Meistens sind es junge Männer, die fliehen. Sie wissen, dass sie dabei ums Leben kommen können. Die meisten wollen, wenn sie es schaffen, ihre Familien nachholen. Frauen dagegen sind eine Minderheit – und sie sprechen nur ungern über das Erlebte. Nach intensiver Recherche haben wir in Berlin drei Frauen getroffen, die uns Einblick in ihren Alltag und in ihre Gefühlswelt gewähren.
Von Njema Drammeh, Berlin
Im Büro des kleinen Flüchtlingsheimes in Berlin-Wedding herrscht Chaos: Akten stapeln sich, in der Mitte des Raumes steht ein Karton, der als Tisch fungiert. Darauf stehen Obst und Süßigkeiten. Auf einem kleinen Stuhl davor sitzt Aylin (alle Namen der Frauen und Kinder sind von der Redaktion geändert) und rührt sich nicht. Die 30-Jährige trägt ein Kopftuch, unter dem ihre braunen Haare hervorlugen. Ihr Mann lächelt ihr aufmunternd zu.
Das Ehepaar war drei Monate unterwegs, um aus Syrien nach Deutschland zu fliehen. Der Grund: In ihrer Heimat Damaskus herrscht Krieg. Einst kulturelles Zentrum des Orients, ist Syrien zum Ort des Schreckens geworden. Täglich sind die Menschen von Angst umgeben. Jeder Tag könnte ihr letzter sein. In den letzten Monaten sind deshalb Hunderttausende aus Syrien geflohen. Aylin und ihre Familie wollten der Heimat zunächst nicht den Rücken kehren. Doch als die Nachbarn Damaskus verließen und Aylins Familie die letzte war, die dort verharrte, trafen sie einen Entschluss: Aylin und ihr Mann sollten als Erste fliehen und den Rest der Familie später nachholen.
Deshalb verließ das Ehepaar Ende April 2015 Syrien und floh über die Türkei nach Griechenland und von dort aus nach Mazedonien, Serbien und Ungarn, bis es schließlich nach Deutschland kam. Eine lange Reise für die beiden: Sie lebten auf der Straße, hatten kaum Geld, wurden überfallen und wären beinahe ertrunken. Aylin beginnt von der Flucht zu erzählen. Spannung liegt in der Luft.
Ihr Bus wurde in der syrischen Stadt Idlib – unweit der türkischen Grenze – von einer bewaffneten syrischen Truppe angehalten. Männer stürmten den Bus, zielten auf Aylin und die anderen. Sie schrien. Kinder fingen an zu weinen. Es herrschte das pure Chaos. „Alle Männer raus aus dem Bus!”, riefen sie während sich der Gewehrlauf in den Rücken von Aylins Mann bohrte. Die Frauen mussten dabei zusehen, wie ihre Männer geschlagen wurden.
„Ihr seid gegen die Regierung! Dafür zahlt ihr”, brüllten die Milizionäre. Dann wandten sie sich den Frauen zu, die zusammengepfercht auf den Rückbänken kauerten. „Wir mussten ihnen Geld zahlen. Sonst hätten sie unsere Männer vor unseren Augen getötet”, beschreibt Aylin die Szene ruhig. Nur ihre zitternde Stimme verrät, wie sehr sich die Schreckensbilder in ihr Gedächtnis eingebrannt haben. Die Stimmung im Bus: bedrückend. Kein Wort von niemandem. Aber: Die Reise musste weitergehen.
In der Türkei blieben sie zweieinhalb Monate, übernachteten bei Bekannten, bis ihnen das Geld ausging. Sie mussten sich Geld leihen, um weiter in Richtung Griechenland reisen zu können. Rund 1.200 Euro pro Kopf verlangten die Schleuser für die Fahrt von Izmir nach Athen. Als es endlich losging, lagen die Nerven blank. Sechzig Passagiere stiegen auf das viel zu kleine Boot. Panik breitete sich aus. Nach einigen hundert Metern wurde die Fahrt abgebrochen.
Zehn Tage vergingen bis sie es erneut versuchten. Das Wetter war schlecht, der Himmel wolkenverhangen. Von oben stürzte Regen auf sie hinab, von unten drang unaufhörlich Wasser ins Boot. „Alle halfen mit, sonst wären wir ertrunken. Wir schöpften das Wasser mit unseren Händen aus dem Boot, während die Frauen zusätzlich ihre Kinder auf dem Arm hielten”, erzählt sie rückblickend.
