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Eine Hackerin als Digitalministerin
Höhere Bitrate für Taiwans Demokratie

6. Oktober 2021 | Von Carina Rother
Demokratie ohne Internet wäre in Taiwan undenkbar, so Digitalministerin Audrey Tang. Foto: Screenshot Video

Früher war Audrey Tang als Programmiererin in der Demokratiebewegung aktiv, heute hackt sie Taiwans Demokratie von innen heraus. Als erste Trans-Frau mit Kabinettsposten setzt sie Maßstäbe – in der Digitalpolitik und darüber hinaus.

Von Carina Rother, Taipei

Audrey Tang ist da, wo sie am Liebsten ist: im Internet. In Live-Schalten spricht sie mit Parlamentarier*innen weltweit, trifft junge Aktivist*innen, gibt Interviews. Taiwans Digitalministerin arbeitet schon lange so, wie es die meisten Menschen erst seit Corona kennen. Ihr rundes Gesicht lächelt freundlich durch das Skype-Fenster, wenn Audrey Tang ihre Politik erklärt. Das fließende Englisch hat sie im amerikanischen Silicon Valley perfektioniert, in einer früheren Karriere als Programmiererin.

Sogar Deutschland kommt in Tangs Lebenslauf vor. „Dort habe ich Fahrradfahren gelernt“, schmunzelt sie. Als Audrey Tang elf Jahre alt ist, verbringt die Familie während der Promotion des Vaters ein Jahr in der Pfalz. Auch sonst: keine Durchschnittsbiografie. Mit 14 Jahren bricht sie die Schule ab, „um mich 16 Stunden am Tag auf meine Forschung konzentrieren zu können“. So erklärt sie es damals den Erwachsenen. Die haben Verständnis. „Selbstbestimmte Kinder haben die Fähigkeiten und den Willen, die Gesellschaft zu verändern“, wird ihr Vater später in einem Radiointerview resümieren.

 

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Damals, Mitte der Neunziger, hatte Audrey Tang gerade das Internet entdeckt. Es wird ihre lebenslange Faszination werden. Online übt sie Programmieren und Englisch, verschlingt wissenschaftliche Arbeiten und diskutiert mit Fachkräften, die Jahrzehnte älter sind als sie. Für das hochbegabte Kind, das in der Schule oft ausgegrenzt wurde, ein Raum großer Gleichheit: Dort wird sie nicht nach ihrem Alter oder ihrer Herkunft gefragt, es zählen nur ihre Ideen. Auch ihr Geschlecht spielt keine Rolle.

Immer online: Audrey Tang bei Videokonferenz (Foto: Bildungsministerium).

Für die heranwachsende Audrey Tang womöglich eine Befreiung: Ihre Jugend verbringt sie noch als nerdiger, wissbegieriger Junge – mit Mitte 20 outet sie sich schließlich als Frau. Heute ist die 40-Jährige die wohl sichtbarste Trans-Person in Taiwan. Als sie 2016 das Amt der Staatsministerin für Digitales und soziale Innovation antritt, wird Audrey Tang aber vor allem zum Aushängeschild für Taiwans digitale Demokratie.

Wählen ist „drei Bits alle vier Jahre“

„Taiwan hat demokratisiert, als das Internet gerade öffentlich zugänglich wurde“, erklärt die Ministerin. Das war 1996. Das 23-Millionen-Einwohner*innenland hält erstmals – nach einem Jahrhundert der Kolonialisierung und Ein-Parteien-Herrschaft – freie Präsidentschaftswahlen ab. Inmitten der beginnenden Digitalisierung wird Demokratie in den Köpfen der Leute „zu einer weiteren Technologie, einer sozialen Technologie“, so Tang. Demokratie ohne Internet wäre in Taiwan undenkbar. Eine rege Online-Öffentlichkeit nimmt von Anfang an am politischen Prozess teil.

Meistens anders: „Audrey-Katze“ wirbt für eine App (Screenshot, Video: Bildungsministerium Taiwan).

Tangs Aufgabe ist es, die Meinungen und Talente dieser Öffentlichkeit zu bündeln. Dazu setzt die Digitalministerin auf das Potential von Open Source, also frei zugänglichen Daten, und auf sogenannte „Daten-Koalitionen“ zwischen Regierung, Wirtschaft und Bevölkerung. Ihr Ziel: „Die Bitrate der Demokratie zu erhöhen.“ Sie lacht, der klassisch analoge Urnengang sei „nur drei Bits pro Person alle vier Jahre“. In einer digitalen Demokratie könnten politische Strategien stattdessen ständig interaktiv revidiert und optimiert werden.

