Der Großteil der Entführungs- und Todesopfer im kolumbianischen Konflikt sind Männer. Zurück bleiben die Frauen. Sie sind es, die die Konsequenzen des Krieges tragen und den Friedensprozess vorantreiben. Wir stellen drei von ihnen vor.
Von Sophia Boddenberg, Medellín
Maria Lilia Bailarin ist alleinerziehende Mutter und hat zwölf Kinder. Sie gehört zum indigenen Volk der Embera Katio und lebt in der Gemeinde „Llano Río Verde“, etwa sechs Autostunden von Medellín entfernt. Knapp 200 Menschen leben hier in einfachen Holzhütten. Betten gibt es keine, genauso wenig wie Sanitäranlagen und sauberes Wasser. Häufig ist das Essen knapp. „Die Kinder gehen mit leerem Magen in die Schule. Deshalb brauchen wir Land. Wenn wir mehr Land hätten, könnten wir Mais und Bohnen anpflanzen“, sagt Bailarin.
Früher konnten sich die Familien von ihrem eigenen Anbau ernähren. Aber 1997 wurde die gesamte Gemeinde von Paramilitärs vertrieben, die sich den wertvollen Boden aneignen wollten. Paramilitärs sind rechtsgerichtete bewaffnete Gruppen, die gegen linksgerichtete Guerillagruppen kämpfen und häufig Verbindungen zu reichen Unternehmern haben.
Als die Menschen Jahre später zurückkamen, konnten sie nur ein kleines Stück Land zurückerlangen. Die meisten Ländereien um sie herum besitzt jetzt ein Großgrundbesitzer, der Zuckerrohr anbaut. Da sie sich nicht mehr selbst versorgen können, arbeiten einige Gemeindemitglieder jetzt auf der Zuckerrohrfarm für umgerechnet sieben Euro am Tag. Das reicht kaum zum Überleben.
In der Gemeinde unterstützen sich deshalb alle gegenseitig. Denn die meisten Frauen sind – wie Maria Lilia Bailarin – alleinstehend und haben viele Kinder. Die 52-Jährige erinnert sich noch genau an den Tag der Flucht, an dem ihr Mann von den Paramilitärs verschleppt worden ist. „Bis heute weiß ich nicht, ob sie ihn umgebracht haben oder ob er noch lebt. Ich war hochschwanger als wir fliehen mussten. Das Kind starb bei der Geburt“, erzählt sie. Angst, dass die Paramilitärs eines Tages zurückkommen, habe sie immer.
So wie Maria Lilia Bailarin ergeht es vielen Frauen in Kolumbien. Die Gewalt richtet sich insbesondere gegen indigene und afrokolumbianische Gemeinden in ländlichen Gegenden. Es gibt mehr als 90 indigene Völker in Kolumbien. Viele werden von Bergbau- und Landwirtschaftsunternehmen oder von rechten Paramilitärs vertrieben. Dabei geht es oft brutal zu. Einem Bericht des „Nationalen Zentrums zur historischen Erinnerung“ (CNMH) zufolge sind neun von zehn getöteten oder verschwundenen Opfern des bewaffneten Konflikts Männer.
Die Frauen sind es, die zurückbleiben
So sind es die Frauen, die mit ihren Kindern durchs Land ziehen, auf der Suche nach einem sicheren Schlafplatz. Man nennt sie deshalb „desplazadas“, die Vertriebenen. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind etwa 80 Prozent der Vertriebenen in Kolumbien Frauen und Kinder. Die meisten von ihnen können nicht wie Maria Lilia Bailarin zurück in ihr Heimatdorf, sondern fliehen in Großstädte wie Medellín.
Die Stadt liegt in einem Tal, die Armenquartiere befinden sich auf den umliegenden Hügeln. Über viele Treppen gelangt man hinauf in das Viertel Altos de la Torre in der „Comuna 8“. An kaum einem anderen Ort hat man so eine gute Aussicht über die Stadt. Die meisten Häuser bestehen aus ein paar Brettern, Pappe und Wellblech. Fast alle Bewohner leben illegal hier, aber die Regierung duldet sie. Die „Comuna 8“ ist einer der ärmsten Bezirke Medellíns und Zufluchtsort vieler Vertriebener. Auch Piedad Arango lebt hier. Die 44-Jährige floh vor einigen Monaten zu ihrer Schwester.
