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Eine Kanzlerin macht noch keinen Sommer
Gleichberechtigung in Deutschland

26. Februar 2020 | Von Mareike Graepel
Nora Szech ist Professorin am Lehrstuhl für Politische Ökonomie am Karlsruher Institut für Technologie. Foto: privat

100 Jahre sind seit der Einführung des Frauenwahlrechts vergangen, 42 seit der ersten „Emma“, dem Leitblatt des Feminismus im deutschsprachigen Raum und 33 Jahre seit Ina Deter von Frauen sang, die langsam, aber gewaltig kommen – und dennoch: Frauen tauchen nur als prominente Vorzeige-Beispiele auf, aber nie zu 50 Prozent, obwohl sie die Hälfte der Bevölkerung ausmachen.

Von Mareike Graepel, Karlsruhe / Berlin

„Entschuldigung, ich bin spät dran, die Kinder sind krank, ich habe mich noch kümmern müssen.“ Der Satz, der Stefanie Lohaus ohne Zögern über die Lippen kommt, wird in Deutschland täglich tausendfach gesagt – von Frauen. In Stefanie Lohaus’ Fall könnte er auch von ihrem Mann kommen. Sie ist Journalistin und Pressesprecherin der Europäischen Akademie für Frauen in Wirtschaft und Politik, kurz EAF, und hat mit ihm ein Buch über gerechte Aufgabenverteilung geschrieben („Papa kann auch stillen“). Aber: Das Paar ist eine große Ausnahme. In den meisten Fällen sind es die Frauen, die sich im Job abmelden, wenn die Kinder erkranken, nämlich etwa dreieinhalbmal so oft wie Männer, wie die letzte Studie der Deutschen Angestellten Krankenkasse zeigt.

Symptomatisch zeigen diese Zahlen, woran die Gleichberechtigung in Deutschland krankt. Stefanie Lohaus sagt: „Ob es in absehbarer Zeit möglich ist, paritätische Verhältnisse in Deutschland zu erreichen, hängt davon ab, inwiefern sich die Gesellschaft dafür entscheidet.“ Denn auch 70 Jahre nachdem die Gleichbehandlung von Frauen und Männern im Grundgesetz verankert wurde, bestehen noch immer struktuell bedingte Benachteiligungen. „Und zwar auch für die Politik,“ so Lohaus, „in keinem Land der Welt herrscht absolute Parität, Deutschland befindet sich in den Rankings zwar im oberen Mittelfeld – aber das reicht nicht, um sich darauf auszuruhen.“

 

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Für die Bundestagswahl 2017 waren die Listen der in den Bundestag gewählten Parteien mit einem Frauenanteil von 38 Prozent im Schnitt zwar nicht zufriedenstellend, aber noch vergleichsweise gut besetzt. „Das Problem: Die Demokratie und ihre Spielregeln entstanden unter dem expliziten Ausschluss der Frauen“, erklärt die Feministin. „Und die Strukturen sind noch immer patriarchal geprägt.“ Von einem „Meer von grauen Anzügen“ sprachen auch di ehemalige Justizministerin Katarina Barley und Familienministerin Franziska Giffey anlässlich des Jahrestags des Frauenwahlrechts und forderten, Kandidat*innenlisten der Parteien abwechselnd mit Männern und Frauen zu besetzen.

Brandenburg geht ersten Schritt in Richtung Parität in der Politik

Während einige Parteien – so wie die Grünen – seit Jahrzehnten Gleichberechtigung praktizieren, schließen andere, wie die AfD, schon die Gründung parteiinterner Frauenorganisationen explizit aus. Deshalb verwundert es nicht, dass Frauen bei den Grünen am stärksten vertreten sind: 58 Prozent der Bundestagsabgeordneten sind weiblich, 40 Prozent sind es in der gesamten Partei. Die Partei DIE LINKE hat immerhin einen Frauenanteil von 54 Prozent im Bundestag, gefolgt von der SPD mit 42 Prozent. Bei den Christdemokraten sind nur ein Fünftel der Bundestagsabgeordneten weiblich, in der Gesamtpartei der CDU sind das 26, in der CSU 21 Prozent. Ähnlich sieht es bei der FDP aus. Das Schlusslicht bildet die AfD mit elf Prozent Frauen in der Bundestagsfraktion und 17 Prozent in der Partei – dort gibt es weder interne Quoten noch Maßnahmen zur Frauenförderung.

Stefanie Lohaus setzt sich für mehr Frauen in der Politik ein (Foto: Verena Brüning).

