Virginia Vargas ist eine der Gründerinnen der peruanischen Frauenbewegung und eine der wichtigsten Feministinnen Lateinamerikas. Für sie liegt die Kraft der Frauen des Kontinents in ihrer Diversität.
Von Sophia Boddenberg, Santiago de Chile
Nachdem ihr Vater stirbt, wächst sie in Armut auf. Später heiratet sie einen gewalttätigen Mann, der sie misshandelt und demütigt. Doch Scheidung ist rechtlich verboten. Stattdessen flieht sie mit ihren Kindern. Das aber gilt als Ehebruch. Doch selbst die Justiz kann sie nicht zwingen, weiter mit dem Tyrannen zusammenzuleben. Als ihr Mann später versucht, sie zu ermorden, überlebt sie die Schussverletzungen nur knapp. Ihr Name: Flora Tristan.
Sie ist eine der ersten Frauen, die sozialistische mit feministischen Gedanken verbindet. Bereits fünf Jahre bevor Karl Marx und Friedrich Engels 1848 das „Kommunistische Manifest“ veröffentlichen, ruft sie die Proletarier in einer Kampfschrift dazu auf, sich in einer Arbeiterunion zu organisieren. „Der unterdrückteste Mann kann immer noch ein anderes Wesen unterdrücken – nämlich seine Frau. Die Frau ist die Proletarierin des Mannes“, schreibt sie wenig später.
Nach dieser französischen Sozialistin und Frauenrechtlerin wird mehr als 100 Jahre später das erste peruanische Frauenzentrum benannt, das „Centro de la Mujer Peruana Flora Tristan“. Ziel des Zentrums ist es, die strukturellen Ursachen zu bekämpfen, die die Frauen daran hindern, ihre Bürgerrechte auszuüben. Dazu gehören Kampagnen gegen Frauenmorde und gegen sexistische Werbung sowie Gesundheitsprogramme. Die Gründerin des Zentrums, Virginia Vargas, begründet die Namenswahl so: „Tristan war eine uneheliche Tochter, eine unglückliche Ehefrau und eine Mutter ohne Rechte. Aber trotzdem war sie mutig, selbstständig, eine unermüdliche Kämpferin für die Arbeiter und die Frauen. Deshalb haben wir ihren Namen ausgewählt – weil sie sowohl Sozialistin als auch Feministin war.“
Flora Tristan und Virginia Vargas haben viel gemeinsam: Beide haben unter schwierigen Bedingungen für die Frauenemanzipation gekämpft, beide haben sich als Töchter wohlhabender Väter für die Arbeiterklasse eingesetzt und beide haben eine enge Verbindung zu Peru. Flora Tristan reiste nach Peru, um die Familie ihres verstorbenen adeligen Vaters um finanzielle Hilfe zu bitten. Die wurde ihr verwehrt. Stattdessen waren es die Erfahrungen in diesem Land, die später starken Einfluss auf ihr feministisches Denken hatten: In ihrem zweibändigen Reisebericht „Meine Reise nach Peru. Fahrten einer Paria“ übte sie beispielsweise Kritik an der Sklaverei und formulierte erstmals wichtige Einsichten zur doppelten Unterdrückung der Frau durch Klasse und Geschlecht. Bis heute ist Tristans Arbeit grundlegend für die peruanische und lateinamerikanische Frauenbewegung.
Tristans Gedanken bis heute in Lateinamerika präsent
Auch für Virgina Vargas ist Flora Tristan ein Vorbild. Vergangenes Jahr hat die 72-Jährige einen Vortrag beim größten Treffen lateinamerikanischer Feministinnen in Montevideo in Uruguay gehalten, an dem über 2.200 Frauen aus mehr als 30 Ländern Lateinamerikas und der Karibik teilnahmen. „Diversas pero no dispersas“ – „Divers, aber nicht zerstreut“ lautete das Motto. Passend dazu war das Thema ihres Vortrags: Die Vielfalt der lateinamerikanischen Feminismen. Vargas hat rot gefärbte, lockige Haare und trägt eine schwarze Steppweste. Sie ist klein, aber ihre bestimmende Art lässt sie größer wirken. Hunderte Frauen sind gekommen, um ihr zuzuhören. Die meisten kennen sie unter ihrem Spitznamen „Gina“. Zu lange habe es einen „weißen“ Feminismus gegeben, obwohl in Lateinamerika auch indigene und schwarze Frauen leben würden, so Vargas. Dabei sei die Stärke des Kontinents seine Diversität.
