Bei der Revolution in Tunesien 2011 protestierte sie zum ersten Mal und riskierte damit ihren Schulabschluss. Zehn Jahre später steht noch immer ein Megafon im Zimmer von Roula Seghaier. Im Libanon protestiert sie damit für Gleichberechtigung und hat sich dem Kampf mit ganzem Herzen verschrieben.
Von Julia Neumann, Beirut
Am Abend des Rücktritts des Regierungschefs Hariri im Libanon läuft Roula Seghaier mit einem Megafon in der Beiruter Innenstadt auf den Märtyrerplatz. Sie brüllt in das Mikro am Verstärker: „Wir sind die Revolution der Leute, ihr seid nur Diebe!“ Pia Maria el Dabbak schlägt auf eine große Trommel, hinter ihnen eine Reihe junger Männer und viele Frauen, die Roula Seghaiers Sprüche nachrufen. Seghaier ist groß, sie wirkt selbstsicher, für Außenstehende vielleicht sogar einschüchternd mit der Energie, die sie ausstrahlt; wie sie bestimmt die Faust reckt.
Das war am 29. Oktober 2019. Aber Hariri ist mittlerweile wieder auf seinem Posten. Seghaiers Megafon steht noch immer auf dem Regal in ihrem Zimmer – bereit für die nächste Demo. Wann die sein wird, ist unbestimmt: Im Libanon herrscht eine strikte Ausgangssperre rund um die Uhr, um die Corona-Krise in den Griff zu bekommen. Für Seghaier ist der politische Stillstand besonders hart. In den Zeiten vor Corona war sie unzählige Male auf der Straße.
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Die 29-Jährige ist Mitglied einer feministischen Kooperative, protestierte jedes Jahr am Tag der Arbeit oder am internationalen Weltfrauentag. Bald naht der 8. März, doch der Straßenzug muss wegen Corona ausfallen. Deshalb sitzt sie diese Tage viel vor ihrem Laptop – für die Arbeit in Online-Meetings, aber auch, um mit feministischen Gruppen und anti-rassistischen Initiativen zu kommunizieren oder als Sprecherin in virtuellen Diskussionsrunden.
Die Lösung heißt: Solidarität
Vor einem Jahr nahm sie das Megafon regelmäßig mit auf die Straße. Für die Massenproteste, die im Oktober 2019 begonnen haben, entwarf sie mit einer Freundin Schlachtrufe. „Wir haben überlegt, was uns bei den Forderungen fehlt“, erzählt sie. So erweiterten Seghaier und ihre feministischen Freund*innen die Parolen und wiesen auf die Rechte von Geflüchteten oder ausländischen Arbeiter*innen hin.
„Wir versuchen die Stimmen derer, die normalerweise nicht beachtet werden, öffentlich hörbar zu machen“, sagt sie. Ihre Kommentare im Gespräch über politisch blinde Flecken sind pointiert. Feminismus heißt für sie, nicht nur für Frauenrechte einzustehen, sondern für die Rechte aller. Solidarität war der Grund für ihren ersten Protest – dafür hat sie sogar ihren Schulabschluss riskiert. Im Januar 2011 lebte die damals 18-Jährige in der tunesischen Hafenstadt Sousse – der Stadt, aus der die Präsidentenfamilie stammt.
„Ich war sehr frustriert: Wie kommt es, dass wir zur Schule gehen, wenn das ganze Land revoltiert? Und wir tun so, als ob wir auf einem anderen Planeten lebten?“, erzählt sie. „Also kaufte ich einen Lautsprecher und dachte, vielleicht können wir einfach vor der Schule protestieren.“ Bestärkt davon, dass einige ihrer Freund*innen aus der linken Untergrund-Studentenbewegung mitmachen wollten, trafen sie sich um zehn Uhr morgens auf dem Schulgelände.
