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Die Unsichtbaren
Undokumentiert in den Niederlanden

16. September 2024 | Von Sarah Tekath | 11 Minuten Lesezeit
Shi lebt undokumentiert in den Niederlanden. Fotos: Esther Frank

Tausende Migrant*innen kommen jährlich in die Niederlande, doch nicht alle bekommen einen Aufenthaltstitel. Wer abgelehnt wird, es aber schafft, der Ausweisung zu entgehen, bleibt illegal im Land. Damit beginnt ein zermürbendes, endloses Versteckspiel. 

Von Sarah Tekath, Amsterdam

 

Zusammenfassung:

Shi, eine junge Chinesin, lebt ohne Papiere in den Niederlanden. Sie floh mit ihrer Familie vor religiöser Verfolgung und lebt nun versteckt, ohne Bankkonto, Krankenversicherung oder Meldeadresse. Ihr Asylantrag wurde abgelehnt. Tausende undokumentierte Migrant*innen leben in ständiger Angst vor Entdeckung und Abschiebung. Organisationen wie das Rote Kreuz bieten Hilfe, doch der Alltag bleibt schwierig. Der Rechtsruck in den Niederlanden könnte die Situation weiter verschärfen und diese Menschen noch mehr an den Rand der Gesellschaft drängen.

 

Hier nur Kartenzahlung. Es sind Momente wie diese, die Shi jeden Tag aus der Bahn werfen können. Denn die junge Frau hat weder ein Bankkonto noch eine Krankenversicherung, keinen Personalausweis und keine Meldeadresse. 2015 kommt sie mit ihren Eltern in die Niederlande, in der Hoffnung auf Asyl als politisch Verfolgte. Sie ist 18 Jahre alt.

In ihrem Heimatland China gehörten sie der christlichen Glaubensgemeinschaft an. Doch die existierte nur im Verborgenen. Der Staat geht hart gegen alle religiösen Gruppen vor. Meldungen zu der muslimischen Minderheit der Uiguren und den sogenannten „Umerziehungslagern“ füllen seit einigen Jahren internationale Medien. Weniger bekannt ist die Unterdrückung von Christ*innen in China. 

„Unsere Gottesdienste haben wir im Wohnzimmer abgehalten. Wer rein wollte, musste ein bestimmtes Klopfzeichen kennen“, erinnert sich Shi, für die in diesem Artikel aus Sicherheitsgründen der Vorname reichen muss. „Kam jemand auffällig früh oder spät, haben wir die Tür nicht aufgemacht.“ 

Nachdem Shi aus China geflüchtet ist, lebt sie nun wieder im Versteck.

Gesänge gab es bei den Messen auch nicht, denn die hätte jemand hören können. Freund*innen hat sie kaum, aus Angst, dass ihre Religionszugehörigkeit auffliegen könnte. Selbst innerhalb der Gruppe benutzen die Mitglieder oft nicht ihre richtigen Namen. Doch trotz aller Sicherheitsvorkehrungen kommt der Staat ihnen auf die Schliche. Eines Tages wird ein Gemeindemitglied verhaftet. Alle wissen, was das bedeutet.

Jede*r kennt Erzählungen von Christ*innen, die bei Polizeiverhören misshandelt und gefoltert wurden, um andere Gemeindemitglieder zu verraten. Auch ihr Vater, damals angestellt bei der Regierung, soll andere denunzieren, um seine eigene Familie zu schützen. Shi und ihren Eltern bleibt nur wenig Zeit. In aller Eile packen sie ein paar Sachen zusammen, sie beten und flehen Gott um Hilfe an. Ihre Mutter regelt die Ausreise über ein Reisebüro und muss dafür viel Geld auf den Tisch legen. 

Antrag abgelehnt

In den Niederlanden kommen sie in ein Auffanglager für Geflüchtete und werden in unterschiedlichen Räumen mit Übersetzer*innen zu ihrer Geschichte befragt. „Ich konnte ein bisschen Englisch. Seit damals, bis heute, habe ich das Gefühl, dass ich die Verantwortung habe für meine Familie. Es war, als müsste ich über Nacht erwachsen werden.“ Der Beamte fragt nach Beweisen. Shi hat keine. Dass die Gemeinde aus Angst vor der Regierung weder Fotos gemacht noch Chats benutzt hat, wird ihnen zum Verhängnis. 

