigt, aber ich konnte sie nie persönlich identifizieren, andere Frauen schon“, sagt Beatriz Bataszew.
So zum Beispiel Andrea Holzapfel, eine ihrer besten Freundinnen. Auch sie war MIR-Mitglied und kam im Alter von 21 Jahren, einen Tag nach Beatriz, in die „Venda Sexy“. Sie war Studentin der Tiermedizin, ein Studium, das sie danach nie wieder aufnehmen wollte. Fast alle Gefangenen wurden von dem Hund penetriert. Hauptsächlich Frauen, aber auch Männer. Etwa ein Drittel der Gefangenen in der „Venda Sexy“ waren Frauen. Das war ein verhältnismäßig hoher Anteil, da generell mehr Männer als Frauen verhaftet wurden.
Als die Frauen merkten, dass die Soldaten sie seltener vergewaltigen, wenn sie ihre Menstruation hatten, entwickelten sie eine Strategie: Diejenige, die gerade ihre Tage hatte, hinterließ ein Tuch mit Blut im Badezimmer und die nächste legte es sich in die Unterhose. Die Frauen wurden unter Folter und Vergewaltigung ausgefragt. Sie sollten die Namen von anderen MIR-Mitgliedern nennen – und damit von ihren Freunden und Freundinnen. Aber Beatriz und Andrea schwiegen.
„Wir Frauen mussten bestraft werden, weil wir uns dazu entschieden hatten, politisch aktiv zu sein und in der Öffentlichkeit aufzutreten. Sie wollten uns zurück in den privaten Raum manövrieren, dorthin, wo man sich um den Haushalt und die Kinder kümmert. Wir waren kämpferische Frauen mit politischen Meinungen zum Aufbau des Sozialismus“, erklärt Beatriz Bataszew.
Die politische sexuelle Gewalt bestehe genau darin, dass politisch aktive Frauen von Vertretern des Staates wie Polizisten oder Soldaten sexuell gedemütigt würden, um sie zu brechen. Dass das auch offiziell anerkannt wird, dafür kämpfen die Frauen bis heute. „Wir wollen darauf aufmerksam machen, dass es sich bei uns nicht um irgendeine Form von Gewalt handelt, sondern um politische sexuelle Gewalt. Da geht es um Macht, die unseren weiblichen Körpern aufgedrängt wurde. Das müssen wir beim Namen nennen.“
Tausende Gefangene verschwanden spurlos
Ungefähr 85 Frauen und Männer wurden in der „Venda Sexy“ gefoltert und missbraucht. Die Zahl ist eine Schätzung, denn viele wissen nicht, ob sie tatsächlich dort waren, da sie fast immer die Augen verbunden hatten. Die meisten von ihnen waren Freunde und Freundinnen von Beatriz und Mitglieder des MIR. Auch ihr fester Freund Dagoberto San Martín war dort gefangen. Sie hat ihn danach nie wieder gesehen. Er verschwand, wie mehr als tausend andere Gefangene der chilenischen Militärdiktatur, spurlos. Man nennt sie die „detenidos desaparecidos“.
Beatriz Bataszew war sechs Tage in der „Venda Sexy“, danach kam sie in das Konzentrationslager „Tres Álamos“, wo sie ungefähr ein Jahr lang gefangen war. „Auch, wenn es schwierig ist, das zu sagen und trotz des Schmerzes, den ich erlebt habe als ich gefoltert und vergewaltigt wurde, hat die Erfahrung in Tres Álamos uns Frauen gestärkt. Wir haben dort etwas erschaffen, das dem Sozialismus ganz ähnlich war. Wir haben an die Zukunft gedacht, wir waren solidarisch und gerecht untereinander wie Schwestern. Wir haben uns unterstützt in jeder Hinsicht“, erinnert sie sich. 1976 wurde das Konzentrationslager auf internationalen Druck hin aufgelöst und Beatriz ging mit ihren Eltern nach Frankreich ins Exil. Dort blieb sie jedoch nur sechs Monate und kehrte dann nach Chile zurück, um weiter zu kämpfen.
