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Eine Mauer, die trennt
Israelische Frauen kämpfen um Gleichberechtigung

2. Mai 2015 | Von Mareike Enghusen
Zum ersten Mal in ihrer 26-jährigen Geschichte beten die „WoW“ mit einer Original-Torarolle. Anfang des Jahres hatten sie lediglich eine Mini-Tora in den Frauenbereich geschmuggelt. Fotos: Mareike Enghusen

Die „Women of the Wall“ kämpfen dafür, dass jüdische Frauen – entgegen der ultraorthodoxen Tradition – an der Jerusalemer Klagemauer so beten dürfen wie Männer. Dafür werden sie von ultraorthodoxen Männern angegriffen, manchmal sogar körperlich. Der Streit wird auch deshalb so erbittert geführt, weil es dabei um mehr geht als um Gebetsriemen und Gesänge. Es geht um die Deutungshoheit über die Religion im jüdischen Staat.

Von Mareike Enghusen, Jerusalem

Jerusalems Altstadt, sieben Uhr. Kühl ist es an diesem Aprilmorgen und die Altstadt – tagsüber überfüllt von Touristen, Händlern, Gläubigen – döst noch ein wenig. Gerade erst werden die ersten Ladentore hochgezogen, langsam und mühsam, wie schläfrige Augenlider. Nur an der Klagemauer, die die Juden „Westmauer“ nennen, dort, in ihrem Herzen, ist die Stadt schon ganz wach. Der Platz vor der Mauer ist nach Geschlechtern geteilt. Eine dünne Trennwand soll verhindern, dass der Anblick des anderen Geschlechts die Gedanken der Betenden auf sündige Bahnen lenkt. Links stehen die Männer und wippen mit dem Oberkörper im Takt des Gebets. Rechts, bei den Frauen, ist es heute ungewohnt laut. Mehrere Dutzend umringen eine Frau, die eine von schwarzem Stoff umgebene Tora-Rolle im Arm hält. Die Frauen tanzen um sie herum, singen, haken sich unter und werfen blau-weißes Krepp-Paper in die Luft. Manche haben Tränen in den Augen. „Historisch“, wird eine von ihnen, Leora Bechor, diesen Moment später nennen.

Frauen sollen keine Tora-Rollen an die Westmauer bringen. So bestimmt es zumindest die ultraorthodoxe Stiftung, die die Aufsicht über das höchste jüdische Heiligtum hält. Gegen diese und andere Einschränkungen wehrt sich seit 26 Jahren eine Organisation, die sich „Women of the Wall“ nennt, zu Deutsch „Die Frauen der Mauer“ oder kurz „WoW“. Und an diesem Montagmorgen, dem 20. April 2015, ist es den WoW-Frauen zum ersten Mal gelungen, eine echte Tora-Rolle auf ihre Seite der Mauer zu bringen. Ein männlicher Unterstützer hat eine der Rollen, die auf der Männer-Seite gelagert werden, über die Absperrung gereicht. Für die Frauen ein großer Erfolg. Die Euphorie ist spürbar.

Doch plötzlich schlägt die Stimmung um

Ein Mann drückt eines der beweglichen Elemente der Trennwand auf, läuft auf die Frauen mit der Tora zu und brüllt: „Das ist mein Buch! Es ist meins! Gibt es mir!“ Ein zweiter Mann bricht durch die Absperrung. Auch er brüllt. Die Frauen rücken enger zusammen, manche singen trotzig weiter. Plötzlich sind überall Polizisten, sie schirmen die Frauen ab und versperren die Öffnung in der Trennwand. Die Eindringlinge ziehen sich zurück. Doch andere Männer pöbeln über die Trennwand und rufen „Schiksen!“ und „Huren!“. Soviel Zorn, soviel Aufregung wegen einer Tora-Rolle? So schwer dieser Ausbruch religiöser Gefühle für Außenstehende zu verstehen sein mag, so aufschlussreich ist sie auch. Denn sie vermittelt eine Ahnung davon, wie erbittert in Israel um die Deutungsmacht über die Religion gerungen wird.

Leora Becher findet die Westmauer habe sich in „eine ultraorthodoxe Synagoge“ verwandelt.
Leora Becher findet die Westmauer habe sich in „eine ultraorthodoxe Synagoge“ verwandelt.