Nach mehr als einem Jahr in dem Camp für Geflüchtete erhält Shis Familie einen Brief. Ihr Antrag auf Asyl wird abgelehnt, sie werden ausgewiesen. Angefügt ist ein Schreiben mit mehreren Terminen mit den verantwortlichen Behörden, um die Ausreise zu regeln. Shi und ihre Eltern gehen nicht hin, stattdessen verlassen sie das Camp unbemerkt. Durch fremde Hilfe finden sie eine Wohnung. 

Doch in Sicherheit ist Shi damit nicht. Denn was sie erwartet, ist ein Leben im Verborgenen. „Eigentlich kann ich nichts machen, wofür ein Ausweis erforderlich ist. Ich kann nirgendwo mit Karte zahlen, weil ich kein Bankkonto habe. Ich kann nicht einmal ein Paket bei der Post abholen.“ In China war Shi im ersten Semester an der Universität, in den Niederlanden ist an eine weitere Schulbildung gar nicht zu denken. 

Stattdessen bringt sie sich selbst Niederländisch bei, hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. „Ich habe wirklich schon alles gemacht: Babysitten, Putzen, Übersetzungsaufgaben.“ Von anderen Undokumentierten weiß sie, dass es Arbeitgeber*innen gibt, die die Situation ausnutzen. „Sie weigern sich, den Lohn auszuzahlen und drohen damit, die Leute bei der Polizei anzuzeigen.“ Shi hat bisher Glück gehabt. Hoffnung hat sie trotzdem keine mehr. 

Wie in einem kleinen Zimmer

Zwar, so sagt sie, gebe es die Möglichkeit, den Asyl-Antrag erneut prüfen zu lassen, doch das sei nur möglich, wenn auch relevante neue Informationen geliefert werden. Doch genau die hat Shis Familie nicht. Beweismaterial gibt es keines und um die anderen Gemeindemitglieder in China zu schützen, haben sie alle Kontakte abgebrochen. Für Shi bedeutet das, von dem einen Leben im Versteck in ein anderes Leben im Versteck geraten zu sein. 

Zwar ist sie glücklich, dass sie und ihre Familie nun ihren Glauben frei und in Sicherheit ausüben können, doch die Einschränkungen ihrer Möglichkeiten setzen ihr zu. „Es fühlt sich an, als würde ich in einem ganz kleinen Zimmer sitzen und könnte nicht raus.“ Dennoch glaubt sie, dass ihre Familie die richtige Entscheidung getroffen hat. „Es war Gottes Wille, uns hierherzuführen. Daran glaube ich ganz fest.“ 

Carry van Wersch arbeitet seit drei Jahren beim niederländischen Roten Kreuz und ist Leiterin des Programms „Migranten in einer verletzlichen Lage“. Die Organisation hilft Undokumentierten unter anderem mit Obdach, Lebensmittelversorgung und Informationen zu Rechten und weiterführender Hilfe. Sie weiß, dass eine konkrete Angabe, wie viele Menschen illegal im Land leben, schwierig ist. 

Hilfsorganisationen und die Regierung gehen von 23.000 bis 58.000 Personen aus, allerdings stammen diese Zahlen aus dem Jahr 2018. „Wir arbeiten seitdem mit diesen Zahlen, können aber nicht sagen, ob sie zu- oder abgenommen haben. Genauso wie man in ganz Europa nicht weiß, um wie viele Menschen es eigentlich geht.“ Sie erklärt, aus welchen Gründen Personen undokumentiert sein können. 

Es könne sein, dass der Asylantrag abgewiesen wurde oder über sie über ein Heiratsvisum Aufenthaltsrecht hatten, sich dann aber ihre Lebenssituation geändert habe. Viele Menschen kämen auch zum Arbeiten in die Niederlande – aus Brasilien, Indonesien oder den Philippinen. Sie arbeiteten illegal etwa als Reinigungskraft, in der Kinderbetreuung oder in der Gastronomie. Viele fänden über ihre bereits bestehenden Netzwerke eine Unterkunft. Es sei schwierig, konkret zu sagen, wie das Leben einer undokumentierten Person aussehe. 

