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Die „stillen Zeugen“ brennen
Beirut und die Folgen der Explosion

10. August 2022 | Von Julia Neumann
Die Weizensilos am Beiruter Hafen schützten 2020 einen Teil der Stadt vor der Explosion. Foto: Julia Neumann

Es waren die Betonmauern der Weizensilos, die bei der Explosion 2020 den Westen Beiruts vor der Druckwelle abgeschirmt haben. Nun stürzten Teile der Betonzylinder ein. Die Zivilgesellschaft möchte die Silos als Mahnmal erhalten, doch der Regierung kommt der Zerfall gerade recht.

Von Julia Neumann, Beirut

„Der Geruch ist unerträglich“, sagt Gioia Sawaya über die Stelle im Beiruter Hafen, an der die Explosion geschah. Die 28-jährige Architektin stapfte im Juli 2021 in Wanderschuhen durch Hügel von gelb-braunem Weizen, die sie wie Treibsand einsacken ließen. Der Weizen liegt verteilt am Fuß der Silos im Hafen von Beirut. „Mit einem Thermometer haben wir die Temperatur des vergorenen Getreides gemessen: Es ging über 100 Grad Celsius.“

Gemeinsam mit dem französischen Ingenieur Emmanuel Durand hat sie den Ort besucht und beobachtet, wie er Messungen vornahm. „Sie können sehen, wie Rauch aus einem schwarzen Loch kommt, das Getreide verbrennt. Man läuft über tote Vögel und Ratten. Sie essen das Getreide, vergiftet durch das Ammoniumnitrat, und sterben.“

Am 4. August 2020 explodierten über hunderttausend Tonnen falsch gelagertes Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut. Die Explosion tötete 233 Menschen und verletzte mehr als 6.000 Personen. Warum die Chemikalie nicht rechtzeitig weggeschafft wurde, ist immer noch unklar. Noch immer gibt es keinen Bericht der Untersuchungskommission, kein ranghoher Politiker wurde zur Rechenschaft gezogen.

Damals eine Schutzmauern, heute für viele ein Mahnmal: Die ehemaligen Weizensilos von Beirut. | Foto: Julia Neumann

Stattdessen verhafteten die Behörden den Hafenmanager zusammen mit mehr als 20 Hafen- und Zollbeamt*innen, weil sie nichts unternommen hatten, um das Ammoniumnitrat zu entfernen. Dabei wussten Berichten der Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“ zufolge auch die Sicherheitsbehörden sowie der damalige Regierungschef und der Präsident von der tödlichen Fracht im Warenlager.

Eine Erinnerung an das Verbrechen

Für viele Libanes*innen sind die zerstörten Getreidesilos ein Mahnmal für die Opfer der Explosion. „Die Silos standen als riesige Schutzmauer aus Beton und schirmten einen Großteil der Schäden vom westlichen Teil von Beirut ab“, sagt Sawaya. Damit hätten sie mehr für die Beirutis getan als die herrschenden Oligarchen jemals. „Die stillen Zeugen“, nennt sie der Zusammenschluss der Familien der Explosionsopfer. Das Bündnis kämpft seit zwei Jahren für Aufklärung und Gerechtigkeit.


 

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Online starteten Opfer-Initiativen und lokale Verbände eine Petition für den Erhalt der Silos als Mahnmal zur Ehrung der Opfer und Betroffenen und als „Zeuge der Geschichte und Zukunft des Libanon“. Mehr als 2.000 Menschen haben unterschrieben. Doch die Zeit arbeitet gegen sie. Bei Hitze und schwüler Luft entzünden sich die Weizenhügel am Boden, Flammen steigen auf.

Das Mahnmal der Beiruter Explosion fängt öfter Feuer. Die Regierung sagt, das Feuer zu löschen könnte den Brand nur verschlimmern. Das Wasser treibe den Fermentationsprozess an und könnte die Silos schneller kippen lassen, bestätigte auch der Bauingenieur Emmanuel Durand. Regierungschef Najib Mikati befahl der Feuerwehr daher, sich zu ihrer eigenen Sicherheit zurückzuziehen.

