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Ein aufsässiges Herz
Lin Ya-hsuan stemmt die Welt auf zwei Rädern

12. Januar 2022 | Von Carina Rother
Die taiwanesische Gewichtheberin Lin Ya-hsuan war 2000 erstmals bei den Paralympics in Sydney dabei, seitdem trainiert sie hart für eine Medaille.

Seit 20 Jahren nimmt Lin Ya-hsuan an internationalen Para-Wettkämpfen teil. Ihre Karriere beginnt zu einer Zeit, als Behindertensport in Taiwan noch kaum gefördert wird. Heute genießt die Sportlerin die steigende Aufmerksamkeit und erzählt ihre Geschichte an Schulen und Universitäten.

Von Carina Rother, Taipei

Lin Ya-hsuan* ist beim Training, wie fast jeden Tag. Die zierliche Frau mit den breiten Schultern bringt sich auf einer schwarzen Liege in Position. Ihre schmalen Beine fixiert sie mit einem Gurt, einen zweiten, breiten Riemen zurrt sie zur Stabilisierung fest um die Taille. Neben der Bank steht ihr Rollstuhl.

In einem kleinen Trainingszentrum in der westtaiwanischen Millionenstadt Taichung bereitet sich die Gewichtheberin auf den nächsten Wettkampf vor. Es wird ihr sechster World Cup. Eben erst ist Lin aus Tokio zurückgekommen, von ihrer sechsten Paralympiade. Dort stemmte sie 78 Kilo; Platz sieben in ihrer Gewichtsklasse.


 

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Der Sport sei für sie ein Weg, sich zu beweisen und die Welt zu sehen, sagt die 45-Jährige. Dass das sogenannte „Powerlifting“ immer noch als unweiblich gilt, ist ihr egal: „Die Leute sagen, dass du davon kräftige Arme kriegst. Aber ich bin auf die Kraft meiner Arme angewiesen. Für mich hat es Vorteile. Bei den Wettkämpfen merkst du auch, dass Gewichtheberinnen besonders selbstbewusst sind ­­– einfach cool.“

Die Athletin schiebt sich unter ihre Langhantel. Hinter ihr steht Trainer Eddie Chang, der eine 20 Kilo-Scheibe nach der anderen an der Hantel befestigt. Er ist beeindruckt von Lins Motivation: „Sie hat einen starken Willen, und das zeigt sich auch im Training. Sie hält durch, auch wenn es mal unangenehm ist.“ Dass sie sich heute mit Spezialtraining und Jahresstipendium auf die Wettkämpfe vorbereiten kann, war lange nicht selbstverständlich.

Lin Ya-hsuan beim Training (Foto: Carina Rother).

„Als ich 2000 bei meinen ersten Paralympics in Sydney war, hatte Japan bereits Live-Berichterstattung vor Ort. Damals wünschten wir uns, dass es das für Taiwan eines Tages auch geben würde.“ Ihr Wunsch sollte erst 2021 in Erfüllung gehen. Dazwischen lagen viele Jahre, in denen sich die Athletin ihre Wettkampfvorbereitung selbst finanzierte, nur für drei Monate vor der Abreise gab es ein Stipendium. Auch die Ausrüstung der behinderten Olympiat*innen war schlechter als die der nichtbehinderten.

Nicht aufgeben trotz ungleicher Chancen

Sie beschwerte sich bei Taiwans Olympischem Komitee: „Es ging uns nicht um die Gegenstände, sondern darum, dass wir gleichbehandelt werden wollten. Wir sitzen zwar im Rollstuhl, aber wir sind doch trotzdem Athleten.“ Viele ihrer Mitstreiter*innen hätten wegen mangelnder Mittel aufgeben müssen: „Wenn sich Realität und Träume nicht vereinbaren lassen, wird man sich immer für die Realität entscheiden.“ Aber Lin Ya-hsuan hat Kampfgeist. Schon als Schülerin nimmt sie täglich mehrere Stunden Fahrtzeit zu einem Trainingszentrum in Kauf, das auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist.

