Die Amtszeit der ersten Präsidentin Taiwans geht zu Ende. Tsai Ing-wen regierte in einer Zeit, als Chinas Druck auf die demokratische Insel stetig stieg. Sie kämpfte für Taiwans Sichtbarkeit in der Welt – und hat mit ihrer progressiven Politik das Land geprägt.
Von Carina Rother, Taipei
Taipei, 13. Januar 2024. Ein Meer aus grünen und rosa Fahnen wogt in der Dunkelheit über dem Vorplatz der DPP-Zentrale. Die Partei feiert einen nie dagewesenen Wahlsieg in 30 Jahren Demokratiegeschichte in Taiwan: eine dritte Legislaturperiode als Regierungspartei. Es gibt Freudentränen und Jubelschreie. Wahlen in Taiwan sind so emotional wie kaum irgendwo.
Immer steht die Zukunft der selbstregierten Insel vor Chinas Küste auf dem Spiel. „Eine Stimme für die DPP bedeutet kein Friede mit China“, hatte der Oppositionskandidat gewettert. „Unsere jungen Leute werden in den Krieg ziehen müssen“, warnte er. Das Versprechen des DPP-Kandidaten Lai Ching-te* war simpel: Er wird den Kurs der amtierenden Präsidentin fortsetzen, die nach zwei Amtszeiten abtreten muss – so will es die Verfassung.
Ihr gilt der lauteste Jubel, als sie ans Rednerpult tritt. Tsai Ing-wen, die erste Frau an der Spitze der Insel. Acht turbulente Jahre hat sie das Land geführt: Durch das Minenfeld der angespannten China-Beziehungen, durch eine globale Pandemie, durch Meilensteine im eigenen Land von der Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe bis zur Anhebung der Wehrpflicht von vier Monaten auf ein Jahr.
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In Bezug auf China hielt sie Taiwans Souveränität hoch und zeigte sich unbeeindruckt von zunehmenden Militärmanövern in der Taiwanstraße. In der Welt setzte sie sich unermüdlich dafür ein, Taiwan als bedrohte Demokratie sichtbar zu machen. Im Mai 2024 wird sie abdanken. Ihr Appell an die Bevölkerung am Abend nach der Wahl: „Geeint, geeint, und nochmals geeint wollen wir uns für Taiwans Zukunft einsetzen. Dies ist unsere gemeinsame Heimat, in der wir leben.“
Medienscheue Katzenliebhaberin als Präsidentin
Das war stets ihr Anspruch: In einem gespaltenen Land die Präsidentin aller zu sein. Mit ihrem nüchternen, strategieorientierten Führungsstil hat sich die 67-Jährige den Respekt der Öffentlichkeit erarbeitet. Angeblich diente Angela Merkel als Vorbild für die promovierte Ökonomin und Juristin. Sie hätte aber besser Geschichte studiert, erzählt Tsai lachend, „denn Tote widersprechen nicht“. Das sagt die medienscheue Präsidentin in der 2023 erschienenen Hollywood-Dokumentation „Invisible Nation“ über Taiwan unter Tsai.
Sonst sind Interviews mit ausländischen Medien selten, mit taiwanischen noch seltener. Tsai Ing-wen hat stattdessen streng kontrollierte Auftritte im schlichten schwarzen Hosenanzug zu ihrem Image gemacht. Dass sie auch eine weiche Seite hat, verraten nur die zwei Katzen Think Think und Ah Tsai, die zu Tsais Markenzeichen geworden sind. Ihr Privatleben spielt in Taiwan sonst keine Rolle, ihr Frausein fast keine. „Die meisten Menschen sehen es als eine Errungenschaft an, dass wir eine Frau gewählt haben“, erklärt Liu Wen.