Ihre Familie war in ihrem Heimatort von Paramilitärs bedroht worden, weil ihr Sohn nicht mit ihnen zusammenarbeiten wollte. Die Familie musste alles zurücklassen. Nur mit der Kleidung, die sie am Leib trugen, machten sie sich auf den Weg nach Medellín. Es fällt ihnen immer noch schwer, sich einzuleben. „Auf dem Land war alles einfacher. Dort gab es Arbeit. Hier in der Stadt braucht man für alles einen Abschluss“, sagt Arango.
Sie brach nach den ersten drei Jahren die Grundschule ab, keines ihrer vier Kinder geht zur Schule. Die Uniformen seien zu teuer und der Weg zu weit. Im Moment pflegt sie mit ihrer Schwester und drei weiteren Familien einen Gemeinschaftsgarten. Das Projekt wird von der deutschen Johanniter-Unfall-Hilfe gefördert, die mit der Nichtregierungsorganisation „Las Golondrinas“ zusammenarbeitet. Durch die Ernte sollen sich die Familien mit Lebensmitteln selbst versorgen. Sollte es überschüssiges Gemüse geben, verkaufen sie es auf dem Markt.
Zuvor lebte Piedad Arango mit ihrem Mann und den vier Kindern in Puerto Valdivia, etwa 180 Kilometer nördlich von Medellín. Dort arbeitete sie mit ihrer Familie in der Landwirtschaft. Puerto Valdivia ist ein Koka-Anbau-Gebiet und befand sich bis vor einem Jahr unter Kontrolle der FARC-Guerilla. Arango meint, dass die Gewalt seit dem kolumbianischen Friedensabkommen sogar zugenommen habe. Dafür hat sie auch eine Erklärung: „Als die Guerilla noch da war, haben wir Bauern keine Gewalt erlebt, weil die Guerilla gut zu den Bauern war. Aber seit der Entwaffnung haben die Paramilitärs das Land übernommen. Die bringen einen einfach um. Frieden kann es nur geben, wenn mit den Paramilitärs Schluss gemacht wird.“
Bisher kein Frieden in Sicht
Das am 30. November 2016 in Kraft getretene Friedensabkommen zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC-Guerilla sollte den 50 Jahre andauernden bewaffneten Konflikt beenden, bei dem mehr als 220.000 Menschen getötet und mehr als sieben Millionen vertrieben wurden. Die linksgerichtete FARC wurde 1964 von Mitgliedern der kommunistischen Partei Kolumbiens und Bauern als eine Art Volksarmee gegründet. Ihr Kampf richtet sich gegen die oligarchische Land- und Machtkonzentration. Ziel des Friedensvertrags war deshalb neben der politischen Integration der Guerilla auch eine Landreform.
Aber der Prozess schreitet nur langsam voran. Die Zahl der sogenannten intern Vertriebenen, also die, die innerhalb des Landes auf der Flucht sind, ist seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens sogar gestiegen. Damit ist Kolumbien den Angaben des UN-Flüchtlingswerks zufolge das Land mit den meisten intern Vertriebenen weltweit. Die Menschenrechtsorganisation „Amnesty International“ erklärte in einem Bericht, dass in den Gebieten, die die FARC verlassen habe, nun eine Art Machtvakuum herrsche, in dem andere Guerilla-Gruppen und rechte Paramilitärs um die Vorherrschaft kämpften. Für die kolumbianische Bevölkerung hat sich deshalb bisher wenig geändert.
Ein Nähkurs macht Hoffnung
Ortswechsel: In einem Konfektionszentrum in Llanaditas hämmern Nadeln, rattern Maschinen und surren Röhrenlampen. Es ist ein Anlaufpunkt für vertriebene Frauen, die einen sechsmonatigen Nähkurs machen können und einen Lohn von umgerechnet 100 Euro im Monat bekommen. Das ist die Hälfte des gesetzlichen Mindestlohns in Kolumbien. Fransury Gonzáles leitet das Ausbildungsprogramm. „Hierher kommen viele misshandelte Frauen, deren Rechte verletzt wurden. Viele sind alleinstehende Mütter, andere flüchten hierhin vor ihren Männern, die ihnen nicht erlauben, das Haus zu verlassen. Wir wollen ihnen mit dem Nähkurs die Möglichkeit geben, etwas zu lernen, unabhängig zu sein und sich ihres eigenen Lebens zu bemächtigen“, erklärt Gónzales.
