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Die Seiltänzerin
Der lebensgefährliche Kampf für Frauenrechte

22. Juni 2016 | Von Veronika Eschbacher
Die Afghanin Bahar Sohaili ist eine der raren Frauenrechtsaktivistinnen, die sich völlig angstfrei äußern würden, heißt es in Kabul. Fotos: privat

Wer sich in Afghanistan öffentlich für Frauenrechte einsetzt, findet sich schnell in einer Achterbahn der Gefühle wieder: Mal geht es bergauf, wenn man junge, selbstbewusste Mädchen heranwachsen sieht, dann wieder bergab, wenn erschütternde Fälle an Gewalt gegen Frauen bekannt werden. Mal wird man gelobt und erhält Auszeichnungen im Ausland, dann kehrt man heim und findet wieder Todesdrohungen vor der eigenen Haustür. Bahar Sohaili, die als die radikalste unter den afghanischen Frauenrechtsaktivistinnen gilt, weiß ein Lied davon zu singen.

Von Veronika Eschbacher, Kabul

Bahar Sohaili erinnert sich bis heute mit Schaudern. Noch nie zuvor hatte sie so eine Leiche gesehen. “Sie war unglaublich zugerichtet, total verkohlt, ihr linkes Auge war offen”, erinnert sich die 30-jährige Afghanin. Sie konnte aber gar nicht anders, als hinzuschauen. Sie wollte, als der Sarg vor dem Begräbnis aus der Gerichtsmedizin in das Elternhaus gebracht wurde, unbedingt die Leiche von Farkhunda sehen. Die 22-jährige Farkhunda war vor etwas mehr als einem Jahr am helllichten Tag in Kabul von einer Meute von 400 Männern gelyncht worden, weil sie – wie sich später herausstellte zu Unrecht – beschuldigt worden war, den Koran verbrannt zu haben . „Ich musste hinschauen, als der Deckel geöffnet wurde, um mir so die Kraft dafür zu holen, ihren Sarg zu Grabe zu tragen”, sagt Sohaili.

Der historische Tag, an dem erstmals in der Geschichte Afghanistans Frauen den Männern einen Sarg entrissen und selbst einen Menschen zur letzten Ruhe betteten, wurde auch für Sohaili zu einer Zäsur. „Der Tod der unschuldigen Farkhunda war der Beginn von allem”, erinnert sie sich. „In Afghanistan ist Gewalt gegen Frauen leider alltäglich. Hier aber hörte sich alles auf. Denn es waren nicht religiöse Fanatiker, die sie qualvoll umbrachten, sondern normale Menschen auf der Straße, junge, modern gekleidete Männer, während die Polizei tatenlos zusah.”

Auflehnung von Kindestagen an

Auch Sohailis Freunde bestätigen, dass die junge, lebhafte Frau mit dem markerschütternden und mitreißenden Lachen seither eine andere ist. Zwar habe sie sich früher schon für mehr Selbstbestimmung eingesetzt und sich den engen Konventionen, die für Frauen in Afghanistan gelten, widersetzt. All das aber im privaten Bereich, innerhalb der eigenen Familie und ihrem Freundeskreis. Das begann schon in ihrer Kindheit, da sie nicht verstehen konnte, wieso der Vater immer ihren Bruder bevorzugte. „Ich hatte mindestens die gleichen Schulerfolge, wenn nicht sogar bessere. Aber der Bruder war immer wichtiger. Ich begann mich zu fragen, was an mir falsch ist“, erinnert sich Sohaili. Heute denkt sie, dass der Vater nur eine einzige Rolle für sie als Tochter vorgesehen hatte: die einer Ehefrau. „Ich sollte heiraten. Und das ist es. Ende der Geschichte.“

Die junge Frau beharrte aber auf ihrer Selbstständigkeit. „Ich finde mein Leben herrlich“, sagt Sohaili. Sie sitzt barfuß, in engen Jeans mit Löchern und einem T-Shirt in ihrem modern eingerichteten Apartment in Kabul und strahlt. „Ich kann aufstehen, wann ich will, anziehen, was ich will, sagen, was ich will und selbst meine Arbeit wählen“, sagt sie. Das sei für ihr Land äußerst ungewöhnlich – eine Frau, die alleine lebt und von keinem Mann kontrolliert wird.

