Die Fähigkeit zu kommunizieren ist eine Grundvoraussetzung für Selbstbewusstsein und soziale Beziehungen. Für Kinder mit intellektuellen Behinderungen ist dies eine der schwersten Hürden. Professorin Etta Wilken hat mit der Gebärden-unterstützten Kommunikation eine Methode geschaffen, die diesen Kindern hilft, sich früh mitzuteilen. Ein Blick auf das Lebenswerk einer außergewöhnlichen Pädagogin.
Von Helen Hecker, Nürnberg
Zusammenfassung:
In den 70er-Jahren galten Kinder mit intellektuellen Behinderungen oft als „nicht bildungsfähig“. Etta Wilken, Sonderpädagogin und Professorin, entwickelte die Gebärden-unterstützte Kommunikation (GuK), bei der einfache Handzeichen der Deutschen Gebärdensprache mit gesprochener Sprache kombiniert werden. Dank ihr können insbesondere Kinder mit Down-Syndrom sich heute frühzeitig mitteilen und ihre kognitiven Fähigkeiten besser entfalten. Die Methode hat die Frühförderung in Deutschland grundlegend verändert und die Inklusion in Kindergärten und Schulen maßgeblich vorangetrieben.
Es ist kurz vor 10 Uhr morgens. Die letzten Teilnehmenden betreten den kleinen Seminarraum in Nürnberg und ergattern einen der verbleibenden Stühle. Auf Krabbeldecken am Boden spielen Eltern mit ihren Kindern. Seminarleiterin Etta Wilken lächelt ihnen freudig zu: „Wie schön, dass auch so viele von euch heute dabei sind.“ Die kleinsten Gäst*innen haben ein Extra-Chromosom und sind der Grund, warum die emeritierte Professorin für “Allgemeine und Integrative Behindertenpädagogik” der Leibniz Universität Hannover auch mit 81 Jahren noch quer durch Deutschland reist, um ihr Wissen weiterzugeben.
Die Unterstützung von Kindern mit Down-Syndrom und ihrer Familien sei der Antrieb für ihre Arbeit, so Wilken. Vor über vier Jahrzehnten entwickelte die Hildesheimer Sonderpädagogin die Gebärden-unterstützte Kommunikation, kurz GuK. Diese Methode ermöglicht es Kindern mit Sprachverzögerung, wichtige Begriffe und Wünsche durch einfache Handzeichen auszudrücken, bevor sie die Lautsprache erlernen. Ihre Forschung zur Sprachförderung von Menschen mit Behinderung gilt bis heute als Meilenstein und macht sie deutschlandweit zu einer der führenden Wissenschaftlerinnen auf diesem Gebiet.

Das unermüdliche Engagement für Wertschätzung
Bis heute sind Wilkens Seminare zu diesem Thema ausgebucht. Unter den Teilnehmer*innen sind nicht nur Eltern und Verwandte, sondern vor allem Fachkräfte wie Sonderpädagog*innen, Lehrer*innen und Erzieher*innen sowie Logopäd*innen oder Ergotherapeut*innen. Die meisten möchten mehr über die bahnbrechende Methode direkt aus dem Mund ihrer Erfinderin hören. Trotz ihres hohen Alters wird dies wohl nicht die letzte Tagung sein, die die Professorin gemeinsam mit dem Deutschen Infocenter für Down-Syndrom organisiert hat.
„Solange ich das Gefühl habe, mit meiner Arbeit etwas zu bewirken, das für andere hilfreich ist und mir Freude macht, mache ich weiter“, sagt sie. Genau diese Lebensmission wird auch während des Seminars deutlich. Mit GuK hat die Pionierin nicht nur eine Methode zur Sprachförderung entwickelt, sondern auch eine neue Haltung gegenüber Kindern mit Behinderungen etabliert: Wertschätzung, Geduld und der feste Glaube an ihr Potenzial. Mit ruhiger Stimme und viel Sachlichkeit macht sie deutlich, dass die größte Barriere oft nicht die Behinderung selbst ist, sondern die fehlende Möglichkeit zur Kommunikation. GuK ist mehr als nur eine Technik – es ist ein Schlüssel zu einer Welt, in der jedes Kind willkommen sein sollte.