Die Politik schweigt

In einer Presseerklärung schreiben die Familien der Explosionsopfer: „Wir haben keinen Zweifel daran, dass diejenigen, die jahrelang über die im Warenhaus 12 versteckte Zeitbombe geschwiegen haben; diejenigen, die die Ermittlungen der Justiz behindern; und diejenigen, die die Silos in diesem Zustand belassen haben, ohne sie zu entleeren, obwohl die giftige Gärung seit zwei Jahren die Luft verschmutzt und zu wiederholten Brandausbrüchen geführt hat; dass dieselben ,Verantwortlichen‘ nicht weit davon entfernt sind, verdächtigt zu werden, das Feuer zu provozieren und die überlebenden Bewohner*innen in der Nachbarschaft zu ersticken.“

Die Familien betrachten die Silos als Teil des Ortes einer Gräueltat, die der Untersuchungsrichter noch immer nicht abschließend untersucht hat. Immer wieder wird er durch Formalitätsklagen ehemaliger Minister an seiner Arbeit gehindert. Manche, wie Parteianhänger*innen der schiitischen Hisbollah, kritisieren den Richter als „parteiisch“. Die Angehörigen der Opfer sehen darin eine Behinderung der Justiz. Die Betonzylinder fassen 120.000 Tonnen – zur Zeit der Explosion waren sie mit nur 15.000 Tonnen befüllt.

Zerquetschte Autos im Hafen: Bis heute sind die Folgen der Explosion zu sehen.| Foto: Julia Neumann

Die Frage, wie es mit ihnen weitergeht, war schon vor den Bränden eine nationale Debatte. So hatte der „Orden der Ingenieur*innen und Architekt*innen“ versucht, den Abriss zu verhindern. Sie suchten nach Möglichkeiten, die Struktur der Silos zu verstärken. Kulturminister Mohammad Mortada erklärte zunächst, die zerstörten Getreidesilos auf die Denkmalliste setzten zu wollen. Damit wäre es verboten, ohne Genehmigung des Kulturministeriums etwas zu verändern. Den Vorschlag zog er aber wieder zurück. Er nannte es eine „ökonomische Entscheidung“, die Silos zu zerstören. Am 14. April genehmigte die Regierung den Abriss. Einen konkreten Zeitplan dafür gibt es nicht.

Die Zivilgesellschaft setzt sich für Gerechtigkeit ein

Der Zivilgesellschaft ist der Erhalt des Baus wichtig, weil sie darin eine Fortführung der Politik sieht, Erinnerungen auszulöschen. Die kollektive Amnesie ist gewollt. Das zeigt die Geschichte: Schulbücher enden mit der Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1943. Der Krieg zwischen 1975 und 1990 ist noch immer nicht gemeinschaftlich aufgearbeitet. Schätzungsweise 17.000 Menschen wurden währenddessen entführt oder „verschwanden“. Nach 1990, während der Militärpräsenz Syriens im Land, wurden viele Bürger*innen nach Syrien gebracht und dort eingesperrt.

Bis heute gibt es keine Bemühungen des Staates, ihren Verbleib aufzudecken und ihre Geschichten zu untersuchen. Der Vorschlag, eine unabhängige nationale Kommission zu beauftragen, die diese Fälle untersucht, wurde abgelehnt. Genauso unaufgeklärt bleiben viele politisch motivierte Morde. Wahrheit und Gerechtigkeit zu fordern, ist im Libanon ein politischer Akt. Denn eine gemeinsame Erinnerungskultur ist wichtig für ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Stattdessen suchen sich die konfessionellen Parteien ihre Version der Geschichte aus, streuen Missgunst und Vorurteile.

Erinnerungskultur schafft Gemeinschaft

Gioia Sawaya trägt einen kleinen Teil dazu bei, Geschichte im Libanon aufzuarbeiten und zu archivieren. Als Architektin ist sie an dem Bau der Silos interessiert. „Ich fand es seltsam, dass es keine Dokumentation der Geschichte des Baus gab. Es gab viele Artikel nach der Explosion, aber keine Informationen darüber, wer sie wann und wie konstruiert hat.“ Also fing sie an, aus eigenem Interesse zu suchen. „Ich fand eine Zeitschrift aus dem Jahr 1971 in den Archiven der Tschechischen Nationalbibliothek in Prag.“

Daraufhin hat sie sich mit dem Forschungszentrum für Industriekultur in Verbindung gesetzt und bekam die Zeitschrift eingescannt per E-Mail zugesandt. Weil der zehnseitige, detaillierte Bericht auf Tschechisch war, tippte Sawaya ihn Wort für Wort ab und übersetzte ihn mit Hilfe eines Online-Übersetzers. So fand sie mehr über die Statik der Silos heraus: Ein tschechisch-slowakisches Team stellte sie 1970 fertig. Rund 25.000 Kubikmeter Beton wurden verbaut. Ursprünglich 42 Zylinder mit 17 Zentimeter dicken Mauern ragen 48 Meter in die Höhe. Später wurde ein weiterer Block angebaut. Sie waren das größte Lager für Weizenlieferungen im Land.