Obwohl Aylin und ihr Mann in Deutschland in Sicherheit sind, denkt sie jeden Tag an ihre Familie: „Es ist, als wäre ein Teil von mir hier und ein anderer Teil dort geblieben.“ In Damaskus hatte Aylin nicht nur Familie, sondern Alltag. „Ich habe als Kassiererin in einem Supermarkt gearbeitet, Leute aus der Umgebung getroffen. Aber nach und nach zogen immer mehr Nachbarn weg. Es wurde gespenstisch leer.” Aylin ist froh, hier zu sein, möchte aber nicht für immer bleiben. Eines Tages will sie zurück nach Syrien.
Es gibt nicht den einen Flüchtling – alle sind unterschiedlich
Einige konservative Politiker sind skeptisch, wenn es um die Integration der vielen Flüchtlinge geht. Sie sehen westliche Werte wie die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in Gefahr. Die Soziologin und Geschlechterforscherin Sabine Hark von der Technischen Universität Berlin rät dazu, Vorurteile abzubauen und genau zu unterscheiden, welche Flüchtlinge welche Werte haben:
In Potsdam sitzt Jasmina im Zimmer einer Flüchtlingsunterkunft für Frauen. Die 35-Jährige kommt aus Mazedonien. Im Gegensatz zu Aylin ist Jasmina nicht mit ihrem Partner geflohen, sondern vor ihm. „Unsere Liebesgeschichte stand von Anfang an unter keinem guten Stern”, erzählt sie und schaut zu ihrer acht Monate alten Tochter. Er ist Muslim, sie Christin. In Mazedonien ist es ein gesellschaftliches Tabu, sich auf einen Partner einzulassen, der nicht derselben Religion angehört. Das war Jasmina anfangs egal: „Nach ein paar Wochen bemerkte ich, dass er unverhältnismäßig eifersüchtig ist. Er wollte mich immer häufiger sehen, tauchte auf meiner Arbeit auf oder lungerte in der Nähe herum. Nach ein paar Wochen stellte sich heraus, dass ich schwanger war.”
Doch das beruhigte ihren Freund nicht. Ganz im Gegenteil. Die Situation eskalierte und er fing an, Jasmina zu schlagen. Ihre Verletzungen häuften sich. Als sie ihn verlassen wollte, lauerte er ihrer Schwester auf. Er drohte, die Familie umzubringen. Danach brach die Schwester den Kontakt ab. Jasmina war nun auf sich allein gestellt. Obwohl sie immer öfter zur Polizei ging, passierte nichts.
Der Ex-Freund verfolgt Jasmina bis nach Deutschland
„Mein Ex-Freund arbeitet für die Regierung, und in Mazedonien arbeiten Regierung und Polizei eng zusammen. Er hat drei Menschen getötet, musste aber nicht ins Gefängnis. Stattdessen wurden Unschuldige belangt. Er ist ein einflussreicher Mann, der sich hinter dem korrupten System Mazedoniens versteckt”, sagt sie. Nach mehreren Krankenhausaufenthalten flüchtete sie nach Slowenien.
„Jedes Mal, wenn ich eine Grenze überquere, erfährt er irgendwie davon”, sagt Jasmina. Trotzdem gelang ihr die Flucht nach Deutschland. Hier kam sie bei einem Freund in Berlin unter. Doch auch hier fand er sie, attackierte sogar ihren Freund mit einem Messer und verletzte ihn schwer. „Ich war kurz davor, mein Kind zu verlieren”, erzählt sie. Mit einem Kaiserschnitt retteten die Ärzte Jasminas Leben und das ihrer Tochter Milena. Doch von Erleichterung keine Spur. Die Probleme fingen dann erst richtig an.
Immer noch geschwächt von der Geburt wartete Jasmina mit ihrem Neugeborenen neun Stunden vor dem LaGeSo, der Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Berlin. Dort wollte sie sich als Flüchtling registrieren. Um zu entscheiden, ob ein Flüchtling in Deutschland bleiben darf, gibt es eine Anhörung. Bei dieser müssen der Behörde sämtliche Verfolgungstatbestände des Asylsuchenden vorliegen. Erst dann entscheidet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) über eine Aufenthaltserlaubnis.