Mehr als 30.000 Menschen wurden während der 17 Jahre andauernden Militärdiktatur festgenommen und gefoltert. Mehr als 3.000 von ihnen wurden getötet. Ex-Präsident Ricargo Lagos veröffentlichte 2004 einen 700-seitigen Folterbericht, der sich auf die Aussagen von tausenden politischen Häftlingen und Folteropfern stützt und die brutalen Foltermethoden anschaulich rekonstruiert. Auch die aktuelle Präsidentin Michelle Bachelet bemüht sich um die Aufarbeitung der blutigen Epoche, um den Vorhang des langen Schweigens zu lüften. Aber mehr als 25 Jahre nach Ende der Diktatur sind noch immer viele Täter auf freiem Fuß.
Amnestiegesetze aus der Pinochet-Zeit, die weitgehend Straffreiheit garantieren, verhinderten lange die Verurteilung. Konservative Politiker wehren sich bis heute gegen die Aufklärung der Taten, denn noch immer gibt es zahlreiche Pinochet-Anhänger. Da die sexuelle politische Gewalt bis heute von der chilenischen Regierung nicht als solche anerkannt wird, kann auch niemand deswegen verurteilt werden.
Politische sexuelle Gewalt existiert bis heute
Einige Frauen, die die Folter und sexuelle Gewalt überlebt haben, gründeten 2013 ein Kollektiv mit dem Namen „Frauen, die überlebt haben und Widerstand leisten“. Unter den 15 Mitgliedern sind einige Überlebende der Diktatur, aber auch junge Frauen. „Eines der fundamentalen Elemente des Kollektivs ist zu verstehen, dass wir Frauen Erbinnen des Kampfs anderer Frauen sind, wie zum Beispiel der Kampf für das Wahlrecht. Deswegen müssen wir die politische sexuelle Gewalt sichtbar machen. Denn sie existiert auch noch heute. Jedes Mal, wenn eine junge kämpferische Frau der Studentenbewegung verhaftet wird, ausgezogen wird und die Polizisten ihre Penisse über ihren nackten Körper streichen, dann ist das politische sexuelle Gewalt. Und das passiert. Das ist eine Politik des Staates, der systematisch gegen Frauen vorgeht, die einen strukturellen sozialen Wandel wollen“, so Beatriz Bataszew.
In dem Haus mit der Nummer 3037 in der Calle Irán wohnt heute eine Familie. „Ich muss aufpassen. Wenn der Besitzer mich sieht, könnte er wütend werden“, sagt Beatriz. Mit dem Kollektiv wollen die Frauen seit Jahren das Haus als Erinnerungsort zurückgewinnen. Der chilenische Staat hatte dem Besitzer fast 700.000 Euro für das Haus angeboten, um es den überlebenden Frauen zu übergeben, aber der Besitzer lehnte ab. Er wollte mehr Geld. Dann wollte der Staat ein Treffen mit den Frauen organisieren, aber sie lehnten ab. „Wir sind doch keine Immobilienmaklerinnen, die über den Preis eines Folterzentrums diskutieren und spekulieren“, sagt Beatriz Bataszew aufgebracht.
Derzeit gibt es Verhandlungen zwischen dem Staat und den Organisationen der ehemaligen politischen Gefangenen der Militärdiktatur, um über Gerechtigkeit, Wahrheit und Wiedergutmachung zu diskutieren. Die Opfer fordern die Verhaftung der Täter, Schmerzensgeldzahlungen an die Opfer und eine würdevolle Rente. Doch die Frauen der „Venda Sexy“ wurden nicht eingeladen. „Die politische sexuelle Gewalt wird in Chile nicht anerkannt. Das wird als eine Art Kollateralschaden betrachtet“, sagt sie und lacht ein bitteres, raues Lachen.
Viele Frauen, die in der „Venda Sexy“ gefoltert und sexuell missbraucht wurden, sind ihr Leben lang traumatisiert. Andrea Holzapfel konnte jahrelang keine körperliche Zuneigung und keine Tiere in ihrer Umgebung ertragen. Denn jeder Kuss und jeder Hund brachte sie in Gedanken zurück in den Folterkeller. „Ich hatte das Glück, kurz nach meiner Freilassung jemanden kennenzulernen – den Feminismus“, sagt Beatriz Bataszew. „Und der hat mir erlaubt, alle meine Schmerzen in den öffentlichen Raum und in die Politik zu bringen und sie in eine Aktion gegen das Patriarchat und seine Gewalt umzuwandeln. Das hat mich geheilt.“