Liu ist Assistenzprofessorin für Ethnologie an der Academia Sinica und lehrt Queer Theory an Taiwans angesehener National Taiwan Universität. Die Wahl hat sie als linksfeministische Wissenschaftlerin mitverfolgt. Taiwan profitiert vom entschlossenen Führungsstil seiner Präsidentin. Denn China betrachtet die Insel als Teil seines Staatsgebiets, das es langfristig zurückzuholen gilt – mit Gewalt, wenn nötig. Das untermauert die Volksrepublik seit Tsais Amtsantritt 2016 mit immer größeren Militärübungen in der Taiwanstraße.
Peking die Stirn bieten
In den Augen Pekings ist die demokratisch gewählte Staatschefin eine „Separatistin“, mit der Verhandlungen ausgeschlossen sind. Tsai hält dagegen, dass sie stets zu einem Dialog auf Augenhöhe bereit sei. Von Drohungen lasse sie sich aber nicht einschüchtern. „Die Zukunft des Landes soll von den 23 Millionen Taiwaner*innen selbst entschieden werden“, betont die Präsidentin bei jeder Gelegenheit und stellt sicher, dass das Land für den Ernstfall gerüstet ist.
Eine Präsidentin, die sich gezielt bei Truppenübungen ablichten lässt, Waffenkäufe abschließt und in heimische Verteidigungstechnologie investiert – das steht im Kontrast zur Linie ihres Vorgängers von der KMT. Der setzte auf Beschwichtigung des übermächtigen Nachbarn – und gefährdete Taiwans Selbstbestimmung, kritisierte die Opposition. „Tsai Ing-wen hat stets ihr großes Vertrauen in das taiwanische Volk betont, und dass wir die Fähigkeit haben, uns zu verteidigen, und dass es gut und ehrenhaft ist, dies zu tun“, erklärt Sozialwissenschaftlerin Liu. In ihren Kreisen werde Militarisierung kritisch gesehen.
„Aber aufgrund der geopolitischen Spannungen haben wir erkannt, wie wichtig Verteidigung ist“, sagt sie. Seitdem die Volksbefreiungsarmee begonnen hat, eine Invasion Taiwans zu simulieren, formiert sich in Taiwan ein Wille zum Widerstand. Freiheit, Demokratie, Selbstbestimmung – das sind die Werte, mit denen junge Generationen aufgewachsen sind. In Workshops proben sie Erste Hilfe und Zivilverteidigung – vor Tsai Ing-wens Amtszeit undenkbar. Liu Wen berichtet: „Meiner Erfahrung nach nehmen an diesen Workshops 60 bis 70 Prozent Frauen teil. Natürlich liegt das an der allgemeinen Sorge. Aber Tsais anhaltender Push für ein selbstbewusstes Taiwan hat definitiv etwas damit zu tun.“
Die isolierte Insel sichtbar machen
Die Präsidentin hat auch im Ausland viel bewirkt. „Ihre wichtigste Leistung war, Taiwan auf der Weltkarte sichtbar zu machen“, meint die Expertin. Nach acht Jahren KMT-Regierung war die internationale Wahrnehmung Taiwans durch die Beziehung zu China definiert, doch Tsai habe unermüdlich um Solidarität für das Land als bedrohte Demokratie geworben. Die Hürde: Taiwan existiert in einer Grauzone. Offiziell die „Republik China (Taiwan)“, wird die Insel von kaum einem Land der Welt anerkannt. In den Vereinten Nationen, WHO, Interpol etc. hat Taiwan keinen Platz.
Staatsname und internationale Isolation sind Folgen des chinesischen Bürgerkriegs (1945 bis 1949), der China in zwei Regime teilte, von denen nur eines anerkannt wird. Doch Taiwan kann den antiquierten Status quo nicht ändern, ohne einen Angriff Chinas zu provozieren. Mit einem genialen Handgriff umschifft Tsai Ing-wen diese gefährliche Lage. „Wir müssen unsere Unabhängigkeit nicht erklären“, sagt sie 2020 im BBC-Interview. „Wir sind bereits ein unabhängiges Land mit dem Namen Republik China, Taiwan.“ Damit betonte sie Taiwans Souveränität und signalisierte gleichzeitig der Welt, sie werde keinen Krieg riskieren.
