Die erste Gouverneurin Tokios erregt nach kurzer Zeit im Amt viel Aufsehen. Sie will exzessive Überstunden verbieten, ihr eigenes Gehalt halbieren und Tokio zum „Anime-Land“ machen.
Von Sonja Blaschke, Tokio
An Mut und Selbstbewusstsein fehlt es Yuriko Koike nicht. Von einem Fernsehmoderator nach ihrer Strategie für die Führung der japanischen Hauptstadt befragt, sagte sie schlicht: „Ich springe von der Klippe – und überlasse anderen die Beurteilung.“ Mit anderen Worten: Die neue Gouverneurin Tokios will Wagnisse eingehen und kümmert sich dabei nicht um die Meinung anderer. Schon in den ersten zwei Monaten ihrer Amtszeit sorgte sie für so viel Aufsehen, dass nicht wenige Bürger in ihr bereits jetzt die künftige erste Premierministerin sehen. Ihren Parteigenossen ist sie dagegen eher ein Dorn im Auge – zu unbequem und unberechenbar.
Ende Juli schaffte sie es als erste Frau auf einen der wichtigsten Posten Japans – und das, wie sie selbst nicht müde wird zu betonen – ohne die Unterstützung ihrer liberaldemokratischen Partei (LDP). Eigentlich hätte sie geduldig eine Nominierung abwarten sollen. Doch Koike setzte sich über diese Norm hinweg. Sie bewarb sich ohne Absprache mit der Parteiführung. Diese schickte verärgert einen Gegenkandidaten ins Rennen. Doch die eigensinnige frühere Umwelt- und Verteidigungsministerin zog mit über einer Million Wählerstimmen Vorsprung locker an ihrem parteiinternen Rivalen und 19 weiteren Konkurrenten vorbei. Dabei wähnten sie viele nach einer nur 55-tägigen Amtszeit 2007 als Verteidigungsministerin, die wegen internen Streitigkeiten jäh endete, schon im politischen Aus.
„Es gab das Sprichwort ‚Der Mann ist Mut und die Frau ist Charme.‘ Aber dieser Tage haben auch Frauen Mut“, sagte der frühere Premierminister Junichiro Koizumi japanischen Medien über Koikes Chuzpe, trotz ihrer Parteizugehörigkeit quasi als Unabhängige anzutreten. Sie war drei Jahre in seinem Kabinett Umweltministerin. Dass die LDP mit dem Gegenkandidaten Hiroya Masuda auf den Falschen setzte, ist peinlich für den amtierenden Premier Abe. Dabei betont der stets, wie wichtig es ihm sei, Frauen zu fördern. Doch das Verhältnis von Koike und Abe soll kein gutes sein.
Gegenwind aus Partei, Beleidigungen vom Vorgänger
Neben Gegenwind von ihrer eigenen Partei musste sich Koike Beleidigungen von einem ihrer Vorgänger, Shintaro Ishihara, der 13 Jahre lang Gouverneur von Tokio war, anhören. „Wir sollten nicht erlauben, dass die alte, alte Frau mit dem dick gepuderten Gesicht die Zügel der Tokioter Politik in die Hand nimmt“, sagte der 83-Jährige, der für skandalöse Sprüche berüchtigt ist, bei einer Wahlkampfveranstaltung für Masuda.
Doch von solchen Misstönen lässt sich Koike, abgebrüht nach 25 Jahren in der männerdominierten japanischen Politik, offenbar nicht beirren. Seit ihrem Sieg vergeht kaum ein Tag, an dem sie nicht in den Abendnachrichten auftaucht. Gleich zu Beginn ihrer Amtszeit im August schockte sie Japan mit der Nachricht, den für November geplanten Umzug des Tokioter Fischmarktes zu verschieben. Baumängel könnten die Lebensmittelsicherheit gefährden. Dann kündigte sie an, ihr Gehalt halbieren zu wollen. Das sorgte für Unmut unter den Stadtangestellten, da es ihnen erschweren würde, höhere Gehälter zu fordern. Der politische Kommentator Takao Iwami der Zeitung „Mainichi“ beschreibt sie als jemand, der in der politischen Welt für Wirbel sorgen könne. „Sie ist äußerst ehrgeizig und sehr geschickt.“
In ihrer einflussreichen Funktion, die dem Bürgermeisteramt ähnelt, regiert die 64-Jährige über rund 14 Millionen Tokioter mit einem Budget, das etwa dem von Schweden entspricht. Die wirtschaftliche Leistung der japanischen Hauptstadt ist vergleichbar mit der von ganz Indien. Die Megastadt verbraucht so viel Strom wie Indonesien, Philippinen und Vietnam kombiniert. Die meisten Großunternehmen haben dort ihren Sitz, ebenso die Medienhäuser. In Tokio laufen alle Fäden zusammen.