Jeder hat das Recht auf Bildung
Wilkens Engagement begann bereits Ende der 1960er-Jahre, als die studierte Regelschullehrerin Leiterin einer neu gegründeten Sonderschule in Göttingen wurde. Damals war die Vorstellung verbreitet, dass Kinder mit intellektuellen Behinderungen kaum Bildungschancen hätten. Viele, insbesondere Kinder mit Down-Syndrom, wurden als „nicht bildungsfähig“ eingestuft. Auf Nachfrage erfuhr Wilken, dass es für diese Kinder keine Fördermöglichkeiten gab, wie sie sie bereits aus der Arbeit mit körperbehinderten Kindern kannte.
Für Wilken war das inakzeptabel. Viele der Kinder, erinnert sie sich, hatten Mühe, sich überhaupt zu verständigen. Sie fragte sich daher, wie sie mit ihnen kommunizieren könne, um herauszufinden, was sie dachten und wissen wollten. „Sprache – und damit meine ich nicht nur das Sprechen – ist der Schlüssel für die kognitive Entwicklung“, erklärt die Professorin.
Wenn ein Kind zum Beispiel vor dem Wickeln wiederholt eine Windel gezeigt bekommt, zusammen mit der passenden Gebärde, entwickelt es ein Verständnis dafür, was als Nächstes passiert. „Es versteht dann vielleicht nicht das Wort selbst, aber die Abfolge der Geschehnisse – und das fördert seine Vorstellungskraft.“ Erste Ansätze zur Sprachförderung erprobte Wilken in außerschulischen Familien-Seminaren, die sie ab 1976 für Eltern und Angehörige von Kindern mit Down-Syndrom anbot.
Dabei verfolgte sie das Prinzip: Ausprobieren, anpassen, weiterentwickeln. Eltern berichteten von ihren Erfahrungen mit den vorgeschlagenen Übungen, und Wilken passte ihre Ansätze entsprechend an. Ihr Fokus lag stets auf der Frage: „Wie können wir die Kinder individuell unterstützen, Sprache zu verstehen und sich mitzuteilen – unabhängig von einer Diagnose?“ Diese praxisorientierte Herangehensweise bildete schließlich die Grundlage für die Entwicklung von GuK in den 1980er-Jahren.

Der Schlüsselmoment
Wilken war damals Professorin an der Universität Hannover und betreute gemeinsam mit ihren Studierenden die Eltern von Kindern mit Down-Syndrom. „In diesem Zusammenhang entstand die Idee, diesen Kindern schon früh Gebärden anzubieten – schließlich lernen alle kleinen Kinder erste Zeichen wie Winke-Winke und andere.“ Einige Eltern waren jedoch skeptisch. Sie befürchteten, dass ihre Kinder dadurch nicht ins Sprechen kämen.
So bildeten sich zwei Elterngruppen heraus: Eine, die Gebärden trainierte, und eine, die sie ablehnte. Während eines gemeinsamen Treffens der beiden Gruppen ging ein zweieinhalbjähriger Junge zu seiner Mutter, klopfte ihr auf den Oberschenkel und gebärdete „Keks“ und dann „Trinken“. „Da waren plötzlich alle baff und sagten: Das wollen wir auch haben! Und so fing es an“, erinnert sie sich.
Das Besondere an GuK ist die gezielte Kombination von visueller und auditiver Sprachförderung. Anders als die Gebärdensprache für Gehörlose nutzt GuK keine vollständigen Sätze, sondern konzentriert sich auf zentrale Begriffe, die von Lautsprache begleitet werden. Genau das mache den Unterschied. Da die Kinder hören können, sind sie in der Lage, die einzelnen Gebärden anhand der dazugehörigen Laute und Wörter zu unterscheiden.
Zum Beispiel ist die Gebärde für Fliege, Mücke und Biene dieselbe. Dank der Laute können Kinder jedoch die verschiedenen Begriffe auseinanderhalten. Kommt es später zu einer Verbesserung der Sprechfähigkeit, stellt das Kind die Verwendung der Gebärden automatisch ein. Die Sorge vieler Eltern, dass Gebärden den Spracherwerb verlangsamen, sei daher unbegründet. „Genauso wenig, wie das Krabbeln ein Kind daran hindert, laufen zu lernen, hindern Gebärden nicht daran, sprechen zu lernen“, betont Wilken.
Die Erfolgsreise der GuK-Methode
Zahlreiche empirische Studien zeigen, dass GuK nicht nur die Kommunikation verbessert, sondern auch den Spracherwerb fördert. Sprachbehinderte Kinder finden durch Gebärden früher in die Lautsprache und verstehen schneller sprachliche Konzepte. Laut der erfahrenen Logopädin Frederike Weinelt erleichtern die Handzeichen das Erlernen neuer Wörter, da sie oft Gegenstände oder Handlungen nachahmen und so die Verbindung zwischen Wort und Bedeutung stärken. Zudem betont sie, dass Gebärden Frustrationen abbauen und zu weniger Verhaltensauffälligkeiten führen.
Insbesondere Eltern berichten von positiven Effekten: Ihre Kinder seien emotional ausgeglichener, wenn sie ihre Bedürfnisse besser mitteilen können. So erfuhr Wilken erst kürzlich von einem Jungen im Kindergartenalter, der zunehmend aggressiv wurde, weil er sich nicht ausdrücken konnte. Nach nur zwei bis drei Monaten mit GuK waren die Verhaltensprobleme weitgehend behoben. Für Wilken sind solche Geschichten die wahren Erfolge ihres Engagements. Sie haben ihr Leben bereichert und ihren Beruf längst zum Hobby gemacht. „Wenn andere sich zum Bridge-Spielen oder Ähnlichem verabreden, habe ich nichts dagegen“, lacht sie. „Meine Interessen gelten aber den Kindern.”

