Die Literaturprofessorin Ausma Cimdina hat den Feminismus an die Universität Lettlands gebracht: Ihr Zentrum für „Women’s Studies“ in Riga ist das einzige im Land. Doch ihr eigenes Verhältnis zu Emanzipationsfragen ist so widersprüchlich wie das vieler Lettinnen.
Von Jasper Steinlein, Riga
„Ich bin hier so etwas wie eine Fremde, eine Außenseiterin. Aber es geht mir gut damit und meine Kollegen sind tolerant“, versichert Ausma Cimdina, Dekanin der Philologie an der Universität Lettlands, der ältesten und größten Universität des Landes in der Hauptstadt Riga. Ihr Recherchezentrum für feministische Studien, die „Feministica Lettica“, ist ein Unikum in ihrem Land. Die 67-jährige Literaturwissenschaftlerin hat es 1998 selbst gegründet – gegen den Widerstand der damaligen Hochschulleitung.
„Feminismus war damals in Lettland nicht willkommen“, erinnert sie sich. Viele Kollegen hätten geglaubt, es sei doch alles gut so, wie es sei. „Aber nachdem ich in den Fachgebieten Feminismus und Gender Studies erfolgreich geworden war, Stipendien bekam und auch in ausländische Publikationen aufgenommen wurde, war es ziemlich schwierig für sie, mich nicht als Professorin anzunehmen.“
Stolz tritt sie immer wieder an die Wand ihres Büros, um eines ihrer vielen Bücher aus dem Regal zu nehmen. Etwa „Im Namen der Freiheit“, eine Biographie der Ex-Präsidentin Vaira Vike-Freiberga, die in Lettland ein Bestseller war und ins Englische, Deutsche, Spanische und Französische übersetzt wurde. Oder ihren Beitrag in einer Festschrift zum 150. Geburtstag der Dichterin Aspazija, die in den 20er Jahren für Frauenrechte eintrat und in Lettland eine Nationalikone ist.
Ihr ganzes Leben hat Ausma Cimdina das Frauenbild in der lettischen Literatur und Sprache erforscht, seit 2003 ist sie als Professorin habilitiert. Ein großer Teil der Fachliteratur zur lettischen Philologie aus feministischer Perspektive stammt aus ihrer Feder. In ihrem Fach ist sie eine Pionierin – wenngleich sie nie als Aktivistin in Erscheinung getreten ist.
90er Jahre in Lettland: Zeit der Umbrüche
„Meine akademische Karriere verlief nicht besonders schnell“, erzählt die in der Ortschaft Jaunpiebalga im Osten Lettlands geborene Cimdina, die als 18-Jährige zum Studium in die Hauptstadt zog. Von der 68er-Revolution bekam sie wenig mit – das Leben in der Großstadt war anfangs aufregend genug für sie; und in den Semesterferien fuhr sie aufs Land, um ihren Eltern in der Kolchose zu helfen. Nach ihrem Abschluss an der Fakultät für Philologie der Universität Lettlands heiratete sie und bekam nacheinander drei Kinder, die ihr kaum Zeit zum Schreiben wissenschaftlicher Aufsätze ließen. „Das hat mich fast völlig eingenommen,“ sagt sie, „aber es waren nur zehn Jahre – danach ging das Leben weiter!“
Erst mit 42 Jahren erhält sie 1992 ihren Doktortitel und Litauen gehörte nicht mehr zur Sowjetunion. „Das hat mich davor bewahrt, meine Arbeit auf Grundlage des Marxismus zu schreiben“, sagt sie rückblickend. Der Zusammenbruch des Kommunismus warf im Lettland der 90er Jahre vieles durcheinander: Errungenschaften wie staatlich garantierte Kindergartenplätze, die vielen Frauen den Eintritt ins Arbeitsleben erst ermöglicht hatten, brachen plötzlich weg. Zeitgleich waren die beruflichen Anforderungen höher denn je. In den Läden gab es plötzlich Kosmetik und Hygieneartikel zu kaufen, aber kaum eine Frau hatte Geld dafür.
„Es war sehr widersprüchlich. Gefühlsmäßig begrüßte die Mehrheit der Frauen die neue Freiheit, aber all die sozialen Probleme machten es nicht einfach für sie“, erinnert sich Cimdina. Für sie war die Umbruchphase eine Zeit der Möglichkeiten. Als sie am Schwarzen Brett ihrer Universität ein dreimonatiges Forschungsstipendium für „Women’s Studies“ in Oslo ausgeschrieben sah, bewarb sie sich – und bekam es, obwohl ihr Englisch zu dem Zeitpunkt alles andere als herausragend war.