Besonders hohe Erwartungen
Nachdem ihre Vorgänger wegen finanzieller Ungereimtheiten weit vor Ablauf der vierjährigen Amtszeit zurücktreten mussten, haben die Tokioter nun besonders hohe Erwartungen an Koike. Zuoberst auf ihrer Agenda stehen die Olympischen Spiele in Tokio 2020. Koike soll nach einer Skandalserie die Vorbereitungen mit starker Hand führen und das Budget einhalten.
Außerdem wird von ihr – gerade als Frau – erwartet, mehr für Familien zu tun. Konkret fehlen in Tokio offiziell über 8400 Kindergartenplätze. „Es darf nicht sein, dass viele Frauen, wenn sie Kinder bekommen oder sich um Angehörige kümmern müssen, aus dem Arbeitsleben ausscheiden“, sagte Koike. Sie versprach den Tokiotern, die Gehälter von Kinderbetreuern anzuheben und mehr Krippen und Kindergärten einzurichten. „Ich glaube, indem wir die Mängel bei der Kinderbetreuung angehen, wird das der Durchbruch sein, um mehr Frauen ins Arbeitsleben zu bringen“, sagte Koike auf einer Pressekonferenz vor ausländischen Journalisten in Tokio. Politische Maßnahmen für Frauen würden „Glück in die Hauptstadt bringen“. Davon profitiere die ganze Stadt.
Ihrem Stab im Rathaus verbot sie, exzessiv lange Überstunden zu machen. Um acht werde das Licht ausgeschaltet, was die Mitarbeiter dazu anregen soll, nach Hause zu gehen. Wer länger bleibe, werde künftig streng kontrolliert werden, und zwar von einem noch zu bildenden „Überstundenvermeidungsteam“. Sie wolle mehr „Life-Work-Balance“ schaffen, sagte Koike. Sie verwende bewusst den Begriff „Work-Life-Balance“ umgekehrt, mit dem Leben an erster Stelle. Ihre Mitarbeiter sollen mehr Zeit mit ihren Familien genießen können. Koike hofft, dass das Beispiel in Japan, das für notorisch lange Arbeitstage berüchtigt ist, Schule macht.
Rastloses Leben
Ob sie sich selbst daran hält, bleibt unklar. In einem Blogeintrag vor einigen Jahren beschreibt sie ein rastloses Leben. Nur zwei Tage, nachdem ihr wegen eines Myoms die Gebärmutter entfernt wurde, hielt sie im Krankenhaus schon wieder Meetings ab. Ihr Zimmer sei neben der Entbindungsstation gewesen, schrieb Koike, die sich sonst sehr bedeckt hält, damals überraschend offen. Die Erkenntnis, dass sie nie mehr eigene Kinder würde haben können, habe sie schwer getroffen. Darüber hinaus ist über die frühere Fernsehmoderatorin, die vor 25 Jahren in die Politik wechselte, überraschend wenig bekannt. Mit 21 Jahren war sie kurz mit einem Landsmann in Ägypten verheiratet. Seither ist sie offiziell alleinstehend.
Doch dieses verletzliche Gesicht zeigt sie selten. Auch ihre alberne Seite kommt hinter der sonst perfekt gewahrten Fassade nur manchmal und dann gezielt zum Vorschein. Bei einer Wahlkampfrede in Akihabara, Tokios Lieblingsdistrikt für Comic-Fans mit unzähligen Manga-Cafés, Comic-Läden und Elektronikläden für Computerspielfans, sagte sie, sie wolle Tokio in ein „Anime-Land“ verwandeln. „So können wir Touristen anziehen und Tokio wieder gesund machen“, sagte Koike, die sich in der Vergangenheit nicht scheute, ins Kostüm einer beliebten Manga-Figur zu schlüpfen, rotes Minikleid und blonde Perücke inklusive. „Wählt die hexende Yuri zur Gouverneurin!“, rief sie ihren Fans in Akihabara zu.