Seghaier brachte das Megafon mit, doch die anderen kniffen. Sie hatten zu viel zu verlieren, denn der Schuldirektor und alle Beamten der Schule gehörten dem Regime an. „Sie hatten große Angst, dass wir von der Schule fliegen und unseren Abschluss nicht machen könnten.“ Die Aktivistin berichtet davon, dass sie frustriert davon war, dass es keine Solidarität gab.Also schmiedete sie einen Plan: Sie zog weiter an die Nachbarschule. „Ich dachte: An der anderen Schule sind Menschen, die aufgrund von Armut und strukturellen Barrieren lieber einen Handwerksberuf erlernen.“
Also demonstrierte Seghaier vor der Fachschule – mit deren Schüler*innen. „Die Zivilpolizei wusste natürlich, dass ich nicht von dieser Schule war und machte mich als Aufwieglerin von außen aus.“ Ihr Direktor wurde informiert, sie hätte bestraft werden sollen, weil sie zur Unruhe angestachelt hatte, doch am nächsten Tag schlossen die Schulen: Die Behörden hatten Angst vor mehr Aufständen, wie es sie im ganzen Land gab.
Für Seghaier war dies der Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab. In den folgenden zwei Wochen fuhr sie regelmäßig in die Hauptstadt Tunis, um dort auf die Straße zu gehen. Am 14. August 2011 floh der tunesische Präsident mit seiner Familie nach Saudi-Arabien, der regimetreue Schuldirektor verlor sein Amt und die Schulen öffneten wieder – auf einmal war Seghaier an ihrer Schule bekannt als die Frau mit dem Megafon.
Eine intersektionale Feministin
Ihre Mutter ist Russin, ihr Vater Tunesier. Seghaier verbrachte die ersten sieben Jahre ihres Lebens in Russland mit ihrer Großmutter, dann lebte sie mit ihren Eltern in Tunesien. Im August 2011 bekam sie ein Stipendium und zog in den Libanon. Sie studierte Politikwissenschaft, Transnationale Gerechtigkeit und Menschenrechte an der Amerikanischen Universität in Beirut. Bis heute ist sie in der Stadt geblieben – nicht obwohl, sondern weil sie den Libanon als ungerechtes Land sieht.
Damals war das anders: „Ich hatte diese romantische Vorstellung vom Libanon als ein Land, aus dem viele Menschen, die politische Bewegungen auslösten und deren Arbeit ich schätze, kamen.“ Doch das verflog schnell. „Als ich zum ersten Mal am Flughafen in Beirut ankam, stiegen dort auch viele äthiopische Frauen aus einem Flugzeug, das aus Adis Addaba kam. Ich sah, wie die Sicherheitsbeamten ihnen die Reisepässe abnahmen, sie alle in einen kleinen Raum brachten und nicht mal auf die Toilette ließen. Das hat mich so entsetzt. Ich landete in einem Land, in dem Menschen zum Arbeiten einreisen und so schrecklich behandelt werden.“
So startete sie 2012 eine „Task Force“ für ausländische Arbeiter*innen: Mit anderen Freiwilligen lehrte sie Englisch oder gab Computerunterricht. Mittlerweile arbeitet Seghaier für einen Verband, der sich für die Rechte ausländischer Arbeitnehmerinnen auf der ganzen Welt einsetzt.