Später finanziert sie ihre Wettkampfvorbereitung durch Vollzeitarbeit. Erst in den vergangenen zwei Jahren, sagt Lin, hätten sich die Umstände für behinderte Profisportler*innen in Taiwan klar verbessert: „Seit den Asien-Spielen 2018 ist die Wertschätzung merklich gestiegen. Es gab Umstrukturierungen im Olympischem Komitee, und auch die Sportabteilung des Bildungsministeriums nimmt uns stärker wahr. Unser Standard wird langsam an den der Olympiaten angeglichen.“ Das ist auch dringend notwendig, wenn Taiwan weiter mithalten will; denn dass Behindertensport in anderen Ländern längst ein Profigeschäft geworden ist, merkt die Athletin bei internationalen Wettkämpfen seit Jahren.

Rollenspiel soll Kinder sensibilisieren(Foto: Carina Rother).

Im Trainingszentrum in Taichung gibt ihr Trainer das Startzeichen. Lin hebt die schwere Stange aus der Halterung, senkt sie über der Brust ab und stemmt sie nach oben. Erst 70 Kilo, dann 80. Im Training auch 90, um die Angst vor den schweren Gewichten zu überwinden. Für das paralympische Siegertreppchen hat es trotzdem noch nie gereicht. Der Hauptgrund: die Gruppeneinteilung bei Para-Wettkämpfen. In den meisten Disziplinen wird nach Behinderungsgrad unterteilt.

Als sie mit drei Jahren aus dem vierten Stock stürzt und dabei ihr Rückgrat irreparabel verletzt wird, scheint ihr Schicksal im konservativen Taiwan der 80er Jahre besiegelt: „Als Kind dachte ich, ich müsste mein ganzes Leben zu Hause verbringen. Das gesellschaftliche Umfeld damals, die öffentlichen Verkehrsmittel – nichts war auf uns ausgelegt.“

Keine Aussicht auf Medaillensieg

Sie kommt aus einfachen Verhältnissen, arbeitete nach dem Schulabschluss erst in einem Verlag, dann in einer Fabrik. Die herzliche, kontaktfreudige Frau tat sich anfangs schwer in der Arbeitswelt: „Mir fehlte das Selbstbewusstsein, weil da der Unterschied so sichtbar war und ich vieles nicht machen konnte. Das ging so weit, dass ich ablehnte, wenn Kolleginnen mit mir weggehen wollten, weil ich ihnen keine Umstände machen wollte.“

„Aber ich habe ein aufsässiges Herz. Innerlich fand ich immer, das kann doch nicht sein.“Ihr größter Wunsch: eine Auslandsreise. Aber kein*e Reiseveranstalter*in wollte sie mitnehmen, obwohl sie das Geld zusammen hatte – zu umständlich, hieß es. Schließlich fand sie einen zeitlich flexiblen Bürojob und konnte sich nebenher auf ihr Training konzentrieren. Die Gewichtheberin qualifizierte sich 1999 für die World Wheelchair Games in Neuseeland und nimmt seither mehrmals pro Jahr an weltweiten Wettkämpfen teil. So wurde schließlich der Sport ihr Ticket, um die Welt zu sehen.

Das Training ist zu Ende. Die Athletin schwingt sich von ihrem Rollstuhl auf den Motorroller, der vor der Tür auf sie wartet – das gängigste Fortbewegungsmittel in Taiwan. Ihrer ist behindertengerecht umgebaut, mit zwei Hinterrädern und einer Rollstuhlhalterung neben dem Lenkrad. Die eigene Mobilität sei ihr Schlüssel zur Freiheit. Überhaupt habe sich in Taiwan viel getan: „Inzwischen haben von zehn Gebäuden acht einen Behinderteneingang. Egal wo du hinkommst, es gibt überall einen Behindertenparkplatz.“

Sie saust durch die Straßen auf dem Weg zu ihrem nächsten Termin. Eine Mittelschule hat sie eingeladen, von ihrem Leben zu erzählen. Seit sieben Jahren geht Lin mit ihrer Geschichte in Schulen und Universitäten, Unternehmen und Vereine. Ihre Botschaft: Niemals aufgeben. Für ihr Engagement erhielt sie 2021 den präsidialen Bildungspreis. Seitdem sind die Anfragen noch zahlreicher geworden.