Die Aussage „Wir Frauen müssen uns nicht lieben, aber wir brauchen uns“ sorgte im Anschluss für einige Diskussionen. Ihrer Meinung nach sei es ein Mythos des Feminismus, dass alle Frauen Schwestern seien und sich aus Liebe zusammenschließen würden. „Wir können unseren Kampf nicht auf Liebe stützen. Die Liebe versteckt Privilegien, sie versteckt zum Beispiel ungleiche Machtverhältnisse zwischen schwarzen und weißen, armen und reichen, indigenen und europäischen Frauen“, ist sie sich sicher.
Deshalb spricht die Aktivistin auch nicht von einem Feminismus, sondern von vielen Feminismen. Ihrer Meinung nach gehe es beim Feminismus nicht nur ums Geschlecht, sondern auch um Kapitalismus, Kolonialismus und Rassismus: „Der Kampf gegen den Kapitalismus ist auch ein feministischer Kampf. Aber auch den Kapitalismus dürfen wir nicht für sich betrachten. Der Kapitalismus stützt sich auf das Patriarchat und die Kolonialisierung Lateinamerikas. Auch die Rasse wird zur Unterdrückung genutzt. Je ärmer die Menschen, desto billiger die Arbeitskraft – und ganz zum Schluss kommen die Frauen.“
„Männer haben Privilegien, die sie aufgeben müssen“
Virginia Vargas ist eine der bekanntesten Feministinnen Perus und Lateinamerikas, denn sie gehört zu denjenigen, die die Frauenbewegung in den 80er Jahren mitbegründet haben. Wie auch Flora Tristan war sie zuerst Sozialistin, bevor sie den Feminismus kennenlernte. Während ihres Soziologiestudiums begegnete sie ihrem künftigen Ehemann und zog mit ihm nach Chile, wo sie der Sozialistischen Partei beitrat. Die Zeit in Chile prägte sie stark: Sie schloss ihr Studium ab und lernte Julieta Kirkwood kennen, ebenfalls Soziologin, und eine der Gründerinnen der Frauenbewegung in Chile.
„Julieta und mich verbindet eine lange Freundschaft und eine politische Bewunderung. Ihr haben wir die Reflexionen über die Verbindung zwischen Demokratie und Feminismus zu verdanken“, schreibt Vargas in einem Essay, den sie ihrer Freundin nach ihrem frühen Tod 1985 widmete. Kirkwood kämpfte für Frauenrechte und Demokratie in Chile während der Militärdiktatur, die von 1973 bis 1990 andauerte. Sie prägte den Satz „Democracia en el país, en la casa y en la cama“ (zu Deutsch: Demokratie im Land, im Haus und im Bett). In ihren Reden und Schriften beteuerte sie stets, dass es keine Demokratie ohne Feminismus gebe.
Diesen Ansatz führte auch Vargas weiter und hielt unter anderem einen Vortrag in Santiago de Chile über Demokratie und Feminismus. Auch der Sender CNN Chile lud sie ins Studio zum Interview ein. In den sozialen Netzwerken wurde sie daraufhin von Feminismus-Gegnern als „Feminazi“ beschimpft. Auf die Frage, wie sie mit solchen antifeministischen Attacken umgehe, antwortet sie: „Das war das erste Mal, dass ich mit einem solchen Konzept konfrontiert wurde. Der Nazismus war eine Ideologie der Zerstörung und ethnischen Reinigung und hat wirklich überhaupt nichts mit einem politischen Projekt demokratischer Transformation zu tun.“
Solche Angriffe kämen ihrer Meinung nach meistens von Männern. „Das kommt daher, dass die Männer Angst haben, ihre Macht zu verlieren. Wenn Frauen unabhängig werden, empfinden sie das als Aggression. Und es geht hier wirklich nicht um die „guten Frauen“ und die „bösen Männer“. Männer haben gewisse Privilegien, die sie aufgeben müssen, wenn sie in Demokratie und Gleichberechtigung mit Frauen leben wollen“, gibt sich Virginia Vargas kämpferisch.