„Wir brauchen neue Spielregeln in der Politik. Das heißt konkret: eine Limitierung von Sitzungszeiten, bessere Kinderbetreuung und ein Umdenken bei Redezeiten und -orten. Einige Meetings können auch ohne weiteres per Videochat gehalten werden“, sagt Stefanie Lohaus. „Parlamente funktionieren noch wie vor 100 Jahren und schließen dadurch oft Frauen und benachteiligte Gruppen aus.“ Einzelne Landesparlamente probieren durchaus neue Wege aus: So werden in Brandenburg ab 2020 die Landeslisten abwechselnd mit Frauen und Männern besetzt. Ein klarer Schritt Richtung mehr Parität.

Dabei könnte man meinen, dass Deutschland in puncto Gleichberechtigung in der Politik schon relativ weit sei. Schließlich haben wir seit 14 Jahren eine Bundeskanzlerin, die immer wieder als „mächtigste Frau Europas“ bezeichnet wurde. Außerdem gibt es mit Ursula von der Leyen erstmals eine Kommissionspräsidentin. Doch der aktuelle Frauenanteil aller Abgeordneten beträgt knapp 31 Prozent – und ist damit so hoch wie im Südsudan. Auch Merkel betonte während der Gedenkstunde zum 100. Jahrestag des Frauenwahlrechts: „Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Aus der Tatsache, dass es mich gibt, darf kein Alibi werden.“ Dieses „Totschlag-Argument“ geht auch Stefanie Lohaus gegen den Strich: „Wer sagt, wir haben in Deutschland kein Problem, weil wir ja Frau Merkel haben, unterschätzt die Situation. Auch, wenn die Bundeskanzlerin und andere Politikerinnen zeigen, dass es Frauen in Machtpositionen schaffen und da auch gut Netzwerken können.“

 

Info: Kooperation mit der Frankfurter Rundschau

Dieser Artikel ist der letzte in unserer achtteiligen Serie „Wie emanzipiert ist Europa?“. Dabei kooperieren wir exklusiv mit der Frankfurter Rundschau. Mit der Serie wollen wir beleuchten, wo es in Europa in puncto Gleichberechtigung besonders gut läuft und wo es noch Nachholbedarf gibt. Aufgrund der positiven Resonanz geht die Reihe „Gleichberechtigung in…“ munter weiter. Sämtliche Artikel werden hier gesammelt: https://www.deine-korrespondentin.de/gleichberechtigung/.

 

Im „Global Gender Gap Report 2020“  hat das Weltwirtschaftsforum (WEF) Deutschland aktuell zwar Fortschritte bei der Gleichberechtigung bescheinigt, aber mehr Engagement gefordert, was die Geschlechterlücke bei Managementpositionen und Gehältern angeht. Im globalen Ranking legte Deutschland um vier Plätze zu und ist nun Zehnter. Dass es im derzeitigen Tempo noch einmal 100 Jahre dauern könnte, bis weltweite Gleichberechtigung herrscht, ist für WEF-Gründer Klaus Schwab inakzeptabel: „Mehr denn je kann es sich die Gesellschaft nicht leisten, die Fähigkeiten, Ideen und Perspektiven der Hälfte der Menschheit zu verlieren, wenn sie das Versprechen einer wohlhabenderen und menschlicheren Zukunft verwirklichen möchte, die gut geführte Innovationen und Technologien mit sich bringen können.“

Angesichts der Tatsache, dass „in naher Zukunft nicht mit einer ausgewogenen Geschlechterverteilung zu rechnen ist und wir in Deutschland keine Branche identifizieren können, die besonders fortschrittlich ist“, so Lucie Schibel von der „AllBright Stiftung“, müssten genau diese Fakten eben doch genauso und „dauernd extra“ erwähnt werden. In aktuellen Studien fand die Stiftung heraus, dass es immerhin in den großen Unternehmen schneller geht als in den kleinen: In den Topetagen börsennotierter Unternehmen in Deutschland sitzen derzeit so viele Frauen wie nie. 61 Topmanagerinnen in 160 Unternehmen der drei Börsenindizes Dax, MDax und SDax saßen 640 Männer gegenüber – klingt nicht viel, hat sich aber immerhin in fünf Jahren fast verdoppelt. Allerdings: Nur drei Frauen schafften es auf die Position der Geschäftsführerin.

Hochschulprofessorinnen nach wie vor selten

In den Hochschulen zeigt sich ein ähnliches Bild. Nur jede vierte Professur in Deutschland wird von einer Frau besetzt. Die Bundeskanzlerin spricht offen darüber, in ihrer Zeit als Physikstudentin die Männer an der Uni als sehr dominant erlebt zu haben. „Die Ursachen für so wenige Professorinnen werden viel debattiert“, meint Nora Szech. Die Professorin hat den Lehrstuhl für Politische Ökonomie am Karlsruher Institut für Technologie inne, wo – ähnlich wie an vielen anderen technischen Universitäten – Frauen schon im Studium seltener vertreten sind als Männer. „Das liegt aber nicht am Geschlecht – in Asien und in Südeuropa gibt es auch in der Technologie viele Frauen.“ Sie vermutet, dass der Grundstein für das Interesse schon in der Schule gelegt werde: „Es ist bemerkenswert, dass das ein hausgemachtes und kein globales Phänomen ist.“

Nora Szech in der Uni (Foto: Andreas Reeg).