Konkret heißt das: Als Taiwan zur Corona-Prävention im Februar 2020 die Maskenpflicht einführt, dauert das Chaos um vergriffene Masken nur wenige Tage. Ein Programmierer in Südtaiwan schreibt ein Open-Source-Programm, das die Maskenbestände pro Apotheke registriert und in Echtzeit auf einer Karte anzeigt. Die Digitalministerin sieht es, adaptiert das Programm für die nationale Anwendung und lässt es über die Gesundheitsbehörden als App verbreiten.

Von Kontaktverfolgung bis Impfzuteilung: unzählige Corona-Maßnahmen tragen in Taiwan Audrey Tangs Handschrift. Für ihre Arbeit wird sie 2019 vom US-Magazin „Foreign Policy“ auf die Liste der 100 globalen Vordenker*innen gewählt, neben bekannten Persönlichkeiten wie Angela Merkel und Michelle Obama. „Mein Kind setzt sich für die Festigung der globalen Demokratie ein“, erzählt ihr Vater stolz im Radio.

Taiwan: Versuchslabor der digitalen Demokratie

Auch in der Cyberverteidigung hat Audrey Tang eine Schlüsselrolle. Denn Taiwan kämpft laut Außenministerium täglich mit mehr als 2.000 Hackerangriffen aus dem Ausland, überwiegend aus China. Der totalitäre Nachbar sieht die selbstregierte Insel als abtrünniges Staatsgebiet. Langfristig soll Taiwan in die Volksrepublik eingegliedert werden; so will es Chinas Staatspräsident Xi Jinping. Jeder erfolgreiche Angriff auf systemrelevante Software in Taiwan wäre deshalb ein Sieg für Peking – Taiwan würde destabilisiert, die Regierung delegitimiert.

Die Digitalministerin fungiert in der Cybersicherheit als Schnittstelle zwischen Regierung und Taiwans „White Hats“. Darunter versteht man zivile Hacker, die bei der Abwehr der Angriffe behilflich sein wollen. Ihnen wird jedes Betriebssystem von Behörden und Verwaltung sechs Monate vor der Einführung zur Verfügung gestellt, erklärt Tang. Sie tun dann das Gleiche wie feindliche Hacker: nach Schwachstellen suchen, durch die sie in das System eindringen können – „Nur dass sie uns sagen, wie sie es geschafft haben.“ 

Mit Präsidentin Tsai Ing-wen (rechts) (Foto: Tsai Ing-wen via Twitter).

Die Hacker würden nicht von der Regierung engagiert, aber es besteht eine freundschaftliche Beziehung. Taiwans „White Hats“ organisieren sich in einem losen Netzwerk namens „g0v.tw“. Ohne sie wäre Tangs Vision von digitaler Demokratie nicht denkbar: „G0v“ schreibt Programme und baut Webseiten, die Regierungsarbeit in Taiwan öffentlich einsehbar machen. Eine Seite schlüsselt den jährlichen Staatshaushalt auf und illustriert die Finanzierung einzelner Positionen über Jahre hinweg.

Eine andere lässt Wähler*innen nachschlagen, wie Abgeordnete wann zu welchem Thema abgestimmt haben, eine Dritte sammelt alle Spenden, die in Wahlkampagnen geflossen sind. Sogar gegen Desinformation im Netz kämpft die Bewegung: Auf der Webseite cofacts.tw können Meldungen und Gerüchte eingereicht werden. Eine künstliche Intelligenz prüft sie dann auf Herkunft und Wahrheitsgehalt. Dass Audrey Tang das Vertrauen der umtriebigen Aktivist*innen genießt, liegt an ihrem politischen Werdegang: Sie ist eine von ihnen.

