Seit zehn Jahren herrscht Krieg in Syrien. Die meisten Geflüchteten leben in angrenzenden Ländern wie dem Libanon. Der Münchener Verein „Zeltschule e.V.“ richtet in Flüchtlingscamps Schulen für syrische Kinder ein. Außer für Bildung sorgen die Schulen auch für das Überleben der Familien.
Von Anne Klesse, Hamburg
Auf dem Foto lächelt Dua mit großen Augen in die Kamera. Das Mädchen ist vielleicht sechs Jahre alt, sitzt auf einem hellblau bezogenen Bett. Das Foto ist einige Jahre alt, es wurde bei ihr zu Hause in Syrien aufgenommen – vor dem Krieg. Nun ist Dua tot, gestorben auf einem Feld im Libanon, obwohl die Familie dachte, dort sei sie in Sicherheit.
Jacqueline Flory hat mit Duas Mutter Hala gesprochen. Die Familie ist aus Hama geflohen, einer Stadt an der Fernstraße zwischen Aleppo und Damaskus, und lebt seither in einem Camp in der libanesischen Bekaa-Ebene nahe der syrischen Grenze. „Wir wussten nicht, dass es hier keine Hilfe gibt, dass man nicht arbeiten darf“, sagte die Mutter. Nachts habe ihr Mann Gemüse auf den umliegenden Feldern gestohlen, doch sie brauchten Geld für Wasser, Brot, Seife.
„Irgendwann ging Dua mit den anderen Kindern zur Arbeit auf die Felder. Ein Lastwagen holte sie frühmorgens ab, auf der Ladefläche saßen über 30 Kinder.“ Am Abend brachte der Laster die Kinder zurück. Dua habe 3,20 Dollar am Tag verdient. Acht Monate lang, sechs Tage die Woche, zehn Stunden pro Tag. „Wenn sie nach Hause kam, legte sie sich sofort hin und schlief. Manchmal wollte sie nicht einmal etwas essen.“ In den letzten Wochen habe sie kaum noch gesprochen, ständig habe sie blaue Flecken am ganzen Körper gehabt.
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Eines Abends kam der Laster ohne Dua zurück. Vielleicht starb die Neunjährige an Dehydrierung, vielleicht haben die Aufseher sie totgeschlagen, niemand weiß es. Die Mutter sagte zu Jacqueline Flory: „Sie ist an diesem Land gestorben, an einer Politik, die Kriegsflüchtlinge ins Land lässt, ihnen nicht hilft und dafür eine ganze Generation Kinder als Arbeitskräfte fordert.“
Jacqueline Flory hat dieses Gespräch und viele weitere, die sie mit Mädchen und Frauen in Flüchtlingslagern im Libanon und Syrien geführt hat, in einem Buch festgehalten. Es heißt „Invicta. Feministisches (Über-)Leben auf der Flucht“; erschienen und erhältlich bei dem von ihr selbst gegründeten Zeltschule e.V. Die Erlöse aus dem Verkauf kommen, wie auch die Mitgliedsbeiträge, der gemeinnützigen Vereinsarbeit zugute.
Lebensmittelspenden, damit die Kinder zur Schule gehen
Impuls zur Vereinsgründung gingen vor allem auf die Eindrücke im Jahr 2015 zurück, erinnert sich Jacqueline Flory. Als die ersten Züge mit geflüchteten Männern, Frauen und Kinder aus Syrien am Münchener Hauptbahnhof ankamen, da habe sie gedacht: „Es ist doch viel zu spät, ihnen erst hier in Deutschland zu helfen – die Hilfe muss viel früher, direkt vor Ort, ansetzen.“ Als Übersetzerin und Dolmetscherin für mehrere Sprachen, unter anderen für Arabisch, kannte sie den Nahen Osten von vielen Reisen. Sie aktivierte ihre Kontakte, recherchierte.
„Es nervt mich, wenn Leute meiner Generation sagen: Ja, ja, das ist alles traurig, aber was kann ich schon tun, das liegt nicht in meiner Verantwortung“, so Flory, Jahrgang 1976. Selbst alleinerziehende Mutter zweier Kinder, damals fünf und sieben Jahre alt, überzeugte sie den Elternbeirat ihrer Grundschule, mit Aktionen Geld zu sammeln. Denn was sie besonders beschäftigte: In den Flüchtlingscamps gab es keine Schulen für die Kinder.
