Fatima Nazari ist die schnellste Skifahrerin Afghanistans. Das zweite Mal konnte sie nun die „Afghan Ski Challenge“ in der Provinz Bamiyan für sich entscheiden. Doch der Weg dorthin – und zu ihrem Ziel Olympiateilnahme – war und ist hart: In ihrer Heimat am Hindukusch gibt es weder Skilifte noch präparierte Pisten. Und die Finanzierung von Profisport ist äußerst schwierig.
Von Veronika Eschbacher, Bamiyan
Fatima Nazaris Augen werden groß, als sie sich an ihren Kurztrip nach Südkorea erinnert. An diesen gepolsterten Sessellift, der sie fast lautlos vier Meter über der perfekten weißen Skipiste auf den Berg schweben ließ. „Ich war so glücklich“, sagt die aufgeweckte Afghanin und lacht dabei. Zwei mühelose Minuten – und sie konnte die Schnallen ihrer Skischuhe festziehen und den Hang hinunterdüsen.
Die Freude der 18-Jährigen über einen simplen Sessellift kommt nicht von ungefähr. Der Skisport steckt in Afghanistan in den Kinderschuhen. Dementsprechend bescheiden sind die Bedingungen, die die Skiläuferin Nazari und ihre Teamkolleginnen im Koh-e-Baba-Gebirge in der zentralafghanischen Provinz Bamiyan antreffen. Es gibt keine Skilifte, das Equipment ist aus zweiter Hand. Doch um an ihr Ziel zu gelangen, bei internationalen Wettbewerben mitzufahren und irgendwann die erste Frau zu sein, die Afghanistan bei einer Winterolympiade vertritt, muss Nazari nicht nur mit diesen Herausforderungen zurechtkommen. Ihr Vater starb, als sie neun Monate alt war. Seither arbeiten sie, ihre Mutter und Schwester unerlässlich für diesen Traum.
Noch sind nur wenige Öfen angeworfen und lediglich vereinzelt brennen die Solarlampen, wenn Fatima Nazari im Halbdunkel ihre dicke Winterdecke zusammenlegt und in der Ecke des einfachen Ein-Zimmer-Hauses ihrer Familie verstaut. Jeder Wintermorgen beginnt bei der jungen Frau mit Liegestützen, Kniebeugen und Ausfallschritten, bevor sie ihr Gesicht mit kaltem Wasser aus einer Gießkanne wäscht, ihre Bücher zusammenpackt und bei zweistelligen Minusgraden eine halbe Stunde zu Fuß in die Schule geht.
Faszination Skisport
Wobei – Nazari geht selten von einem Ort zum anderen, vielmehr flitzt sie stets im Laufschritt an den Wänden der bescheidenen Lehmhäuser ihrer ärmlichen Nachbarschaft vorbei. Um drei Uhr nachmittags geht es von der Schule schnurstracks in den kleinen Schönheitssalon auf dem Basar der Stadt, den die junge Frau alleine betreibt. Dort färbt sie bis spätabends Haare, dreht aufwendige Hochsteckfrisuren für Hochzeiten und schminkt Gesichter, um zum Familieneinkommen beizutragen.
Für das Skifahren aber zahle sich jede Mühe aus, denn nichts liebe sie mehr, sagt sie und zeigt auf ihrem Mobiltelefon Bilder von sich im Schnee. Die Faszination für den Skisport hat Nazari aus dem Iran mitgebracht, wohin ihre Eltern während des Bürgerkriegs geflohen waren und wo sie geboren wurde. Dort schaute sie regelmäßig Skirennen im Fernsehen.
Es mag Schicksal gewesen sein, dass Nazari dann vor neun Jahren mit ihrer Familie genau in jene der 34 Provinzen des Landes am Hindukusch zurückkehrte, in dem die Geschichte des Skisports in Afghanistan ihren Anfang nahm. 2011 initiierten Schweizer Skifahrer die erste „Afghan Ski Challenge“ und die Regel Nummer eins lautete: Keine Waffen – wohl eher als Scherz gedacht denn wirklich notwendig, denn die Provinz gilt seit Jahren als eine der sichersten im ganzen Land.
Damals waren die Sportler noch ein Kuriosum, mittlerweile aber tummeln sich jeden Freitag über hundert einheimische Skisportler auf verschiedenen Pisten rund um den Nationalpark Band-e-Amir, auf den Bergen des Koh-e-Baba-Gebirges oder am Hadschigak-Pass. Wer Skilaufen möchte, kann sich die Ausrüstung bei einem der mittlerweile acht örtlichen Skiclubs ausborgen, die zwischen 20 und 50 Mitglieder haben. Und Ski fahren ist in dem Land, in dem Sport zumeist Männern vorbehalten ist, mittlerweile keine reine Männerdomäne mehr.