Koikes vielseitige Maßnahmen und Reformpläne zeigen: Sie will sich weder beschränken noch auf eine Linie festlegen. Auch politisch. Wo man in Deutschland von einer erklärten Umweltschützerin, die Bücher über Umweltschutz schreibt und stolz von ihrem Ökohaus erzählt, erwarten würde, dass sie eher dem linken Spektrum nahe steht, ist bei Koike das Gegenteil der Fall. Sie ist ultrakonservativ, und das nicht nur, weil sie der LDP angehört. Sie ist eine der führenden Kräfte in der mächtigen Lobbyorganisation Nippon Kaigi. Diese verfolgt offen revisionistische Ziele: Japan, das im Zweiten Weltkrieg in Asien einen aggressiven Angriffskrieg führte, soll von seiner Schuld reingewaschen werden. So werden in Schulbüchern Details zu Schandtaten der imperialen Armee im Zweiten Weltkrieg weitgehend auslassen. Stattdessen will man in den Jugendlichen lieber den Patriotismus wecken. Die pazifistische Nachkriegsverfassung zu reformieren ist eine Herzensangelegenheit des amtierenden Premiers Abe. Dieser hat bereits begonnen, durch eine „Neuinterpretation“ der Verfassung den Umbau der „Selbstverteidigungsarmee“ zu einem „richtigen“ Militär einzuleiten.
„Es ist erfreulich, dass es mehr Frauen in Führungspositionen gibt”, kommentierte die Professorin Kaori Hayashi, die an der Universität Tokio Medien und Journalismus unterrichtet, Koikes Wahlerfolg auf Anfrage von „Deine Korrespondentin“. „Aber Gouverneurin Koike hat äußerst rechtsgerichtete Ideale und ist inmitten eines Netzwerkes solcher Kontakte als Politikerin groß geworden. Eigentlich bedingen die Wertvorstellungen von Frauen, dass der Einfluss von Nationalisten auf die Politik schwächer wird, aber dass dies hier nicht der Fall ist, empfinde ich als Dilemma“, sagte Hayashi.
Allerdings ist Koike nicht so untypisch, wie diese Aussage vermuten ließe, im Gegenteil. Die meisten Frauen, die unter Premierminister Abe ins Kabinett vorrückten, zeichnen sich nicht durch ihren besonderen Einsatz für Frauen oder Familien aus, sondern dadurch, dass sie mit Abe und den anderen Machteliten am gleichen ultrakonservativen Strang ziehen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist Tomomi Inada, die zweite Frau, die es nach Koike an die Spitze des Verteidigungsministeriums schaffte: Sie lehnt es ab, dass sich Japan explizit für seine Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg bei den Nachbarn in Asien entschuldigt.
Abweichungen von erzkonservativer Linie
Trotzdem weicht Koike immer wieder von der typischen Linie der Erzkonservativen ab. Anders als ihre Parteikollegen unterstützt sie als eine der wenigen Politikerinnen in Japan das Wahlrecht für in Japan ansässige Ausländer. Diese Einstellung rührt wohl von ihrer Herkunft aus der Handelsstadt Kobe, eine der weltoffensten Städte Japans. Ihr Großvater und Vater handelten im oder mit dem Ausland, sie selbst studierte mehrere Jahre in Kairo, spricht fließend Arabisch und Englisch. Sie hat dadurch einen Blick auf ihre Heimat von außen, über den die wenigsten Japaner verfügen.
Koike ist nicht die erste Gouverneurin oder Bürgermeisterin in Japan. Fumiko Hayashi zum Beispiel steht seit 2009 erfolgreich der benachbarten Millionenstadt Yokohama vor. Doch der Einflussbereich Koikes ist ungleich größer. Viele munkeln bereits jetzt, ob Koike, falls sie erfolgreich im Amt bleibt, bereits auf das nächste Ziel hinarbeitet: Premierministerin zu werden, vielleicht sogar mit einer neuen Partei. Koike war bereits bei mehreren Parteineugründungen involviert. Dann würde sie nicht nur als die erste Verteidigungsministern und erste Gouverneurin in die Geschichte eingehen, sondern auch als Japans erste Premierministerin.