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„Es ist eine Chance“
Wie geht es den Hinterbliebenen von Flüchtlingen in Afghanistan?

17. September 2015 | Von Veronika Eschbacher
Viele afghanische Mütter machen sich große Sorgen um ihre Söhne, die Richtung Westen geflohen sind. Fotos: Veronika Eschbacher

Zahlreiche afghanische Mütter warten sorgenvoll auf Nachrichten von ihren Söhnen, die in den vergangenen Wochen und Monaten nach Europa geflüchtet sind. Sind sie einmal angekommen, so tröstet die meisten die Hoffnung, dass ihnen ein besseres Leben bevorsteht.

Von Veronika Eschbacher, Kabul

Maryam sitzt still in ihrem kargen Wohnzimmer, etwas abseits, gleich neben der Tür. Der rote Teppich mit dem grauen, orientalischen Muster – einziges Schmuckstück des einfachen Hauses am Rande von Kabul – ist blitzsauber gekehrt. Kein Reiskorn oder Brotkrümel ist zu entdecken. Die Afghanin schenkt aus einer vergilbten Plastikkanne Tee ein und schiebt ihrem Sohn Yunus, der auf einem der blitzblauen Sitzkissen im Raum Platz genommen hat, einen Glasteller gefüllt mit getrockneten Maulbeeren und Rosinen zu.

Zwei ihrer Enkelkinder lugen neugierig hinter der Tür hervor, um sich einen Moment später scheu hinter ihrer maadar kalaan, ihrer Großmutter, zu verstecken. „Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen“, sagt die 52-Jährige als alle mit Tee versorgt sind. Fast zwei Monate lang habe sie ständige Ungewissheit geplagt. Doch dann war endlich die erlösende Nachricht gekommen: Ihr zweitältester Sohn Ahmad habe es geschafft, er sei in Deutschland angelangt.

Genaue Details der Flucht kennt die sechsfache Mutter noch nicht. Klar sei bisher einzig die Endstation: Der 25-jährige Sohn Ahmad ist nun in einem Flüchtlingslager bei Gießen. Die Familie hat, erzählt Maryam mit ruhiger Stimme, ihren zweitältesten Sohn vor allem aus wirtschaftlichen Gründen weggeschickt. „In Afghanistan ist das Leben schwer, es gibt keine Arbeit und viele andere Probleme“, sagt sie. Heute ein reguläres Einkommen zu finden, sei äußerst schwierig. Und überhaupt habe das Land die vergangenen vier Dekaden kein einziges einfaches Jahr gesehen.

Daher sei oft das Erste, an das die Familien in der Nachbarschaft, die auch ein Kind Richtung Europa geschickt haben, denken, wie bald der Sohn Geld in die Heimat schicken könne. Immerhin würde auch bei jeder Hochzeitsfeier von Familien erzählt, deren Kinder oder Geschwister im Ausland leben und die von diesen ständig unterstützt würden.

Maryam sei da aber realistischer, sagt sie. Nicht zuletzt, da sie bereits Erfahrung hat: Ihr ältester Sohn, heute 33, war schon einmal für sieben Jahre in Deutschland. Er wurde aber nie als Flüchtling anerkannt, und vor fünf Jahren schließlich abgeschoben. In den ganzen Jahren hatte er nie offiziell arbeiten dürfen – so war ihm nichts geblieben, als seine Sozialhilfecoupons zu verkaufen und von dieser bescheidenen Summe die Hälfte seiner Familie zu senden. Auf schnelle und signifikante Hilfe zählen Maryam und ihre Familie also nicht. „Es wird mindestens ein, zwei Jahre dauern bis Ahmad uns finanziell unterstützen kann,“ sagt die Mutter, „aber es ist eine Chance.“

Viele afghanische Mütter machen sich Sorgen

Ähnlich wie Maryam sitzen heute zahlreiche afghanische Mütter am Hindukusch, in Sorge um ihre Söhne, aber auch voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft für sich und ihre Kinder außerhalb des vom Krieg und Terror geschundenen Landes. Die Zahl der Flüchtlinge aus Afghanistan ist in diesem Jahr massiv angestiegen.