In den Parteien kein Platz für die Forderungen der Frauen
Wie viele andere links denkende Frauen und Männer in Chile musste Virginia Vargas vor der politischen Verfolgung während der Militärdiktatur fliehen und kehrte – nach dem Militärputsch 1973 – zurück in ihr Heimatland Peru. Dort war zu dieser Zeit von Feminismus noch keine Rede. Die damals 28-Jährige arbeitete im Nationalen Kulturinstitut und sollte die sozioökonomische Situation der peruanischen Frau erforschen. „Wir hatten keine Ahnung von „gender“, es ging einfach nur um die Situation der Frau“, erinnert sie sich. „Ich habe zuerst gedacht, das sei langweilig, aber diese drei Monate haben wirklich mein Leben verändert. Denn ich glaubte, ich brauche das Label Feministin nicht, weil ich mich frei fühlte und annahm, über mein Leben selbst zu bestimmen. Aber dann habe ich schnell gemerkt, dass das ein Trugschluss war.“
Konkret merkte sie das zum Beispiel in den linken politischen Parteien, in denen sie sich für die Rechte der Arbeiterklasse einsetzte. „Wir Frauen mussten auf brutale Weise lernen, dass in den politischen Parteien kein Platz für unsere Forderungen war“, schreibt Vargas in einem ihrer zahlreichen Bücher über die Frauenbewegungen in Lateinamerika. „Als wir Anfang der 80er Jahre anfingen, uns für reproduktive und sexuelle Rechte einzusetzen – wie zum Beispiel das Recht auf Abtreibung – bezeichneten uns die meisten Männer als hysterische Frauen, die die Einheit der Parteien in Gefahr brächten.“
Bei den peruanischen Wahlen 1985 traten Virginia Vargas und ihre Mitstreiterin Victoria Villanueva als Parlamentskandidatinnen unter dem marxistischen Präsidentschaftskandidaten Alfonso Barrantes an. Aber sie wurden enttäuscht. Barrantes hatte kurzerhand alle ihre Forderungen nach Sexual- und Reproduktionsrechten für Frauen gestrichen. Am letzten Tag der Wahlkampagne erklärte er vom Podium aus, dass die Probleme der Frauen mit ihrer Klasse zu tun hätten – und nicht mit ihrem Geschlecht. Vargas und Villanueva verließen damals wütend und fassungslos die Veranstaltung.
So wie sie traten damals viele Feministinnen aus Protest aus den politischen Parteien aus und gründeten eigene, unabhängige Gruppen und Kollektive. Und doch war es für Virginia Vargas immer wichtig, den Feminismus im globalen Kontext zu betrachten. 1995 erhielt sie bei der UN-Weltfrauenkonferenz in Peking den Preis UNIFEM der Vereinten Nationen für ihren Einsatz für Frauenrechte in Lateinamerika. Seit 2001 ist sie Teil des Internationalen Komitees des Weltsozialforums.
„Am Anfang waren beim Weltsozialforum 52 Prozent der Teilnehmer Frauen. Aber auf der Bühne lag der Anteil bei nur elf Prozent. Also mussten wir die Macht übernehmen und fordern, dass mehr Frauen präsent sind. Und wir haben viel erreicht. Was nicht heißt, dass wir den Kampf gewonnen haben“, erzählt Virginia Vargas. Bis heute ist sie im peruanischen Frauenzentrum „Flora Tristan“ aktiv. Sie leitet das Programm „Feministische Studien und Debatten“, mit dem sie feministische Forschung unterstützt, Debatten an Universitäten anregt und Foren organisiert.
Auch wenn sie es gut versteckt, sieht man Vargas manchmal die Müdigkeit und Erschöpfung an. Denn trotz geringer Rente und ihres Alters reist sie immer wieder, um weiter an Foren, Seminaren und Vorträgen weltweit teilzunehmen. Als bisherige Erfolge der Frauenbewegung in Lateinamerika sieht sie, dass das Abtreibungsrecht in vielen Ländern reformiert worden sei und auch dass das Bewusstsein zunehme, es gebe ganz unterschiedliche Feminismen. Ein großes Problem aber sei nach wie vor, dass die Rechte der Frauen in vielen Ländern auf dem Papier garantiert seien und die Regierungen häufig mit der Umsetzung scheiterten. Es gebe also noch viel zu tun. Deshalb fasst sie zum Abschied zusammen: „Der Feminismus ist die wichtigste Revolution des 20. Jahrhunderts, aber auch die längste.“