Ihre Freiheit nutzt die Flugbegleiterin seit dem Tod Farkhundas auch dazu, sich öffentlich für Frauen einzusetzen, die Opfer von Gewaltverbrechen wurden. Sie sammelt Geld für sie, etwa für Reza Gul, deren Mann ihr in einem Wutanfall die Nase abgeschnitten hat. Sie kümmerte sich um die Verlegung einer schwangeren Frau, die von den Taliban angeschossen wurde, in ein besseres und sichereres Krankenhaus. Sie trat auch für Setareh ein, eine vierfache Mutter aus Herat, deren Mann ihr Nase und Lippen abschnitt. Neben finanzieller Unterstützung macht sie die Fälle auch in sozialen Medien öffentlich, damit die Opfer schneller und sicher zu ihrem Recht kommen. Auf Facebook folgen Sohaili mittlerweile 40.000 Personen. Dort schreibt sie zu den Themen Frauenrechte, Menstruation oder Religion. Sie verfasst auch Kolumnen in Tageszeitungen und wird ab und an zu Fernsehdebatten eingeladen, in denen es um Gewalt gegen Frauen geht.

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Bahar Sohaili mit Reza Gul, einem Gewaltopfer.

„Meine Fernsehauftritte werden aber nie wiederholt“, sagt Sohaili. Und auch die Zeitungsredaktionen bitten sie oft mehrmals, ihre Texte zu überarbeiten, da sie „zu radikal“ seien. Sie führt das darauf zurück, dass sie kein Blatt vor den Mund nimmt.

In der Tat stoßen sich viele in dem erzkonservativen Land an ihren Aussagen. Sohaili etwa wünscht, dass Frauen – sei es im öffentlichen Dienst oder privat – selbst wählen können, ob sie sich verschleiern. „Ich verstehe nicht, wieso ich mich im Fernsehen verschleiern muss. Ich bin kein Räuber, und Haare sind kein Verbrechen“, sagt sie. „Wenn ich hier in Jeans und einem Pullover ohne Kopftuch hinausgehe und irgendwo spreche, wird das, was ich sage, ignoriert. Ich muss mich erst verschleiern.“ Dabei habe sie ohnehin kein Interesse daran, nackt herumzulaufen. „Ich will nur die gleichen Rechte wie ein Mann, ich will mich auch entscheiden können. Es sollte eine Balance geben.“

„Frauen sind wie Gefängnisinsassen“

Auch die Wichtigkeit der Ehre und die damit verbundene (Nicht-)Freiheit von Frauen in dem Land hinterfragt sie. „Männer sind nicht nur deine Eigentümer, du bist als Ehefrau oder Tochter gleichzeitig auch ihre Ehre, ihre namus“, erklärt sie. Und das Schlimmste, das einem afghanischen Mann passieren könne, sei benamus zu werden – ehrlos. „Benamus wird ein Mann, wenn er kein guter Beobachter und Kontrolleur seiner Ehre ist, wenn er also den Frauen Freiheit von den konservativen Konventionen gewährt. Wenn ich mich als Frau also nicht verschleiere, mich entscheide, arbeiten zu gehen, wo ich auf andere Männer treffe, wenn ich einen Boyfriend habe – so ist er benamus, weil er mir das erlaubt hat.“

In diesem Fall würde die Gesellschaft beginnen, ihn zu drangsalieren, von den eigenen Familienmitgliedern, den Nachbarn bis hin zum Marktverkäufer. „Die anderen Menschen in seiner Umgebung werden ihn auf das „ehrlose“ Verhalten hinweisen, er wird sich schuldig fühlen durch den Druck von allen Seiten. Sie sagen zu ihm: Ach du meine Güte, deine Tochter ist eine Flugbegleiterin, sie bewegt sich in der Öffentlichkeit, andere Männer können ihren Körper sehen, du bist so benamus! Das ist für ihn so eine Schande, dass er darauf reagieren muss.“

