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Eine ungewöhnliche Liaison
Annerose Koschinski und ihr Erotik-Laden

9. Dezember 2015 | Von Katja Döhne
Annerose Koschinski besitzt einen Erotik-Laden und ist 66 Jahre alt - ans Aufhören denkt sie noch lange nicht. Fotos: Katja Döhne

Die Wende in Deutschland hat das Leben vieler Menschen nachhaltig verändert – auch das von Annerose und Rudi Koschinski. Sie haben ihre Gartenlaube in Ostberlin zu einem Erotik-Laden umfunktioniert. Doch das Geschäft läuft zunehmend schlecht.

Von Katja Döhne, Berlin

Die Tür geht auf: Kundschaft kommt herein. Annerose Koschinski, die den Nachmittag bis jetzt damit zugebracht hat, hinter der Ladentheke im Katalog vom Großhändler nach neuen Sex-Utensilien zu blättern, nimmt Haltung an. Gespannt darauf, wonach dieser Kunde wohl gleich fragen wird. DVDs? Aufblasbare Sexpuppen? Zehn Minuten später weiß Annerose Koschinski die intimsten Dinge über den fremden Mann: Mit wem er schläft, wie genau er das wo tut und wovon seine feuchten Träume sonst noch so handeln – außerhalb seiner eigentlich geheimen Affäre mit einem verheirateten Mann. Dabei hat sie ihn gar nicht danach gefragt.

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Annerose Koschinski besitzt einen Sexshop – und so einiges daran ist ungewöhnlich bis skurril. Zum einen die Location: Eine Einfamilienhaussiedlung am östlichen Rand von Berlin, in Mahlsdorf. „Röschens Intimvitrine”, der kleinste Sexshop der Hauptstadt, befindet sich versteckt in einer Gartenlaube hinter dem Wohnhaus von Familie Koschinski. Von außen geschmückt mit blinkenden LED-Lichterketten.

Dann die Chefin: Annerose Koschinski, 66 Jahre und vom Typ her nicht gerade „Berliner Schnauze” – sondern eher das Gegenteil. Eine höfliche, zurückhaltende Frau. Ihre rot-violett gefärbten Haare trägt sie in einem adretten Kurzhaarschnitt. Wenn diese Frau über ihren Topseller, die „Muschis” erzählt, also Plastikvaginas, die sich hier gut verkaufen, weil „viele Bauarbeiter in der Gegend sind”, wirkt das auf eine gewisse Art anrührend – aber eben auch skurril.

Am meisten hätte wohl die junge Annerose selbst gestaunt, hätte man ihr vor 30 Jahren von ihrer späteren Laufbahn als Sexshop-Betreiberin erzählt. Und genau das ist das wirklich Besondere an dieser Geschichte: Wie sie mit den Jahren in ihre Rolle als Erotik-Expertin hineingewachsen ist. Und heute so stolz darauf ist, dass sie sich gar nicht dazu überwinden kann, in Rente zu gehen.

Lange Schlangen vor den Beate-Uhse-Läden

„Anfangs hat mir das hier schlaflose Nächte bereitet”, erinnert sie sich. Das ist 26 Jahre her. Der Mauerfall stellt damals das Leben von Annerose und Ehemann Rudi Koschinski auf den Kopf. Beim ersten Ausflug nach Westberlin brannte sich vor allem ein Bild ihr Gedächtnis ein: die langen Schlangen vor den Beate-Uhse-Läden. So etwas gab es in der DDR nicht. Pornografie war im Ostteil Deutschlands strafbar.

Das Strafgesetzbuch legte im Paragrafen 125 damals das Strafmaß fest. Wörtlich hieß es: Wer pornografische Schriften oder andere pornografische Aufzeichnungen, Abbildungen, Filme oder Darstellungen verbreitet oder sonst der Öffentlichkeit zugänglich macht, sie zu diesem Zwecke herstellt, einführt oder sich verschafft, wird mit öffentlichem Tadel, Geldstrafe, Verurteilung auf Bewährung oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft.

Schmuggelte jemand trotzdem eine Porno-Zeitschrift aus dem Westen in die sozialistische Republik, wurde sie heimlich unter vertrauenswürdigen Freunden weitergereicht. Die Lust auf sexuelles Anschauungsmaterial ließ sich von den Gesetzen nicht unterdrücken. Nach der Wende war für Ehemann Rudi deshalb klar: Ein Sexshop muss nach Mahlsdorf!

„Wenn die hier bei uns auch so anstehen würden, wie bei den Beate-Uhse-Läden in West-Berlin, ist das doch eine schöne Angelegenheit,” sagte er. Bloß wollte nicht er selber im Laden stehen sondern lieber seine Frau hinter der Geschäftstheke sehen. Die Folge: Besagte schlaflose Nächte bei Annerose Koschinski, Gewissensbisse, Gespräche mit den Töchtern. Und die überzeugten sie schließlich: „Mach das doch, Mutti! Das schaffst du.”