Die Zeit in Norwegen war „ein Kulturschock“, sagt sie heute: Das Personal an der Universität freundlich und zuvorkommend, die Bibliothek voll von Fachliteratur über Frauen, Frauen, Frauen. „Das war etwas Neues für mich.“ In den Abschlussbericht ihres Forschungsstipendiums schreibt Cimdina: „Vielleicht kann ich in Lettland ein kleines Zentrum für feministische Studien schaffen.“ Heute, mehr als 20 Jahre später, lacht sie – „Dieses Zentrum bin ich“.
Emanzipiert, aber keine Feministinnen
Noch immer arbeitet die „Feministica Lettica“ von Forschungsprojekt zu Forschungsprojekt. Ob jemand das Zentrum weiterführt, wenn Ausma Cimdina als Professorin in den Ruhestand geht, weiß sie nicht. Die meisten Absolventen der Fakultät für Philologie studieren im Ausland weiter oder steigen dort ins Berufsleben ein. Cimdina selbst hält noch immer reguläre Vorlesungen zur Einführung in die Literaturkritik oder in die sowjetische Literatur Lettlands. Ihren Kurs „Feminismus in der lettischen Literatur“ gibt es als Wahlveranstaltung, die auch von vielen männlichen Studenten besucht wird.
Feminismus definiert sie als Kampf um „wirtschaftliche, soziale und rechtliche Sicherheiten“ für Frauen und als „Frage der Lebenszufriedenheit“. Aus Grabenkämpfen oder politischen Aktivitäten hält sie sich aber heraus – genauso wie aus allem, was sie ihrer Ansicht nach nicht betrifft. Homosexuelle, findet sie beispielsweise, sollten mit ihrer Identität lieber hinterm Berg halten – davon müsse man doch nichts wissen. Mit heute verbreiteten feministischen Ansätzen wie der Intersektionalität oder der Queer-Theorie, die für ein offenes Geschlechterbild stehen und vor allem Diskriminierungsformen thematisieren, hat Cimdinas „akademischer Feminismus“ nicht viel gemein.
Viele ihrer Positionen prägt ein typisch lettisches Paradox: Von Feminismus und seinen Theorien wollen emanzipierte Frauen hier lieber nichts hören – dabei betrachten sie sich als absolut gleichrangig mit den Männern und stehen ganz selbstverständlich für ihre Rechte ein. Lettinnen übernehmen häufiger als im EU-Durchschnitt Führungspositionen in der privaten Wirtschaft und erlangen zwei Drittel aller im Land verliehenen Doktortitel. Gleichzeitig sind sie häufiger als Frauen im EU-Durchschnitt von geschlechtsspezifischen Problemen wie häuslicher Gewalt betroffen.
„Kein Wort“ über die Istanbul-Konvention
Auch die „Istanbul-Konvention“, das Übereinkommen des Europarats zur Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, hat in Lettland eine erhitzte Debatte ausgelöst. Obwohl das Land die Konvention schon 2016 wie 44 andere Staaten unterzeichnet hat, kommt es bei der Ratifikation nicht vom Fleck. Die vier lettischen Kirchen hatten interveniert, das Abkommen sei verfassungsfeindlich und zwinge Lettland gesellschaftliche Änderungen „auf der Basis der Gender-Ideologie“ auf.
Gemeint war die in Artikel zwölf festgehaltene Verpflichtung zu „Veränderungen von sozialen und kulturellen Verhaltensmustern von Frauen und Männern“, die traditionelle Rollenzuweisungen an die Geschlechter beseitigen sollen, wie sie viele Traditionen und Vorurteile prägen. Konservative und Gläubige witterten hinter der Formulierung einen Angriff auf die lettische Kultur und ihr traditionelles Familienbild. Sie schürten Ängste, dass nun Kinder wie Erwachsene künftig ihre Männlichkeit oder Weiblichkeit verleugnen müssten.
Ausma Cimdina glaubt, der Text sei schlecht übersetzt und sein Inhalt der lettischen Bevölkerung kaum ohne Missverständnisse zu vermitteln. In ihren Vorlesungen sei jedenfalls „kein Wort“ über die Debatte zur Istanbul-Konvention gefallen, betont Cimdina – wenngleich sie der Tageszeitung „Neatkariga“ dazu ein Interview gegeben hat, in dem sie die Skepsis der Öffentlichkeit als „gesunde Reaktion“ bezeichnet: Lettland müsse ja nicht alles unterschreiben, was die EU vorlege.
Ihre feministischen Überzeugungen in politische Positionen zu übertragen sieht sie nicht als ihre Aufgabe an: „In der Literaturwissenschaft sprechen wir über Bilder, Darstellungen, die Position des Autors – nicht über uns selbst.“ Umgekehrt versuche auch sie bei der Bewertung von Forschungsarbeiten aller feministischen Strömungen neutral zu sein, soweit das als Wissenschaftlerin eben möglich ist.