Während der Herrschaft der Taliban in Afghanistan waren Kino und Fernsehen strengstens verboten, die Islamisten spießten TV-Geräte öffentlich auf Pfählen auf oder warfen sie bei Razzien aus Elektronikgeschäften auf die Straße. Sie waren erst wenige Wochen entmachtet, da brach Roya Sadat mit einer einzigen Kamera an die afghanisch-iranische Grenze auf, um ihren ersten Film zu drehen. Heute leitet sie eines der wenigen afghanischen Filmhäuser.
Von Veronika Eschbacher, Kabul
Es war finstere Nacht in dem Dorf an der afghanisch-iranischen Grenze, wenige Wochen nach dem Fall der Taliban. Roya Sadat, gerade 21 Jahre alt, stand auf dem Dach des Lehmhauses eines Dorfes und dirigierte im schwachen Licht einer alten Filmkamera ihre Schauspieler. Da bemerkte sie, wie sich aus weiter Ferne ein Motorrad näherte. Immer lauter wurde das Knattern. Seitdem die kleine Filmcrew ihren Fuß in das scheinbar gottverlassene Dorf gesetzt hatte, war sie vom Anführer einer bewaffneten Drogenbande, die das Gebiet kontrollierte und Opium aus dem Land schmuggelte, bedroht worden. Und mit jedem Drehtag wurden seine Drohungen und dessen Drängen, ihm zwei Mitglieder der Crew als Pfand zu überlassen, stärker. „Roya, warum hast du uns hierhergebracht, wir werden sterben!“, rief der Kameramann aus dem Hof zu ihr hinauf. „Wir wollen doch nicht sterben!“
Sadat drehte rasch das Kameralicht ab, ihr wurde schlecht und schwindlig vor Angst. Der Kameramann hatte sich direkt nach seinen Vorwürfen aus dem Staub gemacht, Sadat wies die restliche Crew an, sich in einer Ecke im Hof zu verstecken. Alleine trat die junge Frau wieder hinaus. Nach bangen Momenten stellte sich heraus, dass der Mann auf dem Motorrad zwar zu der Bande gehörte, aber seine hochschwangere Frau zum Arzt brachte. Der Schreck saß allen so tief in den Knochen, dass sie noch vor dem Ruf des Mullahs zum Morgengebet in ein anderes Dorf aufbrachen.
Vierzig Tage lang drehten Sadat und ihre Crew in diesem noch jungen Jahr 2002 im Grenzgebiet, es war ihr allererster Film. Das Land am Hindukusch lag nach der Herrschaft der Islamisten und dem Bürgerkrieg am Boden, Vieh- und Holzbestände waren lange aufgebraucht, Häuser und Straßen zerschossen und zerbombt. Die Medienlandschaft lag in Scherben, die Taliban hatten alle Fernsehsender als unislamisch verboten, nur Radio Scharia, das Sprachrohr des Regimes, sendete religiöse Programme, Doch kaum konnten Sadat und ihre sieben Schwestern sich nach fünf Jahren der Islamistenherrschaft, in denen die Mädchen nur zu Hause sitzen und lesen konnten, wieder frei auf der Straße bewegen, hatte Sadat nur eines im Sinn: ihren Film zu verwirklichen. Ihre Eltern hatten keine Einwände. „Sie waren immer offen und fortschrittlich eingestellt.“
„Mein Hals war ständig trocken”
Eine Kamera borgte sich Sadat von einem Fernsehsender in Kabul, denn in ihrer Heimatstadt Herat hatte sich keine auftreiben lassen. Auf die Idee für das Drehbuch war sie noch während der Taliban-Herrschaft gekommen, als sie Frauen getroffen hatte, die aus dem umliegenden Gebiet in die Provinzhauptstadt geflohen waren. Sie berichteten ihr von dem harten Leben an der Grenze, der Dürre, die fünf Jahre keine wirkliche Ernte zugelassen hatte, von den vielen Minenopfern und von ihren Ehemännern, die sich – unter finanziellem Druck – als Drogenkuriere hatten einsetzen lassen und seit Jahren nicht zurückgekehrt waren. Die wenigsten wussten, ob ihre Männer im Iran für ihr Vergehen eingesperrt oder gehängt worden waren. „Ich musste schon weinen, als ich das Drehbuch schrieb, mein Hals war ständig trocken“, erinnert sich Roya. „Die Realität aber war noch viel furchtbarer, als ich mir das in meinen schlimmsten Fantasien hätte ausmalen können.“
So hart stellte sich auch der Dreh heraus. Khaleda Khorsand, eine langjährige Freundin von Sadat, die die Filmemacherin regelmäßig in Kabul besucht, erzählt, Sadat sei damals ausgemergelt und mit einer „gänzlich anderen Gesichtsfarbe“ zurückgekehrt. Ihr Durchhaltevermögen und ihre Führungsstärke aber hätten bei der Filmcrew – Männern wie Frauen – einen bleibenden Eindruck hinterlassen. „Sie kam als Ikone zurück“, sagt Khorsand.