Das betreffe aber nicht nur die Väter. „Auch Onkel und Brüder sind wie gute Soldaten, um ihre Schwestern und Nichten zu kontrollieren“, sagt Sohaili. Frauen seien wie Gefängnisinsassen für sie. „Mein Bruder ist ein Soldat und für meine Zelle zuständig. Wenn ich ausbreche, ist er verantwortlich.“ Und als Frau dürfe man in Afghanistan nicht entkommen – „denn eine Frau ist eine Kriminelle in diesem Land. Wegen ihrer Haare, ihres Körpers, einfach, weil sie eine Frau ist“, sagt Sohaili.

Zahlreiche Morddrohungen

Ihre Aussagen haben der Aktivistin Zustimmung, aber auch eine Reihe an anonymen Morddrohungen eingebracht. Erst Anfang Juni startete eine neue Welle an Drohungen in den sozialen Medien gegen sie, fast immer von gefälschten Profilen. Waren anfangs die Angriffe noch mehr auf persönlicher Ebene, wird der Ton zunehmend rauer. Man würde nun versuchen, sie weg von der Kritikerin und Aktivistin als Ungläubige und Islam-Gegnerin in der Öffentlichkeit zu brandmarken, sagt Sohaili. Eine Facebook-Seite veröffentlichte sogar ihre Privatadresse in Kabul. Die Postings rufen auch zu einem Boykott der Flüge der Airline auf, für die sie arbeitet. Sie sah sich daher gezwungen, vor wenigen Tagen zu kündigen.

13512244_10156981856380363_2481227341319734389_nDie junge Frau will sich davon aber nicht beeindrucken lassen. „Was für ein Beispiel gebe ich ab, wenn ich jetzt nachgebe und sie mich zum Schweigen bringen?“, sagt sie und verteidigt ihren radikalen Zugang. „Andere Frauenrechtsaktivistinnen sagen, wir sollen immer nur vorsichtig sein, immer langsam“, sagt Sohaili. Sie würden ihr vorwerfen, die Art wie sie spreche, auftrete, ihr Haar und Make-up trage, sei dem Kampf für mehr Frauenrechte nicht zuträglich. „Aber wir haben dieses Schritt-für-Schritt schon versucht – und nichts hat sich verändert.“ Sie kenne keine Frau in dem Land am Hindukusch, die alle Rechte für sich beansprucht habe. Sie versuche, radikal zu sein, „denn auch die Gewalt hier ist extrem“.

Dass auch sie selbst angesichts der Drohungen extreme Gewalt treffen könnte, jagt der jungen Frau, deren tägliche Schritte denen einer Seiltänzerin ohne Netz gleichen, keine Angst ein. „Wir wurden an einem Tag geboren, genauso wie wir an einem Tag sterben werden“, sagt sie. „Also lasst uns lieber mutigen Herzens sterben. Wieso sollte ich den Mund halten und so jeden Tag umkommen? Da erhebe ich lieber meine Stimme und sterbe in Frieden.“

 

 

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Von Veronika Eschbacher, Wien

Veronika Eschbacher war, bis zum Fall Kabuls 2021, Büroleiterin der Deutschen Presse-Agentur für Afghanistan und Pakistan. Davor war sie freie Korrespondentin für die USA und Afghanistan. Ihre journalistische Laufbahn begann als Redakteurin für Außenpolitik und Außenwirtschaft bei der österreichischen Tageszeitung „Wiener Zeitung“. Sie beschäftigt sich in ihren Reportagen und Analysen vor allem mit politischen und sozialen Themen, aber auch mit Fragen der Sicherheits- und Wirtschaftspolitik.

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