Am Tag nach der Tora-Aktion sitzt Leora Bechor im Jerusalemer Café „Kadusch“, knapp zwei Kilometer von der Westmauer entfernt und nur eine Straßenecke von ihrem Büro. Vor acht Jahren ist sie aus New York City nach Jerusalem gezogen, vor zweieinhalb Jahren hat sie sich den „Women of the Wall“ angeschlossen. Inzwischen sitzt sie im Vorstand der Gruppe. „Die Mauer hat sich in eine ultraorthodoxe Synagoge verwandelt“, sagt sie, „ich habe mich dort nicht mehr wohl gefühlt, ich konnte dort nicht auf meine Art beten.“

Lange Zeit verbot die „Western Wall Heritage Foundation”, die die Westmauer verwaltet, dass Frauen an der Mauer Gebetsschals und Gebetsriemen anlegen und laut aus der Tora lesen, so, wie es nach ultraorthodoxer Tradition nur Männer tun. Frauen, die es trotzdem versuchten, wurden gelegentlich von der Polizei abgeführt. Es hieß, sie störten den öffentlichen Frieden. 2013 urteilte ein Jerusalemer Gericht, dass diese Begründung nicht gelte, um Frauen festzunehmen. Seitdem haben die „Women of the Wall“ mehr Freiheiten, wenn sie sich zu ihrem monatlichen Gebet vor der Mauer versammeln. Doch die ultraorthodoxe Stiftung verbietet weiterhin, dass die Frauen die Tora-Rollen benutzen, die auf der Seite der Männer gelagert werden. Ihr Rabbiner nannte die jüngste Tora-Aktion der WoW-Frauen „erniedrigend“ und „provokant“.

Orthodoxes Judentum kann unterschiedlich aussehen

Leora Bechor dagegen lächelt, wenn sie von dem Gebet spricht. Sie nennt es „ein sehr wichtiges Ereignis“ in ihrem Leben. Bechor kommt aus einer konservativ-jüdischen Familie, doch sie selbst beschloss schon mit zwölf Jahren, orthodox zu leben – und sie tut es bis heute, wie sie sagt. Ihr Verständnis von orthodoxem Judentum unterscheidet sich jedoch gravierend von der ultraorthodoxen Tradition in Israel. Die Ultraorthodoxen schotten sich von der Mehrheitsgesellschaft ab, nutzen kaum moderne Technik, halten strikte Geschlechtertrennung. Die Frauen heiraten früh, sind für Haushalt und Kindererziehung zuständig und tragen Kleidung, die in ihrer Gemeinde als züchtig gilt: lange Röcke, hochgeschlossene Oberteile. Leora Bechor trägt Hose und V-Ausschnitt, arbeitet als Anwältin für Menschenrechte und ist unverheiratet. In der Synagoge, in die sie geht, nehmen Frauen gleichberechtigt am Gottesdienst teil und sind keine stille Beobachterinnen.

Die Vision von Gleichberechtigung und Pluralismus hat die junge Frau aus ihrer Heimat USA mitgebracht. Für amerikanische Juden, sagt sie, sei es unvorstellbar, dass eine jüdische Frau nicht nach ihren Vorstellungen beten dürfte. Drei der acht Vorstandsmitglieder von WoW, sagt Leora, kommen aus den USA, ein weiteres aus Kanada. Den Großteil der Unterstützung, finanziell wie moralisch, bezieht WoW von Juden in den USA. Auch innerhalb Israels hat die Gruppe laut Umfragen die meisten Anhänger unter Einwanderern aus der westlichen Diaspora.

Das ist wenig überraschend, gehört doch die überwältigende Mehrheit amerikanischer Juden vergleichsweise liberalen Strömungen innerhalb des Judentums an: der Reform-, der konservativen oder der modern-orthodoxen Bewegung. In Israel jedoch spielen diese Strömungen nur eine marginale Rolle. Allein ultraorthodoxe Rabbiner entscheiden über Fragen wie Heirat, Scheidung und Übertritt. „Hier gibt es ein ultraorthodoxes Monopol“, sagt Leora Bechor, „das würde ich gern ändern.“ Im Ringen um den Platz vor der Westmauer geht es nicht nur darum, was die Frauen tragen, wie ob und wie laut sie beten dürfen. Dort, auf den wenigen Quadratmetern vor ihrem höchsten Heiligtum, streiten Israels Juden auch darüber, in welcher Art von jüdischem Staat sie leben wollen.

Die schwarzen Gebetsriemen, die mache der Frauen angelegt haben, werden von vielen Ultraorthodoxen als Provokation empfunden – traditionell werden die Riemen nur von Männern getragen.
Die schwarzen Gebetsriemen, die mache der Frauen angelegt haben, werden von vielen Ultraorthodoxen als Provokation empfunden – traditionell werden die Riemen nur von Männern getragen.