Die Gründe dafür sind unterschiedlich: erstens Armut, zweitens die sich verschlechternde Sicherheitslage nach dem Abzug der internationalen Truppen, drittens das Fehlen adäquater Arbeitsplätze und Bildungsmöglichkeiten. Genauso vielfältig wie die Fluchtgründe sind die Erwartungen der zurückgebliebenen Familien, und wie es ihnen nun ohne ihre Söhne und Brüder – in praktisch allen Fällen fliehen junge Männer aus Afghanistan – geht.

Seit sie die Nachricht erreichte, dass Ahmad in Deutschland angelangt ist, sei endlich auch wieder etwas Hoffnung in ihr Haus eingezogen, erzählt Maryam. Ahmad selbst war drei Jahre durchgehend arbeitslos. Bruder Yunus, Tagelöhner, erzählt er habe über das ganze Jahr gerechnet vielleicht drei Monate Arbeit.

Hinterbliebene Töchter, Schwestern und Ehefrauen hoffen auf eine bessere Zukunft in Europa.

Der Druck, die große Familie zu ernähren, setze ihm sehr zu: „Meine Kinder müssen doch essen und ich will sie auf die Schule schicken.“ Oft habe es wegen des Geldes Streit zwischen den Brüdern gegeben. Auch wenn Ahmad noch nicht gleich helfen kann, fühlt Yunus sich bereits ein wenig entlastet. „Wir schlagen damit zwei Fliegen mit einer Klappe,“ so Maryam, „das Leben von Ahmad wird besser, und unseres auch.“

Viele junge Männer machen sich auf den Weg nach Europa

Gleich wie Maryam und ihre Familie ist auch Malika erleichtert. Ihr 15-jähriger Sohn ist vor zehn Tagen im schwedischen Malmö angekommen. Davor hatte Adschmal das Haus mehr als ein Jahr praktisch nicht mehr verlassen, sei nur in einem der zwei Zimmer gesessen. „Er hatte große Angst“, erinnert sich Malika. Sein Vater ist politischer Aktivist und versucht, Verbrechen islamistischer Gruppierungen aufzuklären.

„Er hat meinen Mann immer wieder gebeten, nicht über die Taliban im Fernsehen zu sprechen“, sagt Malika. „Der aber hat kein Verständnis dafür, erklärte ihm: Wenn sie jemanden erschießen, dann doch mich – nicht dich.“ Beruhigt habe das den Sohn nicht. Sie habe ihn zu einem Psychiater geschickt, der ihm aber nur jede Menge Medikamente verschrieb. Geholfen hätten diese nicht. Schließlich konnte Malika den Bruder ihres Mannes überzeugen, dass es – trotz der Gefahren auf der Flucht – besser wäre, den Jungen nach Europa zu schicken.

Seit er in Schweden angekommen ist, ruft Adschmal oft an. „Er hat großes Heimweh“, erzählt Malika. Das setze ihr als Mutter sehr zu. Malika denkt trotzdem bereits daran, ihren zweiten Sohn, der bald 15 wird, auch auf die Reise zu schicken. „Noch in diesem Jahr, wenn es sich finanziell ausgeht“, sagt sie. Sie wünsche sich sehr, dass ihre Kinder in einer sicheren Umgebung aufwachsen können. Der Gedanke tröste sie und wiege jede Sehnsucht nach ihrem Sohn, die regelmäßig aufkommt, auf.