Die Vision von Gerechtigkeit
Als die Massenproteste im Libanon losgingen, war Seghaier euphorisch: Endlich zahlte sich die politische Arbeit aus, denn die feministische Kooperative hatte in den vergangenen Jahren regelmäßig Demonstrationen organisiert. Doch noch nie waren so viele Menschen auf den Straßen, um einen politischen Wandel zu fordern. Eines Tages wurde Seghaier von der Polizei verhört. „Ich wurde wegen des Blockierens von Straßen, Organisierens von Treffen und Gewaltanstiftung vorgeladen. Letztendlich ging es aber darum, dass ich Ausländerin bin.“
Schon wieder wurde sie als Aufwieglerin von außen diffamiert. „Der Typ sagte: ‚Wenn du es hier nicht magst, dann geh doch!‘ Aber ich habe ihm geantwortet: ‚Du zahlst Steuern, oder? Ich auch. In deinem Haus fällt regelmäßig der Strom aus? In meinem Haus auch.‘ Natürlich gehe ich aus Solidarität auf die Straße. Und nicht nur das: Es geht um die Vision von Gerechtigkeit.“
Die 26-jährige Pia Maria el Dabbak ist Trommlerin im feministischen Kollektiv. Sie erinnert sich daran, dass ihre Mitstreiterinnen viel Angst um Seghaier hatten: „Sie war bereit, lieber deportiert zu werden, als ein illegales Papier zu unterschreiben, dass sie an keinem Protest mehr teilnimmt. Das hat unsere Herzen gebrochen, aber wir haben verstanden, dass es ihr wichtig ist, für ihre Überzeugungen einzustehen.“ Weil sie Angst hatte, ausgewiesen zu werden, gab Seghaier Interviews zuvor nur anonym. Doch weil sie nicht bestraft wurde, redet sie nun offen und nutzt die Medien für ihre Anliegen.
Beim arabischen Sender Al-Jazeera sprach sie über systematischen Rassismus in libanesischen Behörden, auf einer emiratischen Nachrichtenseite empörte sie sich über die korrupte Regierung, ARTE gab sie ein Interview anlässlich des 10. Jahrestags der tunesischen Revolution. Als sie im September 2020 mit ihrem Laptop in einem Café saß und sich einen Kaffee holte, fand sie danach ein anonymes Post-it auf dem Rechner. Darauf stand: „Bravo und danke für all deinen beachtlichen Aktivismus. Ich sehe dich manchmal im Fernsehen protestieren und ich liebe es.“
Wut hilft bei den Protesten
Das heißt, Seghaier ist keine Unbekannte mehr. „Meine Eltern sind ängstlich und denken, dass ich mich in Schwierigkeiten bringe. Sie denken, dass Probleme, die mich nicht direkt betreffen, nicht meine Angelegenheit sind. Aber ich habe genügend Unabhängigkeit und Eigenverantwortung, sodass ich mir die Sichtbarkeit leisten kann. Und ich weiß, dass sie insgeheim stolz auf mich sind – mit anderen Menschen reden sie nämlich gut über mich.“
Die 29-Jährige ist leidenschaftlich und neugierig. Sie mag es, herausgefordert zu werden. Mia el Dabbak beschreibt sie als die „süßeste Person, kritisch, verzeihend, freundlich und warmherzig, sicher und frei von Urteilen; bereit, Arbeit zu leisten und immer die Frau zu würdigen, von der sie gelernt hat.“ Als Dabbak das Kollektiv kennenlernte, erklärte ihr Seghaier geduldig, was Respektabilitätspolitik bedeutet.
„Sie teilt immer ihr Wissen. Selbst wenn jemand etwas Schädliches tut oder unfreundlich ist, würde sie sich zurücklehnen und versuchen, herauszufinden, woher das kommt.“ Sie habe sich voll und ganz dem Kampf gegen Ungerechtigkeit gewidmet. „Rund um die Uhr! Sie boykottiert sogar Produkte, an die sie nicht glaubt. Es ist schwer, ein Geschenk für sie zu finden, denn sie lebt minimalistisch und ist gegen den Konsum.“
Doch der Schein der eisernen Kämpferin trügt. „Wenn du mich auf der Straße bei Protesten siehst, dann entsteht der falsche Eindruck, dass ich couragiert bin“, sagt Seghaier. „Aber ich kann das Gefühl der Machtlosigkeit nicht ertragen. Ich werde oft daran erinnert, wie wenig Raum wir für unsere Erfahrungen und Stimmen bekommen und das macht mich wütend. Diese Wut hilft mir, mich mit anderen zu vernetzen und zu organisieren. Sie hilft mir, Raum einzufordern, in dem ich mich auszudrücken kann.“
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