Als Leora Bechor am frühen Morgen im Kreis ihren Mitstreiterinnen um die Tora tanzte, war das für sie auch kleiner Sieg in diesem größeren Ringen. „Als wir tanzten, in diesem Zustand der Euphorie,“ erklärt sie, „da habe ich begriffen: Immer weiter zu kämpfen, egal, wie unrealistisch ein Wandel erscheinen mag – so schafft man Veränderung. Geschichte wird in einfachen Momenten wie diesen geschrieben.“ Die zentralen Fragen sind: War dieser kleine Erfolg ein Etappensieg, von dem aus die Frauen weiter vorrücken? Neue Siege erzielen, langsam, aber beharrlich das Monopol der Ultraorthodoxie untergraben? Oder war es nicht mehr als ein Scharmützel, das nur für einen flüchtigen Moment darüber hinwegtäuscht, dass die liberaleren Kräfte in Israel auf dem Rückzug sind?

Es gibt Zahlen, die wenigstens eine Ahnung vermitteln, wie sich das Kräfteverhältnis zwischen strengkonservativen und liberaleren Kräften in Israel entwickeln wird. Und nach diesen Zahlen sieht es nicht gut aus für Frauen wie Leora Bechor. Laut offizieller Statistik-Behörde identifizieren sich in Israel derzeit rund zehn Prozent der Bevölkerung als ultraorthodox. Das ist keine überwältigende Zahl. Aber sie ist trügerisch. Ultraorthodoxe Familien haben traditionell viele Kinder – neun, zehn, elf sind keine Seltenheit. Auf Grundlage der hohen Geburtenrate hat die Statistik-Behörde errechnet, dass der Anteil der Ultraorthodoxen bis zum Jahr 2059 zwischen 23 und 40 Prozent liegen wird.

„Ich bin entschlossen, zu kämpfen“

Leora Bechor reagiert darauf gelassen: „Ich denke nicht an Demografie. Gleichberechtigung ist Gleichberechtigung. Das ist keine Sache von Zahlen. Wenn man eine Regierung hat, die der Gleichberechtigung verpflichtet ist – was wir derzeit nicht haben – dann wird sie sich von Zahlen nicht aufhalten lassen.“ Aber in einer Demokratie sind diese Zahlen wichtig. Derzeit sitzen zwei ultraorthodoxe Parteien im neu gewählten Parlament. Aller Voraussicht nach werden sie an der nächsten Koalition beteiligt sein. Diese Parteien verteidigen das Monopol der Ultraorthodoxie, dem die Mauer-Frauen den Kampf erklärt haben. Und wenn in den nächsten Jahren und Jahrzehnten die Zahl der ultraorthodoxen Wähler wächst, dann wächst auch ihr politisches Gewicht.

Der Kampf der Mauer-Frauen muss damit nicht zum Scheitern verurteilt sein. Gesellschaftliche Prozesse verlaufen niemals linear. Möglich, dass sich die ultraorthodoxe Gemeinde selbst verändert, offener und kompromissbereiter wird. Möglich aber auch, dass ihre politischen Vertreter ihren wachsenden Einfluss nutzen, um stattdessen den Rest der Gesellschaft zu verändern. Die „Women of the Wall“ könnten in die Defensive gedrängt werden, sogar in die Bedeutungslosigkeit. Und der euphorische Moment an der Westmauer, den Leora Bechor für „historisch“ hielt, könnte sich im Nachhinein als trügerisch erweisen. Nicht mehr als eine kurz aufflackernde Ahnung von einem Israel, wie es hätte sein können. Wie es aussah in Leora Bechors Träumen.

Immerhin – der Traum lebt. Er lebt in Leora Bechors glühenden Augen, er lebt in ihrer ruhigen, selbstsicheren Stimme, wenn sie sagt: „Ich habe an Israel viel zu kritisieren. Aber ich bin entschlossen, dafür zu kämpfen, es zu einem besseren Ort zu machen. Ich fühle mich geehrt, Teil der „Women of the Wall“ zu sein und zu fühlen, dass ich die Geschichte des jüdischen Volkes beeinflusse. Ja, so fühlt es sich wirklich an.“

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Von Mareike Enghusen, Tel Aviv

Mareike Enghusen berichtet als freie Auslandsreporterin über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Nahen Osten, vor allem aus Israel, Jordanien und den palästinensischen Gebieten. Mehr unter: http://www.mareike-enghusen.de.

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