Im Jahr 2000 wurde der Erfolg von GuK auch von der Aktion Mensch belohnt: Der Verein förderte die Produktion von Lernmaterialien und GuK-Karten. Die illustrierten Bild- und Wortkarten vermitteln 100 Gebärden zu wichtigen Begriffen des Grundwortschatzes und trugen maßgeblich dazu bei, die Methode deutschlandweit zu verbreiten und bekannter zu machen.
Außerhalb von Deutschland wird GuK heute auch in Slowenien verwendet. Laut Wilken ist es jedoch sinnvoll, die Zeichen der deutschen Gebärdensprache an die jeweiligen Länder anzupassen. Denn GuK ist international einzigartig. Bei der Entwicklung ließ sich Wilken von Vorreiter-Systemen wie Makaton oder Bliss inspirieren, die vor allem in englischsprachigen Ländern sowie in Italien, Frankreich und Spanien verbreitet sind. Diese Systeme nutzen jedoch Symbole statt Laute zur Differenzierung von Begriffen und sind für alle Altersklassen ausgerichtet.
GuK geht einen Schritt weiter und fördert gezielt die Lautsprachentwicklung bei Kleinkindern. Auch das in den USA entwickelte System Baby Signs setzt auf Gebärden zur Unterstützung der frühen Sprachentwicklung. Im Gegensatz zu GuK ist es jedoch informell: Eltern wählen die Gebärden je nach Bedarf, was die Integration von sprachbehinderten Kindern in institutionellen Einrichtungen wie Kindergärten und Schulen erschwert.

Visionen für die Zukunft
Für die Zukunft hat die 81-Jährige noch einiges vor. Derzeit arbeitet sie mit einem Team in Hamburg an der Entwicklung einer GuK-App, die 2025 erscheinen soll. Diese wird Gebärdenvideos und interaktive Inhalte kombinieren, um es Eltern und Pädagog*innen zu erleichtern, die Methode anzuwenden. Wilken sieht in der Digitalisierung eine große Chance, die Methode einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Für die Zukunft wünscht sich die Professorin vor allem mehr Offenheit gegenüber der Verschiedenheit von Kindern. Rückblickend habe sie durch ihre Arbeit vor allem gelernt, im Leben manchmal „das zu akzeptieren, was ist“. Sie kritisiert den aktuellen Trend zur Leistungsoptimierung, der viele Eltern unter Druck setze.
„Es ist wichtig, dass Kinder sich angenommen und geliebt fühlen und sich nicht von Ängsten die Gegenwart zerstören lassen. Genießen Sie Ihr Kind und unterstützen Sie es dort, wo es wirklich Hilfe braucht – aber nicht mit allen Mitteln fördern, fördern fördern“, lautet ihre Botschaft an die Familien.
Ständiges Trainieren berge die Gefahr, dem Kind einen Teil seiner Kindheit zu rauben. Auch mit GuK wolle Wilken nicht perfekte Sprecher*innen formen, sondern jedem Kind die Möglichkeit geben, sich auszudrücken – auf seine eigene Weise und in seinem eigenen Tempo.