Es fehle außerdem an Frauen-Netzwerken in den technischen Bereichen. „Selbst wenn man leichte positive Entwicklungen sehen kann – im Vergleich zu den Nachbarländern ist Deutschland immer noch Schlusslicht“, so Szech. Eine deutliche Einkommenslücke zwischen Männern und Frauen – Gender-Pay-Gap genannt – sowie fehlende Quoten verschleppten die Hoffnung auf eine baldige Besserung der Situation. Das gelte sowohl für Professor*innen-Stellen als auch Juniorprofessuren – zwar würden die seit einigen Jahren prozentual viel häufiger von Frauen besetzt, seien aber auch immer befristet.

Aktiv für Gleichberechtigung entscheiden

„Meiner Meinung nach könnten Quoten da überall helfen – aus purer Freiwilligkeit tut sich einfach zu wenig, da fehlen klare Anreize.“ Jede einzelne Frau mit höherem akademischen Status habe eine Signalwirkung und motiviere Studentinnen – was dringend notwendig sei. Denn auch in den Universitäten hätten Frauen die gleichen Probleme wie in anderen Branchen: Vereinbarkeit von Beruf und Familie sei extrem schwierig, und zwar finanziell, organisatorisch und auch emotional. „Ich höre von so vielen Nachwuchsforscherinnen, die eine Weile im Ausland tätig sind, dass sie zögern, nach Deutschland zurückzukehren, weil sie sich viel stärker entscheiden müssten.“

Ihr Forschungsgebiet – Ethik und Moral in Wirtschaft und Lehre – liefert Nora Szech hervorragende Argumente für weibliche Führungskräfte. Sie rate den Arbeitgebern dazu, mehr auf Frauen zu setzen. Ein stärkerer moralischer Kompass mache sie weniger korrumpierbar, sie überschätzten sich seltener und sie trügen in der Team-Mischung zu einem besseren Ergebnis bei. Und ein schneller Blick auf die Länder mit etablierten Frauen-Quoten zeigt: Die Wirtschaft hat darunter nicht gelitten, im Gegenteil.

Die Gesellschaft müsse sich eben „nur“ noch für die Gleichberechtigung entscheiden – in Deutschland offenbar eine extrem hohe soziokulturelle Hürde, weil Männer laut Väterreport der Bundesregierung aus dem Jahr 2018 die fehlende soziale Anerkennung von Familienarbeit oder die Anwesenheitskultur in Unternehmen spüren, Angst vor Einkommensverlust haben und glauben, dass Teilzeitarbeit bei Frauen stärker akzeptiert sei. Klar ist aber auch: Die Situation ändert sich nur nachhaltig, wenn viel mehr Männer aktiver Teil der Lösung werden, und nicht Teil des Problems bleiben.

 

Weitere Artikel unserer Serie “Gleichberechtigung in Europa”:

Teil 1: So emanzipiert sind Europas Frauen (Überblick)

Teil 1: Zwischen Islamophobie und Frauenquote (Belgien)

Teil 2: Dem Machismo geht es an den Kragen (Spanien)

Teil 3: Macherinnen statt Opfer (Lettland)

Teil 4: Frauen in der Zwickmühle (Ungarn)

Teil 5: Sie wollen die Wahl haben (Russland)

Teil 6: Zwischen Gewalt und Ganztagesjob (Frankreich)

Teil 7: Das Prinzip des Eineinhalbverdieners (Niederlande)

 

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Von Mareike Graepel, Haltern

Mareike Graepel lebt in Haltern und Irland. Sie ist unser Head of Partnerships und kümmert sich um Kooperationen mit (Medien-)Partner*innen. Sie schreibt seit ihrer Jugend für lokale, regionale und überregionale Tageszeitungen und Magazine – zunächst als freie Mitarbeiterin, dann als Redakteurin und seit 2017 selbstständig als Journalistin und Übersetzerin. Ihre Themen drehen sich meist um Gesellschaft, Umwelt, Familie, Gesundheit und Kultur.

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Marinela PotorDetroit
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Heike PapenfussValencia / München
Während der Franco-Diktatur wurden in Spanien unzähligen Müttern ihre Babys genommen und an Adoptiveltern verkauft. Noch bis Anfang der 80er Jahre verdienten Ärzte, Notare, Pfarrer und Nonnen an diesem Kinderhandel. Die Rede ist von geschätzt 300.000 betroffenen Kindern. Es ist auch die Geschichte von Susi Cervera und Sonia Espinosa.

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