Von der Hackerin zur Ministerin

Bevor sie 2015 in die Politik geht, beteiligt sie sich als Programmiererin an der sogenannten „Sonnenblumenbewegung“. Diese will Taiwans Demokratie wehrhafter machen und experimentiert mit Basisdemokratie und radikaler Transparenz. 2016 wird die Hackerin dann von Taiwans neu gewählter Präsidentin Tsai Ing-wen für das Kabinett rekrutiert. Ihren politischen Wurzeln will sie auch als Ministerin treu bleiben: Jeden ihrer offiziellen Termine stellt Tang als Transkript oder Video ins Netz – ein Versuch gelebter Regierungstransparenz. Das Amt der Staatsministerin für Digitales wurde eigens für Audrey Tang eingerichtet, Taiwans bis dato jüngste Ministerin.

Gemeinsam für mehr Frauen in der Cybersicherheit (Screenshot, Video: Ministerium für Wissenschaft und Technik).

Mit der Wiederwahl von Tsai Ing-wen bricht 2020 auch Tangs zweite und letzte Amtszeit an. Die Tsai-Regierung stellt für sie eine Zäsur in Taiwans Regierungsgeschichte dar: „Mit ihrer Präsidentschaft kam dieses Konzept auf, dass Leute aufgrund ihrer Verdienste und Wertvorstellungen gewürdigt werden.“ Ein Bruch mit der politischen Klüngelei der Vergangenheit. Diesem frischen Wind verdanke sie auch, dass sie in ihrer fünfjährigen Amtszeit „nie Diskriminierung erfahren“ habe – und das als einzige offene Trans-Frau in Taiwans Parlament und erste transgender Ministerin weltweit.

Frauenförderung für mehr Cybersicherheit 

Doch trotz aller Fortschritte gibt es auch in Asiens digitaler Vorzeigedemokratie weiteren Verbesserungsbedarf: Taiwan leidet an einer chronisch niedrigen Frauenquote in den naturwissenschaftlich-technischen Fächern. Nur ein Viertel der Absolvent*innen sind Frauen, drei Viertel sind Männer. Die Ministerin will das ändern. Als Schirmherrin bewirbt sie eine neue Kampagne des Ministeriums für Wissenschaft und Technik: GiCS, Mädchen in die Cybersicherheit. Niedrigschwellige Wettbewerbe sollen Schülerinnen und Studentinnen zur Auseinandersetzung mit der Verteidigung im Netz motivieren.

Bei der ersten Runde im Februar waren bereits knapp 1.500 Teilnehmerinnen aus ganz Taiwan dabei. Eine der Initiatorinnen des Projekts ist Stella Lee; sie hat die Jury zusammengestellt. Die IT-Expertin leitet eine Firma im Bereich Datenverarbeitung und will mit dem Wettbewerb laut eigenen Angaben „Cybersicherheit schon in Oberstufe verankern und Mädchen für den IT-Bereich begeistern“. Dass Audrey Tang mit von der Partie ist, freut sie: „Die Staatsministerin hat für die Jugend Identifikationspotential, und ihr Werdegang ist ein positives Vorbild, das genau zur Veranstaltung passt.“ 

Audrey Tang sieht die Sache derweil gewohnt mathematisch: „Wenn wir die weibliche Teilnahme in der Cybersicherheit verbessern können, verdoppeln wir ganz schnell die Anzahl der White Hats in unserer Gemeinschaft.“ Und die braucht die Digitalministerin zur Verwirklichung ihrer Vision von digitaler Demokratie „im Kampf gegen autoritäre Kräfte“. 

Audrey Tang spricht in diesem Video über die digitale Demokratie Taiwans, über COVID-19 und die Bekämpfung von Desinformation (auf Englisch).

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Von Carina Rother, Taipei

Carina Rother ist freie Journalistin und Übersetzerin. Wenn sie nicht gerade für deutsche Radiosender schreibt, arbeitet sie an eigenen Dokumentarfilmprojekten und beschäftigt sich mit Erinnerungspolitik, Demokratiegeschichte, Arbeitsmigration, globalen Lieferketten und Militärstrategie in Asien. Die gebürtige Regensburgerin hat Taiwan 2016 zu ihrer Wahlheimat gemacht, nach einem Studium der Sinologie und Geschlechterforschung.

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Mareike GraepelHaltern
Die US-Amerikanerin Cindy O’Brien lebt seit den 90er Jahren in Connemara, ganz im Westen von Irland und züchtet seltene Seeschnecken. Die sogenannten japanischen Abalone gedeihen an der irischen Küste gut. Sie gelten als Delikatesse und Aphrodisiakum, kosten bis zu 44 Euro pro Kilo – und sehen aus wie Vulven.

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