„Es ist eine diverse Gruppe. Es hängt sehr von verschiedenen Faktoren ab“, so van Wersch. Das Alter, die Sprachkenntnisse oder die Erwerbsfähigkeit spielten eine Rolle. „Aber sicher können wir sagen, dass sie von der Gesellschaft ausgeschlossen sind und in ständiger Angst leben, entdeckt, in Verwahrung genommen und abgeschoben zu werden.“ 

Selbst Kleinigkeiten wie über eine rote Ampel gehen oder ohne Licht Fahrrad fahren können ein großes Risiko bergen, wenn sie dafür von der Polizei angehalten werden. Gerade dieser Druck mache diese Menschen so anfällig für kriminelle oder sexuelle Ausbeutung. Generell hätten undokumentierte Personen kein Anrecht auf Obdach, sie dürfen also nicht in Obdachlosenunterkünfte, außer bei Außentemperaturen unter null Grad. 

Überall Hindernisse

Carry van Wersch ist beim niederländischen Roten Kreuz für das Programm Verletzliche Migrant*innen zuständig. I Foto: Nikki Ywema

Allerdings hätten einige Städte mittlerweile spezielle Unterkünfte für Undokumentierte eingerichtet. Außerdem bestehe kein Recht auf eine Lebensmittelversorgung, die Betroffenen können also nicht zu offiziellen Essensausgaben gehen, sondern seien abhängig von lokalen Nachbarschaftsinitiativen.

„Im Gesundheitssystem ist die Betreuung Undokumentierter zumindest auf dem Papier vergleichsweise gut geregelt. Alle haben ein Recht auf eine medizinisch notwendige Versorgung. Menschen können auch bei der Polizei Anzeige erstatten, ohne dass sie verhaftet werden dürfen. Aber leider bleibt es in der Praxis problematisch – aufgrund von Unwissen oder Überlastung des Personals.“ 

Zudem, so van Wersch, sei es den Personen nicht gestattet, offiziell zu arbeiten. So seien sie gezwungen, illegal zu arbeiten, was zu Unterbezahlung, Ausbeutung bis hin zu Menschenhandel führen könne. Auch im alltäglichen Leben gäbe es reichlich Hindernisse, so die Expertin: Beim Eröffnen eines Bankkontos oder dem Erwerb einer Sim-Karte – im Grunde bei allem, wofür ein Ausweis benötigt wird. Selbst Bus und Zugfahren, wo oft nur noch Kartenzahlung möglich ist, werde zum Problem.

Gefahr nach Rechtsruck?

Nach dem Rechtsruck der letzten Wahlen im November 2023, aus der die rechtsextreme Freiheitspartei PVV als Siegerin hervorgegangen ist, haben die Niederlande nun die rechteste Koalition ihrer Geschichte. In dem kürzlich veröffentlichten Koalitionsvertrag liegt der Fokus auf dem Umgang mit Migrant*innen. Im Rahmen des so genannten Asyl-Krisen-Gesetzes soll ein sofortiger Bearbeitungsstopp von Anträgen in Kraft treten und Menschen ohne Bleiberecht sollen konsequent abgeschoben werden. 

Carry van Wersch will die Auswirkungen der Pläne der neuen Regierung erst einmal abwarten. „Jede Koalition muss sich an niederländisches und europäisches Recht halten und ich habe Vertrauen in die Regierung, dass sie das auch tut, aber wir müssen abwarten, was in Zukunft passiert. Darüber können wir nicht spekulieren.“ Dass Menschen ohne Papiere aufgespürt und abgeschoben werden, sei ein Albtraumszenario, doch sehe sie dafür aktuell noch keine Anzeichen. Sicher sei aber, dass die aktuelle politische Situation Menschen, die bereits außerhalb der Gesellschaft leben, noch weiter in die Unsichtbarkeit drängen könnte.


 

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Von Sarah Tekath, Amsterdam

Sarah Tekath kommt ursprünglich aus dem Ruhrgebiet, hat in Prag gelebt und schrieb dort als Freie für die Prager Zeitung und das Landesecho. Im Jahr 2014 zog sie nach Amsterdam, wo sie unter anderem für das journalistische Start-up Blendle arbeitete. Seit 2016 ist sie selbständige Journalistin und hat sich in den vergangenen Jahren vor allem auf die Produktion von Podcasts spezialisiert.

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