Das Feedback ihrer Kunden bedeutet Annerose Koschinski viel, deshalb möchte sie weitermachen so lange es geht.

Mutti machte. Anfangs mit „hochrotem Kopf und zitternden Händen”. Aber sie machte. Und gewöhnte sich mit der Zeit mehr und mehr an die Begegnungen mit den Kunden und ihren Wünschen nach erotischem Zubehör. „Als ich gemerkt habe, dass vielen Kunden der Einkauf im Erotikshop selber unangenehm war, hat mir das weitergeholfen.” Plötzlich wurde sie die Selbstsichere und half ihrer schüchternen Kundschaft dabei auf die Sprünge, die Schambarriere zu überwinden und ihre Wünsche offen anzusprechen.

Soweit, so gut: Die Besitzerin findet in ihre Rolle der Peitschen-, Dildo- und Vibratorenverkäuferin hinein, das Geschäft brummt und Ehepaar Koschinski ist finanziell abgesichert. Doch die Geschichte geht anders aus, denn der Kundenansturm auf „Röschens Intimvitrine” hat in den vergangenen Jahren stetig abgenommen. Vor allem weil heutzutage Internethändler Erotikspielzeug in Massen anbieten und Pornoseiten frei verfügbar sind, wurde das Leben als Sexshop-Besitzer in Berlin-Mahlsdorf zu einem zähen Dasein.

Die Kunden bleiben zunehmend aus

Nur noch vereinzelt kommen Kunden vorbei. Manche denken sogar, der Erotikshop sei ein Bordell. Für das regelmäßige Missverständnis macht Ehemann Rudi den schlüpfrigen Namen des Ladens verantwortlich. Annerose Koschinski schickt die Männer auf der Suche nach schnellem Sex dann ins Bordell um die Ecke. Die Prostituierten haben sich sogar schon persönlich bei ihr für die Kundenvermittlung bedankt.

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Bleibt die Frage: Wenn das Geschäft so schlecht läuft – warum geht die Chefin dann nicht in Rente und genießt ihre Freizeit? Letztes Jahr, als sie 65 Jahre alt wurde, stand die Entscheidung an. Und wieder lag Annerose Koschinski nächtelang wach. Diesmal war es die Vorstellung, nicht mehr täglich von 13 bis 18.30 Uhr hinter der Theke zu sitzen. Sie erklärt: „Das Geschäft hat mir so viel gegeben, das würde mir fehlen in meinem Tagesablauf.”

Vor allem die Selbstbestätigung, die sie hier bekommt, ist ihr wichtig. „Auch wenn ich abends gegen die Tür treten könnte, weil wieder keiner gekommen ist – viele der Kunden, die dann doch ab und zu hier einkaufen, geben mir ein sehr positives Feedback.” Es ist die vertrauenswürdige Ausstrahlung der Ladenchefin, die manche Erotik-Fans hier besonders schätzen. Und die intime Atmosphäre, denn meistens hat der Kunde das Geschäft für sich allein. Zwei gleichzeitig, das ist selten.

Auch der offenherzige Mann, der vor zehn Minuten zur Ladentür hineinkam, scheint die persönliche Beratung von Annerose Koschinski sehr zu genießen. Ausführlich erzählt er von seinem Liebesleben, bis es der Erotik-Shop-Besitzerin zu bunt wird. Demonstrativ wirft sie sich die Jacke über und sagt, sie müsse mal grad rüber ins Wohnhaus, nach ihrem Ehemann schauen. Als der Kunde artig den Laden verlässt, zieht sie die Jacke schnell wieder aus. Gekauft hat er nichts. Annerose Koschinski atmet durch. Wenn Kunden mit derben Ausdrücken um sich werfen, mag sie das nicht. „Da denke ich, dass ich denen zu nahe komme – oder die mir.” In diesen Momenten blitzt die Annerose von vor 30 Jahren auf, „die von Tuten und Blasen keine Ahnung hatte“, sagt sie und lächelt.

Anfang Dezember ist ein Video über Annerose Koschinski auf Spiegel.TV erschienen: http://www.spiegel.tv/filme/erotik-aus-der-gartenlaube/.

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Von Katja Döhne, Berlin

Katja Döhne arbeitet als freie Reporterin, Filmemacherin und Autorin für TV, Online und Radio. Ihre berufliche Basisstation ist Berlin, sie berichtet seit Jahren regelmäßig aus Mittel- und Südamerika. Meistens entstehen dabei längere Dokus und Reportagen.

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Mareike GraepelHaltern
Die US-Amerikanerin Cindy O’Brien lebt seit den 90er Jahren in Connemara, ganz im Westen von Irland und züchtet seltene Seeschnecken. Die sogenannten japanischen Abalone gedeihen an der irischen Küste gut. Sie gelten als Delikatesse und Aphrodisiakum, kosten bis zu 44 Euro pro Kilo – und sehen aus wie Vulven.

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