Tsais Imagekampagne hat Erfolg. Gleich zweimal prangte sie auf dem Titelbild der renommierten britischen Zeitschrift „Times“: einmal als Staatschefin „der einzigen chinesischen Demokratie“, später als eine der 100 einflussreichsten Menschen 2020. Das erfolgreiche Corona-Management ihrer Regierung machte weltweit Schlagzeilen. Als Taiwan als erstes Land Asiens 2019 die gleichgeschlechtliche Ehe einführte, zementierte es sein Image als progressiv und weltgewandt.
Neue Richtung für frühere Oppositionspartei
Im eigenen Land, sogar innerhalb der eigenen Partei, wurde der Vorstoß hingegen kontrovers diskutiert, berichtet Queer-Studies-Dozentin Liu: „Tsai setzte viel aufs Spiel, als sie sich für gleichgeschlechtliche Ehe stark machte. Es war kein Konsens in der DPP.“ In den fünf Jahren seit der Ehegleichstellung wuchs die gesellschaftliche Akzeptanz stetig. Gleichgeschlechtliche Paare können in Taiwan so selbstverständlich und sichtbar leben, heiraten und Familien gründen wie in keinem anderen Land der Region; die Taipei Pride Parade zieht jährlich Besucher*innen aus ganz Asien an.
Auch an anderer Stelle machte Tsai Ing-wen progressive Politik. Dazu gehören eine offizielle Entschuldigung bei Taiwans indigenen Gruppen für das erlittene Leid der Kolonialzeit sowie eine Kampagne zur Vergangenheitsaufarbeitung, die historisches Unrecht aus der Diktaturzeit verarbeiten sollte. Sie hat außerdem ihre Partei, deren Vorsitzende sie insgesamt zehn Jahre lang war, als Volkspartei etabliert.
Die DPP, die aus der Untergrund-Opposition der Diktaturzeit hervorgegangen war, stand lange nur für Unabhängigkeit, taiwanische Lokalidentität und Widerstand gegen die frühere Einparteiendiktatur der KMT. Das hat sich inzwischen geändert, beobachtet Liu Wen: „Während der Tsai-Regierung wandelte sich die DPP von einer bloßen nationalistischen Partei zu einer Partei, die tatsächlich für internationale progressive Themen stand, einschließlich Anti-Atomkraft, Indigenen-Rechte und queere und feministische Rechte“, sagt die Sozialwissenschaftlerin.
Für Status quo und Selbstbestimmung
Aber Tsai ist keine linke Politikerin. Auf dem Parteienspektrum steht die DPP der deutschen FDP am nächsten. Auch das greife zu kurz, findet Liu: „Es ist schwierig, taiwanische Politiker*innen anhand der europäischen Unterteilung in links und rechts zu bewerten. Zum Beispiel wurde Tsai in der Arbeitsrechtsfrage vorgeworfen, dass sie sich nicht um die Arbeiter*innenklasse kümmert.“ Geringverdiener*innen, zu denen dank hoher Mieten und Lebenshaltungskosten bei stagnierenden Gehältern viele Menschen jeder Altersgruppe gehören, sind nicht Tsais Hauptanliegen.
Der Grund: Innenpolitische Inhalte gewinnen in Taiwan keine Wahlen. Es wird viel gestritten über Wirtschaft und Soziales, aber an der Urne entscheidet stets eine einzige Frage: Wie wünsche ich mir die Zukunft der China-Beziehungen und wem traue ich zu, das am besten umzusetzen? In den letzten acht Jahren lautete die Antwort mit überragender Mehrheit: Tsai Ing-wen. Sie versprach, den Status quo zu wahren, ohne Kompromisse in Bezug auf Taiwans Souveränität zu machen. Ob Tsais Nachfolger ihren klugen Balanceakt fortsetzen kann, werden die nächsten vier Jahre zeigen. Es steht nichts weniger auf dem Spiel als Taiwans Freiheit und Existenz.
* Taiwanische Namen werden wie im Original als „Nachname Vorname“ wiedergegeben.