Nur gebrauchte Ausrüstung
Nazaris Ski fahren hat mit dem professionellen Skisport im Fernsehen jedoch noch wenig gemein. Das beginnt bei der Ausrüstung: Auf dem Basar von Bamiyan-Stadt sind keine Skisachen zu finden. Praktisch alles, was der Skiclub Bamiyan hat, dem Nazari angehört, wurde von Ausländern – vor allem von Schweizern – hierhergebracht. Nazari hatte die ersten zwei Winter ihrer bisher vierjährigen Skikarriere zwar Ski und Schuhe, aber weder die passende Hose noch eine Jacke.
„Wir sind mit unserer normalen Kleidung gefahren,“ erinnert sich die junge Frau, „aber wir wurden natürlich ständig nass und waren dauernd krank.“ Irgendwann schenkte ihr ein Schweizer einen richtigen Ski-Anzug. Der knallrote Zweiteiler war aber viel zu groß, die Jacke ging ihr bis über die Knie. „Meine Teamkolleginnen haben sich darüber ziemlich lustig gemacht“, sagt Nazari und verdreht die Augen.
Das Damenteam des ältesten Skiclubs der Provinz, der Bamiyan Ski Club, hatte im Vorjahr inklusive Nazari sieben weibliche Mitglieder. Eines der Mädchen heiratete im Sommer und schied aus. Zwei andere sind mit ihren Familien ins Ausland geflüchtet. Doch an Nachwuchs mangelt es nicht: In diesem Winter schrieben sich sechs neue Mädchen ein.
Neben dem Krafttraining morgens läuft die 18-Jährige regelmäßig, um ihre Ausdauer zu verbessern. Eine Notwendigkeit, denn aufgrund des mangelnden Skilifts müssen sie für jeden Trainingslauf eine halbe Stunde bis eine Stunde ihre Ski den Berg hinaufschleppen – auf bis zu 4.000 Meter Höhe. „Als ich noch kleiner war, war das richtig schwierig,“ erinnert sich Nazari, „heute sind wir aber alle fitter und wissen, wie wir die Ski am besten hochtragen.“ Ihre Mutter unterstützt sie nach Kräften: Sie war es, die sie vor vier Jahren in den Skiclub einschrieb. „Und heute arbeitet sie gemeinsam mit meiner Schwester von frühmorgens bis spätabends in ihrem Geschäft auf dem Handwerksbasar, damit sie mir gesundes, energiereiches Essen kaufen kann.“
Sponsoren für die ambitionierte Sportlerin?
Mögliche Sponsoren sind in dem krisengeschüttelten Land ein Wunschtraum, zumal der Skisport ein Nischendasein fristet und es noch immer an internationalen Erfolgen mangelt. Die wenigen reichen Firmen sponsern den Nationalsport Cricket, Buzkashi (Reitersport ähnlich wie Polo, mit einer toten Ziege als Spielball, Anm. d. R.) oder das Fußballteam. Im Frauensport waren es zumeist Förderungen aus dem Westen, die etwa das Frauenrennradteam unterstützten. Diese Gelder wurden aber teilweise wegen Korruption in den offiziellen Verbänden wieder eingestellt.
Die Trainingssaison auf Skiern in Bamiyan ist für Nazari überschaubar. Die Mühe ihrer Familie das ganze Jahr über konzentriert sich auf lediglich den Monat Februar, für den vom Skiclub eine Trainerin aus Slowenien eingeflogen wird. Immerhin wird in diesem Monat bis auf freitags jeden Tag trainiert, drei Stunden am Vormittag, drei Stunden am Nachmittag. Die Sportlerinnen haben Zeit, weil im Winter in Afghanistan Schul- und Universitätsferien sind.
Bevor aber das eigentliche Training beginnen kann, müssen die Teams erst zwei Tage den Tiefschnee platttreten, denn es gibt hier niemanden, der die Pisten präpariert. Auch ihre Ski schleifen und wachsen sie selbst. Torstangen gibt es nur beim Abschlussrennen. Sonst ziehen die jungen Frauen rund um in den Schnee gesteckte Skistöcke ihre Schwünge. Zumindest in diesem Jahr hat sich die Anstrengung von Nazari wieder ausgezahlt: Zum zweiten Mal konnte sie die Damenwertung der „Afghan Ski Challenge“ für sich entscheiden und die besten Mitbewerberinnen um mehrere Sekunden abhängen. Die 200 Euro Preisgeld will sie in besseres Equipment investieren.
Obwohl sich Fatima Nazari im Vorjahr so über den Skilift in Südkorea freute, wo sie erstmals zu einem internationalen Rennen eingeladen war – ein bisschen traurig machte er sie auch: „Denn da habe ich zum ersten Mal verstanden, was professionelles Skifahren und Training bedeuten.“ Ihrem großen Wunsch, regelmäßig bei internationalen Skirennen teilzunehmen und es schließlich bis zu Olympia zu schaffen – etwas, das zwei ihrer männlichen Skiclub-Kollegen im letzten Moment misslang – tat dies aber keinen Abbruch. „Ich habe beschlossen, einfach noch härter zu trainieren“, sagt sie und packt ihre Ski in den Bus, um kurz darauf alleine durch den Tiefschnee den Berg hinaufzustapfen.