Valentina López ist eine dieser Frauen. Sie floh bereits als Vierjährige mit ihrer Familie vom Land vor bewaffneten Gruppen nach Medellín. Ihr Kindheitstraum war es, Modedesignerin zu werden. Jetzt näht sie mit anderen Frauen Schuluniformen für die örtliche Schule. „Es war nicht einfach für mich, Arbeit zu finden. Viele haben mir die Türen verschlossen aufgrund meiner körperlichen Behinderung“, sagt López und hat Tränen in den Augen. Sie saß fünf Jahre lang im Rollstuhl, mittlerweile kann sie mit einer Krücke laufen. 45 Minuten lang steigt sie jeden Tag eine steile Treppe hinauf, um zu ihrem Haus hoch oben in den Hügel der „Comuna 8“ zu kommen.
Die Behinderung ist die Folge eines Sturzes, als ihr bester Schulfreund sie als 14-Jährige eine Treppe hinunterstieß. Sie brach sich mehrfach das Bein, die Wirbelsäule wurde geschädigt. Aufgrund des Unfalls konnte sie die Schule nicht beenden und ihr Traum, Modedesignerin zu werden, zerplatzte. Nur acht Monate später starb ihre Mutter an einem Herzinfarkt, ihr Bruder heiratete und zog aus. Ein Cousin zog zu ihr, auch er wurde aus der Heimat vertrieben. Doch nach nur einem Jahr wurde er im Alter von 20 Jahren ermordet – weil er sich weigerte, sich einer kriminellen Drogenbande anzuschließen.
Valentina López blieb alleine zurück und musste sich um ihre Großeltern kümmern. „Es gab sehr gefährliche Zeiten. Die Jugendlichen wurden von kriminellen Banden verfolgt und viele Frauen wurden vergewaltigt – vor allem oben in den Hügeln, wo ich wohne“, sagt sie. Mittlerweile ist es in der „Comuna 8“ etwas ruhiger geworden, aber sexualisierte Gewalt ist in Kolumbien nach wie vor stark verbreitet und spielt im bewaffneten Konflikt eine zentrale Rolle.
Vergewaltigung als Waffe
Aus einer aktuellen Studie über den kolumbianischen Konflikt geht hervor, dass zwischen 2000 und 2015 mehr als 875.000 kolumbianische Frauen Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind. Am häufigsten betroffen seien junge Mädchen zwischen 15 und 24 Jahren, schwarze Frauen und Frauen aus niedrigen sozialen Schichten. Ein Fünftel der Befragten gab an, während der Tat mit einer Waffe bedroht worden zu sein. 78 Prozent der missbrauchten Frauen erstatteten der Studie zufolge keine Anzeige. Zu den Tätern zählen sowohl Mitglieder paramilitärischer Gruppen als auch Guerilla-Kämpfer.
Aber die Studie weist darauf hin, dass vor allem die Paramilitärs Vergewaltigungen und Missbrauch als strategisches Mittel einsetzen, um Angst und Schrecken zu verbreiten. In dem Bericht schildert eine Frau ihr Erlebnis mit den Paramilitärs: „Eines Abends kam ich mit meinem Freund nach Hause und wir trafen auf eine Gruppe von neun Männern. Sie gaben sich als Paramilitärs zu erkennen. Sie banden meinen Freund fest und zogen mich vor ihm aus. Sie schlugen mich und sagten, ich sei eine Prostituierte der Guerilla. Einer nach dem anderen vergewaltigte mich. Sie schlugen mir mit ihren Penissen ins Gesicht und führten ihre Pistolen in meine Scheide ein. Sie sagten, dass sie mich nur am Leben ließen, damit ich mich an sie erinnern würde und mich niemals der Guerilla anschließen würde.“
Carolina Betancur ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet im „Museum der Erinnerung“ in Medellín. Sie sagt, dass die sexualisierte Gewalt – wie in vielen Kriegen – auch im kolumbianischen Konflikt als Waffe eingesetzt werde. „Den bewaffneten Gruppen geht es darum, die Würde dieser Person und ihres Dorfs zu brechen. Die Frauen seien aber nicht nur Opfer, sondern sie seien vor allem Überlebende.
Sie sagt: „Die Rolle der Frauen im Friedensprozess ist fundamental. Sie tragen die historische Erinnerung unseres Landes in sich. Sie suchen nach der Wahrheit, sie haben eine Resilienz entwickelt und leisten Widerstand gegen die Gewalt. Sie haben auch gelernt, zu vergeben. Es sind die Frauen, die den Frieden in Kolumbien aufbauen.“ Demnach tragen Maria Lilia Bailarin, Piedad Arango und Valentina Lopez durch ihre Kraft und ihr Durchhaltevermögen einen erheblichen Teil zum Friedensprozess in Kolumbien bei – auch wenn ihnen das vielleicht gar nicht bewusst ist.