Die Idee dahinter: Die Geflüchteten sollten sich nicht dauerhaft einrichten, die Camps sollten ein Provisorium bleiben. Internationale Hilfsorganisationen, die ebenfalls vor Ort sind, schätzen, dass rund 300.000 syrische Kinder keine staatliche Schule besuchen. Es gibt Nichtregierungsorganisationen, auch libanesische, die Schulen unterhalten. Doch feste Gebäude in den Zeltstädten zu bauen ist verboten. So entstand die Idee zur „Zeltschule“. Mittlerweile hat der Verein mehr als 1.300 Mitglieder.
2016 kam der erste Klassenraum
In den Sommerferien 2016 flog Flory mit ihren Kindern zum ersten Mal nach Beirut und errichtete in einem der Camps den ersten Klassenraum. Mittlerweile gibt es 30 solcher Zeltschulen im Libanon und in Syrien, die laut Verein täglich von 7.000 syrischen Kindern zwischen fünf und 14 Jahren besucht werden. Mit den Lehrkräften, selbst Geflüchtete und ehrenamtlich tätig wie alle anderen Helfer*innen in den Camps, spricht die Initiatorin in einer wöchentlichen Telefonkonferenz über alles, was ansteht. Ihren Angaben zufolge übernehmen sie in den Camps oft eine Art Bürgermeister*innenamt.
Zusätzlich unterstützt der Verein insgesamt rund 30.000 Geflüchtete vor Ort mit Nahrungsmitteln, Wasser, Kleidung, Medikamenten, Feuerholz sowie Desinfektionsmittel, Flüssigseife und Masken. Das ist nötig, damit die Kinder tatsächlich in die Schulen kommen – und nicht für ihre Familien auf den Feldern schuften wie die kleine Dua. Die Erwachsenen dürfen im Libanon nicht arbeiten. Sie könnten eine Arbeitserlaubnis kaufen, erklärt Flory, doch diese sei unerschwinglich. Kinderarbeit ist zwar auch im Libanon offiziell verboten, geben tut es sie trotzdem.
Das Land sei „unvorstellbar chaotisch“. Konkret heißt das: „Niemand weiß, was der andere tut oder fühlt sich zuständig, nichts ist wirklich organisiert. Es ist beinahe wie eine Reihe von Grafschaften, die von einzelnen Warlords regiert werden.“ Deshalb können viele Dinge passieren, ohne dass sie sanktioniert werden. Der Verein wiederum profitiere von dem Chaos. Sie sei bei den Offiziellen alles andere als erwünscht, denn mit ihrer Arbeit hält sie den Finger in die Wunde und zeigt Missstände auf.
Den Menschen ist wichtig, gehört zu werden
Um von Beirut aus zu den Camps zu kommen, müssten sie jedes Mal bis zu 13 Checkpoints passieren, sodass die einstündige Autofahrt meist drei Mal so lange dauert. „Da sich kein Taxifahrer in das Hisbollah-Gebiet traut und man für die Fahrt auch keinen Mietwagen bekommt, holt uns ein libanesischer Freund ab, der dort lebt und ein entsprechendes Kennzeichen hat. Bei den Checkpoints gebe ich mich als seine Frau aus Deutschland aus, das hat bislang immer funktioniert“, berichtet Flory. Weil die Situation gefährlich ist, nennt sie in ihrem Buch „Invicta“ alle Interviewpartnerinnen lediglich beim Vornamen. Auch der Aufenthaltsort wird nicht verraten.
Flory weiß von Regimegegner*innen, die von der Hisbollah aus den Camps nach Syrien gebracht wurden und dort verschwanden. „Doch den Menschen ist es wichtig, ihre Geschichten zu erzählen und das Gefühl zu haben, dass diese auch bei uns im Westen gehört werden.“ Das Wort „Invicta“ hat sie für den Titel des Buches gewählt, weil es im Lateinischen für die weibliche Form von „unbesiegt“ steht. „Genau das sind unsere Mädchen und Frauen, trotz allem, was sie hinter sich haben“, sagt Flory.
Gleichzeitig versteht sie auch den Unmut der Libanes*innen. „Jeder dritte Mensch im Libanon ist mittlerweile ein syrischer Flüchtling. Dass dieses kleine Land das nicht verkraften kann, leuchtet mir völlig ein. Das ist eine ganz andere Dimension als hier in Deutschland, wo 83 Millionen Deutsche ein paar Hunderttausend Flüchtlinge aufgenommen haben.“ Andererseits erhält der Libanon hohe Summen an öffentlichen Geldern aus dem Ausland, um die Geflüchteten zu versorgen.