Die Flüchtlinge können innerhalb einer Woche Widerspruch einlegen. Doch nach der Anhörung musste Jasmina das Heim wechseln. Als das Schreiben in ihrem alten Heim ankam, war sie längst weg. Der Brief erreichte sie nicht mehr rechtzeitig. Die Widerspruchsfrist verstrich. Zu spät erfuhr sie, dass sie nicht in Deutschland bleiben darf. Da Mazedonien als sicheres Herkunftsland anerkannt ist, bekommt sie kein Asyl.
Der Traum vieler Flüchtlinge: eine Aufenthaltsgenehmigung
An der Wiesbadener Hochschule Rhein-Main beschäftigt sich Karin Scherschel mit Migrationspolitik. Seit 2005 gibt es die Anerkennung von geschlechtsspezifischen Verfolgungsgründen. Dazu zählen sexuelle Gewalt sowie Diskriminierung aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung. Scherschel sagt:
Selma und ihre Familie kommen aus Damaskus und haben genau das, wovon Jasmina träumt: eine Aufenthaltsgenehmigung. Seit November 2014 sind sie in Berlin-Schöneberg und bewohnen eine Vier-Zimmer-Wohnung. Das Wohnzimmer wirkt kargt. An den Wänden hängen keine Familienfotos. Nichts erinnert an die Vergangenheit. Die siebenköpfige Familie sitzt um den kleinen Tisch herum. Keiner traut sich zu sprechen. Trotz Deutschkurs reichen die Sprachkenntnisse für ein Gespräch nicht aus.
Deshalb übersetzt der Onkel, Dawud, das Gespräch. Er lebt seit vierzig Jahren hier. Nach der Ankunft nahm er die Familie bei sich auf, weil sie sich im Flüchtlingsheim unwohl fühlte. Immer wieder bedrohten Muslime Selmas christliche Familie. Auch die Wohnungssuche erwies sich als schwierig. Die Großmutter bezieht Geld vom Sozialamt, der Rest vom Jobcenter. Entweder waren die Wohnungen zu teuer oder den Hausverwaltungen war es zu kompliziert, dass die Miete von zwei Behörden kommt.
„Die erste Zeit war besonders schwierig“, erklärt Dawud. Neben seiner Arbeit musste er die Familie zu den Behörden begleiten und übersetzen. „Wenn ein Termin anstand und ich arbeiten musste, wollte ich übers Telefon übersetzen, aber Dolmetscher müssen physisch anwesend sein. Die Bürokratie machte uns das Leben schwer“, erklärt er. Außerdem seien es seine Verwandten nicht gewohnt, jeden Tag Briefe zu erhalten. In Syrien bekommen sie einmal pro Woche einen Brief. Hier flattern jeden Tag zehn Briefe ins Haus, die niemand versteht.
Flüchtlinge finden nur schwer Arbeit
Früher arbeitete Selma als Näherin, saß in ihrer freien Zeit gerne vor dem Haus und hatte engen Kontakt zu den Nachbarn. Heute verlässt sie das Haus für drei Stunden und besucht einen Deutschkurs. Der Rest des Tages ist geprägt von Langeweile. Asylsuchende haben nach ihrer Ankunft in Deutschland ein dreimonatiges Arbeitsverbot. Doch auch danach ist keine Besserung in Sicht. Selmas Cousin berichtet davon, dass er neun Jahre als Friseur gearbeitet hat, seine Zertifikate aber nicht anerkannt werden. Jetzt muss er in der Gastronomie arbeiten. Er sagt: „Ich habe keine Wahl. Ich will mich nicht isolieren.” Die Anerkennung von Bildungsabschlüssen ist nach wie vor ein großes Problem, meint Professorin Karin Scherschel:
Integration ist für Frauen wie Aylin und Selma kein Modewort. Es prägt ihren jetzigen Alltag. Sie wollen sich einbringen und einen Beitrag in der deutschen Gesellschaft leisten. Doch ob das gelingt, ist nach ihrer Ankunft vor allem eins: ungewiss.