Architektin Gioia Sawaya | Foto: privat

„Für die Herstellung der Pfähle und des Fundamentbetons wurde ein speziell vorgeschriebener, seewasserbeständiger Beton verwendet“, heißt es in der Broschüre. Dieser Beton stammte aus dem Libanon und hat den Westen der Stadt vor der massiven Druckwelle bewahrt. Deshalb bezeichnet Sawaya die Struktur der Silos als Monolith.

Die Verwendung des Wortes in diesem Zusammenhang geht auf den französischen Stadtplaner Paul Virilio und sein Buch über „Bunker-Archäologie“ zurück. „Ein Monolith ist eigentlich eine Struktur, die mehrere Angriffe überstanden hat“, erklärt Sawaya. „Tatsächlich haben die Silos auch mehreren militärischen Flugkörpern standgehalten und eben zuletzt der Explosion.“ Seitdem stehen sie als Monument am Rande der Stadt.

Mahnmal und Erinnerungsstätte

Sawaya hielt an einer Universität in Portugal einen virtuellen Vortrag über „posttraumatischen Urbanismus“. Ihre Idee: Statt Erinnerungen zu zerstören, sollten Traumata aufgearbeitet werden. Dazu gehört auch, die Silos zu transformieren – in einen Platz der Erinnerung. Die Architektin hat dazu einen Plan ausgearbeitet: Der fermentierende Weizen könnte gepresst und als Baumaterial recycelt werden. Ein Metallgerüst könnte das Konstrukt von außen begehbar machen. Der Vorschlag ist ein persönliches Projekt, entworfen, nachdem sie den Ort besucht und die Gefahr des verschütteten Getreides gesehen hat.

„Bei dem Konzept ging es darum, eine neue Katastrophe zu verhindern und das gärende Getreide zu einem Bioverbundstoff zu recyceln, der tatsächlich zu einem neuen organischen Baumaterial werden könnte“, erklärt sie. Pläne zur Umgestaltung der Silos gibt es genügend, darunter der Vorschlag eines palästinensischen Teams und eines libanesischen Architekten. Darin werden die Silos zum Mittelpunkt einer begehbaren Erinnerungsstätte. Noch ist nichts abgerissen, doch die Hoffnung auf Aufarbeitung, Gerechtigkeit und Trauerbewältigung bröckelt. Vor Kurzem fiel ein großer Teil der nördlichen Zylinder krachend zusammen. Rauch zog auf, eine riesige Staubwolke bildete sich und zog vom Hafen in die Wohngegenden. Der Teil des Hafens ist zurzeit abgesperrt.

Aus architektonischer Sicht besteht durch den Kollaps wenig Chance für den nördlichen Teil der Silos. Die südlich gelegenen Zylinder könnten durch architektonische Eingriffe gerettet werden. Auch Sawaya glaubt, dass der Weizen noch abtransportiert und zu Baumaterial verwertet werden könnte. Doch die Chancen auf eine Rettung sind gering. Die Regierung scheint darauf zu warten, dass die Struktur von alleine zusammenfällt. Am gleichen Ort neue Silos zu bauen sei nicht möglich, erklärt Sawaya – „weil der Boden neuen Silos nicht mehr dienen würde. Der Grund ist nicht mehr gut, um neue Strukturplatten einzulegen.“

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Von Julia Neumann, Beirut

Julia Neumann berichtet als freie Korrespondentin aus dem Libanon. Sie beschäftigt sich mit den Kulturen und Gesellschaften Westasiens und Nordafrikas und recherchiert vor allem zu Genderthemen, Migration und Fragen der sozialen Gerechtigkeit. Sie hat Journalistik in Dortmund, Internationale Politik in Ifrane (Marokko), Soziologie und Geschichte des Vorderen Orients in Erfurt und Beirut studiert. Mehr unter: www.neumannjulia.de.

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Mareike GraepelHaltern
Die US-Amerikanerin Cindy O’Brien lebt seit den 90er Jahren in Connemara, ganz im Westen von Irland und züchtet seltene Seeschnecken. Die sogenannten japanischen Abalone gedeihen an der irischen Küste gut. Sie gelten als Delikatesse und Aphrodisiakum, kosten bis zu 44 Euro pro Kilo – und sehen aus wie Vulven.

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