Ihr Mann sei von der Idee, noch ein Kind aus dem Land zu schicken, aber noch nicht überzeugt. Er finde, seine Familie sei nicht besser als andere Afghanen, die es sich nicht leisten könnten, zu fliehen. „Für ihn ist es, als würden nach den Jahren des Aufbaus seit dem Fall der Taliban nun plötzlich alle das Handtuch werfen und bisher gehegte Träume an eine Zukunft hier, in unserer Heimat, platzen.“

Auch in der afghanischen Zivilgesellschaft und Politik regt sich Unmut darüber, dass vor allem gebildete Jungen fliehen, denn von den schlauesten Köpfen der Familie erwartet man sich, dass sie im Ausland erfolgreich sein können. Erst am vergangenen Dienstag appellierte das afghanische Oberhaus an die Regierung, den Exodus zu stoppen.

Nicht alle schaffen es ans Ziel

Von geplatzten Träumen weiß auch Freshta Hashemi zu berichten. „28 Tage lang habe ich täglich auf eine Nachricht von meinem Sohn Barmaschal gewartet,“ so Freshta, „ich habe in der Zeit kein Auge zugemacht vor Sorge, man weiß doch um die Gefahren der Flucht.“ Nach knapp einem Monat kehrte Barmaschal wieder – in Handschellen – nach Hause zurück .

Der Lkw, in dem er mit 50 anderen bereits zwei Tage und Nächte durchgehend in die Türkei unterwegs waren, war von türkischen Polizisten an der Grenze gestoppt worden. Der 26-Jährige wurde von iranischen Grenzbeamten in Haft genommen und in einer tagelangen Odyssee durch sechs Lager im Iran zurück an die afghanische Grenze eskortiert.

Von Enttäuschung, dass Barmaschal es nicht geschafft hat und die Familie 2.000 Dollar „für nichts“ ausgegeben hat, mag die „etwa 50-Jährige“ Kabulerin nicht sprechen. Vielmehr plagt sie nun ein schlechtes Gewissen. Barmaschal sei seit seiner Rückkehr ein anderer. Er habe immer wieder Alpträume, seit er im Iran von Beamten und Fäusten geschlagen und mit Füßen getreten wurde und tagelang in den riesigen Lagern mit mehr als 3.000 Menschen eingepfercht war. Dort habe er eine Woche lang kein Essen erhalten, Wasser nur aus dem Waschbecken getrunken, ständig habe es Schlägereien zwischen Afghanen und Pakistanern gegeben. Barmaschal selbst sagt, er fühle sich gescheitert und schäme sich.

„Dabei sollten wir dankbar sein, dass er wieder da ist“, sagt Freshta. Denn es hätte ganz anders ausgehen können. Ihre Nachbarn hatten ein Stück Land und Gold von der Hochzeit verkauft und mussten trotzdem Geld ausborgen, um die Schlepper für ihren Sohn bezahlen zu können. Und dann wurde der Nachbarssohn auf dem Weg in eine bessere Zukunft bei einer Schießerei an der iranisch-türkischen Grenze getötet. Die Rückführung der Leiche kostete die Familie laut Freshta „ein Vermögen“: „Während wir noch Hoffnung haben, weil Barmaschal es noch einmal versuchen will, sind sie nun ruiniert.“

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Von Veronika Eschbacher, Wien

Veronika Eschbacher war, bis zum Fall Kabuls 2021, Büroleiterin der Deutschen Presse-Agentur für Afghanistan und Pakistan. Davor war sie freie Korrespondentin für die USA und Afghanistan. Ihre journalistische Laufbahn begann als Redakteurin für Außenpolitik und Außenwirtschaft bei der österreichischen Tageszeitung „Wiener Zeitung“. Sie beschäftigt sich in ihren Reportagen und Analysen vor allem mit politischen und sozialen Themen, aber auch mit Fragen der Sicherheits- und Wirtschaftspolitik.

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Mareike GraepelHaltern
Die US-Amerikanerin Cindy O’Brien lebt seit den 90er Jahren in Connemara, ganz im Westen von Irland und züchtet seltene Seeschnecken. Die sogenannten japanischen Abalone gedeihen an der irischen Küste gut. Sie gelten als Delikatesse und Aphrodisiakum, kosten bis zu 44 Euro pro Kilo – und sehen aus wie Vulven.

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