Der heute 35-jährigen Sadat selbst blieb vielmehr das Elend der Menschen in Erinnerung. In den Dörfern lebten nur noch Greise oder Frauen und Kinder in bitterster Armut. Wer bloß Wasser wollte, musste morgens mit dem Esel wegreiten und kehrte erst am Nachmittag zurück. Kinder stahlen einander gegenseitig das wenige harte Brot. „Kaum begannen wir zu kochen, kamen wegen des Dufts alle Kinder in heller Aufregung auf die Straße gelaufen.“ Heute könne sie niemandem mehr einen Vorwurf machen, der ob solcher Armut zur Waffe greife oder die kurze Zeit, in der man das karge Land bepflanzen kann, Opium anbaue, das um ein Vielfaches ertragreicher ist als Weizen und mit Glück die Familie über den Winter bringt. „Ich muss gestehen, wir haben uns damals mit den Menschen mitgefreut, als der Schlafmohn blühte.“
Sadat sandte nach Drehschluss die Kamera zurück in die Hauptstadt, musste dann aber ein ganzes Jahr lang darauf warten, dass der Film zum Schneiden auf einen Computer überspielt werden konnte. Doch danach ging alles Schlag auf Schlag. Sie erfuhr von einem Filmfestival in Kabul, konnte ihren Film „Seh Noktah“ (übersetzt „3 Punkte“) dort zeigen und gewann ihren ersten Preis – obwohl sie nicht mehr als ein Buch über Kameras von ihrem Onkel aus dem Iran bekommen und Regie- und Schreiberfahrung lediglich durch Theaterstücke, die sie und andere Mädchen mit 16, 17 Jahren heimlich während der Taliban-Zeit im Keller eines Krankenhauses veranstaltet hatten, gesammelt hatte.
Erstes Geld in eigene Kamera investiert
Eine afghanische Menschenrechtsorganisation kaufte schließlich die Rechte an „3 Punkte“. Es war nicht viel Geld, erzählt Sadat; sie hätte damals überhaupt keine Ahnung davon gehabt, wie man einen Film promotet. Es reichte aber, um zumindest die Schauspieler zu bezahlen und eine eigene Kamera zu kaufen. Nachdem der 55-minütige Film im afghanischen Fernsehen gelaufen war, seien Menschen auf sie aufmerksam geworden, die etwas von Marketing verstanden, erzählt Sadat. Die fiktive Geschichte von Gul Afrooz, der alleinerziehenden dreifachen Mutter im afghanisch-iranischen Grenzgebiet, die schließlich gezwungen ist, selbst Drogen zu schmuggeln, um ihren kranken Sohn zu retten, wurde schließlich auf 30 Filmfestivals weltweit gezeigt und erhielt zahlreiche Auszeichnungen.