Heute hat Chen Yu-jie von der Eden Wohlfahrtsstiftung den Vortrag organisiert. Die Stiftung kooperiert schon lange mit der Motivationsrednerin: „Sie ist bereit, über ihre persönlichen Umstände zu reden. Sie kann ganz unaufgeregt über diese Dinge sprechen und ermutigt damit andere Menschen, auch ihre Träume zu verfolgen. Das ist sehr wertvoll“, findet Chen.

Die Motivationsrednerin freut sich, als sie in der Aula der Mittelschule ankommt und drei eigens eingezeichnete Stellplätze für Rollstühle vorfindet, auf dem Boden vor den regulären Sitzplätzen. Dann trudelt auch schon ihr Publikum ein, rund hundert pubertierende Jungen und Mädchen in blauen und pinken Trainingsanzügen. Zwei Stunden lang lauschen sie angeregt dem Vortrag dieser Frau vor ihnen im Rollstuhl, die schon überall auf der Welt war, sich mit den besten ihrer Disziplin misst und ihnen heute zwei Dinge vermitteln möchte: Mut zum Durchhalten und Respekt.

Regelmäßige Vorträge an Schulen(Foto: Carina Rother).

Respekt gegenüber Menschen, die andere Voraussetzungen haben als die meisten. Großes Gelächter, als Lin den Kindern in einem Rollenspiel vermittelt, wie es sich anfühlt, die eigenen Beine nicht benutzen zu können. Aber auch der Aha-Moment ist spürbar im Raum, und die Bewunderung. Eine Zehntklässlerin, selbst im Schulclub für Gewichtheben, resümiert: „Sehr beeindruckend. Sie hatte es schwer und hat trotzdem immer weitergemacht.“

Die Rednerin freut sich über die Aufmerksamkeit der Kinder. Sie hat viel zu tun dieser Tage, die Anfragen für Vorträge, das Training für die Wettkämpfe, und ein Studium der Japanologie hat Lin Ya-hsuan auch noch begonnen: „Ich mache jetzt nur noch das, was mir selbst Freude bereitet. Dann habe ich später, wenn ich alt bin und mich nicht mehr bewegen kann, viele schöne Erinnerungen und weiß, dass ich mein Leben nicht vergeudet habe.“


* Chinesischsprachige Namen werden hier entsprechend der originalen Schreibweise mit „Nachname Vorname“ angegeben.

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Von Carina Rother, Taipei

Carina Rother ist freie Journalistin und Übersetzerin. Wenn sie nicht gerade für deutsche Radiosender schreibt, arbeitet sie an eigenen Dokumentarfilmprojekten und beschäftigt sich mit Erinnerungspolitik, Demokratiegeschichte, Arbeitsmigration, globalen Lieferketten und Militärstrategie in Asien. Die gebürtige Regensburgerin hat Taiwan 2016 zu ihrer Wahlheimat gemacht, nach einem Studium der Sinologie und Geschlechterforschung.

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Mareike GraepelHaltern
Die US-Amerikanerin Cindy O’Brien lebt seit den 90er Jahren in Connemara, ganz im Westen von Irland und züchtet seltene Seeschnecken. Die sogenannten japanischen Abalone gedeihen an der irischen Küste gut. Sie gelten als Delikatesse und Aphrodisiakum, kosten bis zu 44 Euro pro Kilo – und sehen aus wie Vulven.

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