Dem Libanon droht eine Hungerkrise
„Doch dieses Geld ist in den Erhalt des Staates geflossen“, so Flory. „Der aktuelle Staatsbankrott wäre schon zehn Jahre früher passiert, wenn es nicht die Gelder für die syrischen Flüchtlinge gegeben hätte – die aber leider nie bei ihnen angekommen sind.“ Infolge der Finanzkrise seit Herbst 2019, die im Libanon zu einer hohen Inflation, gekoppelt mit der Pandemie, die zu großer Arbeitslosigkeit geführt hat, befürchten Weltbank und die Vereinten Nationen eine drohende Hungerkrise.
Die Familien, die Jacqueline Flory in den Flüchtlingscamps kennengelernt hat, harren teilweise seit Beginn des Krieges 2011 in Zelten aus, weil sie zumindest nahe der Heimat bleiben wollen. „Die Menschen wollen den Krieg abwarten, doch der dauert.“ Deshalb lässt sie der Staat lediglich gewähren, sieht sie als illegal an und verwehrt weitergehende Hilfe. Das, wohin die Syrer*innen zurückkehren könnten, wird indes immer weniger. „Die Städte sind zerbombt, die Menschen enteignet. Doch in den Zeltstädten fühlen sie sich auch nicht zu Hause“, weiß Flory.
Und das obwohl in die Camps teilweise ganze Nachbarschaften gemeinsam geflohen seien. „Es gibt deswegen zumindest so etwas wie Familie und Zusammenhalt, alte Freunde, die noch da sind.“ Was fehlt sei die Verbindung zur Außenwelt. Die meisten hätten das Camp seit ihrer Ankunft nicht verlassen. Denn draußen ist Hisbollah-Gebiet, da besteht die Gefahr, kontrolliert zu werden. 90 Prozent der Syrer sind illegal im Libanon. Viele Kinder existieren nicht auf dem Papier nicht, da sie in den Camps zur Welt gekommen sind, es keine Geburtsurkunde und keinen Pass gibt.
Alleinerziehende Frauen sind heute Alltag
Die Zeltschulen geben den Menschen ein Gefühl der Selbstbestimmung, ein bisschen Normalität und eine Perspektive, denn Bildung kann ihnen niemand nehmen. „Die Rolle der Frauen hat sich durch den Krieg verändert: Syrien war ein vergleichsweise fortschrittliches Land, Frauen haben mit 23 Jahren geheiratet. Im Arabischen Frühling standen sie in der ersten Reihe bei den Demonstrationen, das gab der Emanzipation damals in der gesamten Region einen enormen Schub“, so Flory. „Der Krieg hat auch das zerstört, denn viele Familien sehen jetzt keinen anderen Ausweg, als ihre Töchter schon mit zwölf Jahren zu verheiraten, um sie versorgt zu wissen.“
Andererseits leben in den Camps viele Kriegswitwen. „Über Jahre alleinerziehend zu sein war früher nicht denkbar. Dieser Umstand bringt eine neue Qualität in die Feminismus-Diskussion in den Camps.“ Seit August 2020 arbeitet Flory hauptamtlich für ihren Verein. Im Zeltschule-Büro in München sind sie mittlerweile zu Dritt. Hier wird geplant, werden Lebensmittel und Medikamente bestellt, von hier aus organisiert Flory ihre Vorträge, bei denen sie über die Arbeit und die Zustände berichtet und um Spenden bittet. An manchen Tagen klingelt ihr Handy fast ununterbrochen. Viele der Flüchtlingsfamilien haben ihre Nummer und rufen regelmäßig an.
Beinahe alle bayerischen Schulferien verbringt Jacqueline Flory mit ihren Kindern – mittlerweile elf und 13 Jahre alt – in den Flüchtlingscamps. Ihre Tochter sei anfangs vor allem darüber erschrocken gewesen, dass die Zelte gar keine Fenster haben und die Menschen drinnen immer im Dunkeln sind. Und dass es kein Spielzeug gab. „Doch dann meint sie: Gut, dass wir das ja jetzt besser machen.“ Es sei dieser Satz, warum sie trotz des Elends, trotz der Hilflosigkeit, die sie oft spüre, immer weitermache: „Die Menschen haben so viel Schreckliches erlebt. Dinge, die nicht wieder gutzumachen sind. Aber zumindest versuchen wir, es besser zu machen.“
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