Auf die Auszeichnungen folgten Stipendien für Sadat und ihre Schwester Elka, mit der sie 2003 in Herat das „Roya Film House“ gründete, an Filmakademien in Südkorea und Italien. „Roya ist nicht nur ein Name, das Wort bedeutet auch ‘Traum‘, und wir haben uns so unseren Traum verwirklicht“, sagt Sadat, die auch Jura abschloss. Mittlerweile haben sie und ihre Schwester mehr als 30 Filme und Dokumentationen, aber auch mehrere Fernsehserien mit teilweise über 50 Folgen gedreht. Sadat war oft Produzentin, Regisseurin und Drehbuchautorin gleichzeitig. Ihr Filmhaus habe sich noch einmal weiterentwickeln können, als Sadat 2009 einen Dozenten für Film an der Universität Kabul heiratete. „Ich sage nicht, Gott sei Dank bin ich verheiratet, sondern Gott sei Dank ist er auch in der Filmbranche.“
In den allermeisten Produktionen geht es um Menschen- und Frauenrechte. „Alle Filme, die ich gemacht habe, entspringen direkt meinem Herzen“, sagt Sadat. „Playing the Taar“ etwa dreht sich um das afghanisch-turkmenische Mädchen Ay Nabat, das zum Ausgleich einer jahrelangen Fehde einem Mann zur Frau gegeben wird, der bereits vier Mal verheiratet ist. Als sie schwanger wird, behauptet dieser, um die Ehre von Ay Nabats Familie zu beschämen, das Kind sei nicht von ihm und zwingt so indirekt Ay Nabats Vater dazu, seine eigene Tochter zu verstoßen oder gar zu töten. Das Ende bleibt offen. In der Fernsehserie „The Secrets of this House“ geht es um mehrere Brüder, die während des Bürgerkriegs ins Ausland flohen und nach ihrer Rückkehr aus den USA mit dem in Afghanistan verbliebenen Bruder darüber streiten, wer das Haus besitzt. „Das Haus ist ein Symbol für Afghanistan, die Serie wollte zeigen, dass das Haus uns allen gehört.“
“Fehlender Markt” für afghanische Kinofilme
Sadat thematisiert in ihren Filmen Gewalt an Frauen oder Zerwürfnisse zwischen den verschiedenen afghanischen Ethnien, die manche in dem konservativen Land lieber totschweigen. Manche Dokumentationen, in denen Personen gezeigt werden, die sich gegen die Taliban aussprechen oder die sehr heikle Themen ansprechen, zeigt sie bewusst nur einer kleinen Gruppe von Künstlern und Intellektuellen in Kabul. Auf breites Publikum verzichtet sie. „Sonst haben wir Drohungen von allen Seiten am Hals.“
Es ist aber nicht nur, wie sich in Sadats erstem Film deutlich offenbarte, die prekäre Sicherheitslage eine der größten Herausforderungen für afghanische Filmemacher. Die zweite große Hürde ist die Finanzierung von Projekten. Auch deswegen konnte sich Sadat ihren größten eigenen Traum noch nicht erfüllen – einen langen Kinofilm zu produzieren. „Es gibt keinen Markt für afghanische Kinofilme“, sagt Sadat. Im Land selbst sind nur einzelne Kinos in Betrieb, sie zeigen pakistanische Blockbuster und Bollywood-Filme. Eine staatliche Filmförderung gibt es nicht, der DVD-Markt ist mit billigen Raubkopien überschwemmt. Internationales Geld, das ins Land fließe, komme praktisch ausschließlich zu Nichtregierungsorganisationen zugute, die lediglich Projektfilme zu sehr abgesteckten Themen, bei oft sehr unerfahrenen Filmfirmen, beauftragen würden, kritisiert die Filmemacherin.
Und so hat Sadat ein fertiges Drehbuch in der Schublade, das bereits mehrfach ausgezeichnet wurde – aber nicht verwirklicht werden kann. Eine Zeitlang zeigte eine französische Filmfirma großes Interesse, aber im allerletzten Moment sprang sie aus Sicherheitsbedenken ab. Sadat sagt, sie arbeite jeden Tag bis Mitternacht, um die Finanzierung des „Roya Film Houses“ und ihrer Projekte zu sichern. Denn die afghanische Gesellschaft habe nicht nur das Bedürfnis, Filme zu sehen – es bestehe vielmehr eine Notwendigkeit dazu. „Ich bin zutiefst überzeugt von der Kraft und der Macht des Kinos“, sagt Sadat. „Kein Buch oder anderes Medium kann derart Stimmen von Unterdrückten erheben und gleichzeitig den Horizont der Menschen erweitern.“
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