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“Die Seele einer Frau ist anders”
Porträt der ungarischen Holocaust-Überlebenden Éva Fahidi

11. Mai 2016 | Von Lisa Erzsa Weil
Lange fand Éva Fahidi keine Worte. Heute teilt die 90-Jährige ihre Erfahrungen - in Ungarn, Deutschland oder Übersee. Fotos: Daniel Kaldori

Éva Fahidi ist mit ihren 90 Jahren eine der letzten Überlebenden des ungarischen Holocaust. Lange konnte sie nicht über das Erlebte sprechen – heute tanzt sie es mit dem Stück „Sea-Lavender – Die Euphorie des Lebens“, spricht darüber mit Jugendlichen und erhält Einladungen in alle Welt.

Von Lisa Erzsa Weil, Budapest

„Hallo Lischen, ich fühle mich geehrt, dass du mich interviewen möchtest! Komm doch vorbei, wenn wir mit dem Stück aus Deutschland zurück sind. Ich umarme dich liebevoll, Éva“, antwortet mir Éva Fahidi auf meine Anfrage per E-Mail, es ist unser erster Kontakt. Ihre Wohnung befindet sich inmitten der Pester Innenstadt. „Wem es nicht unangenehm ist, den bitte ich immer, mich zu duzen – ist doch einfacher“, sagt Éva zur Begrüßung. Sie zeigt auf einen kleinen Korb mit blauen Plastiktüten. „Nehmt euch doch bitte ein Paar Überschuhe. Kaffee? Wasser?“ Dann führt sie durch die Wohnung, wo es „in manchen Zimmern noch Nacht“ ist, wie Éva die noch geschlossenen Gardinen beschreibt.

Wir kommen in einen Raum mit unzähligen Büchern, auf einem Hocker liegt ein großer, alter Teddybär und guckt an die Decke, an der Wand hängen alte Familienfotos. Éva setzt sich in einen schweren, senfgelben Sessel, dessen Lehnen die zierliche Dame zu umarmen scheinen. Ihr blauer Gymnastikball, mit dem sie ihre Turnübungen macht, liegt neben ihr auf dem Teppich. „Ach, wir können statt Ungarisch doch eigentlich auch Deutsch sprechen!“, sagt Éva. Eine Sprache, die sie nach 51 Tagen Ghetto, sechs Wochen Vernichtungslager und acht Monaten Zwangsarbeit nie wieder sprechen wollte. Und überhaupt, wie spricht man in irgendeiner Sprache darüber, was Éva wiederfahren ist?

Tanz als Sprache für das Unaussprechliche

Fast 60 Jahre hat es gebraucht, bis Éva das wusste. Bis sie zurückkehren konnte an den Ort, der sie mit nur 18 Jahren ihrer Familie beraubte, in die heutige Gedenkstätte Auschwitz. Im selben Jahr, 2003, erschien ihr autobiografisches Buch „Die Seele der Dinge“. Heute spricht die 90-Jährige, die sich selbst als „Holocaust-Aktivistin“ bezeichnet, mit Jungen und Alten über ihre Erfahrungen in Ungarn, Deutschland und Übersee. Und: Seit Oktober letzten Jahres tanzt sie ihr Leben. „Mit dem Stück wollte ich meinen 90. Geburtstag feiern. Da hab ich mir ein gutes Geschenk ausgedacht, nicht?“, findet  Éva. Das Blau ihrer Augen ist nur wenig blasser als das ihres Pullovers.

Das Tanztheaterstück „Sea-Lavender – Die Euphorie des Lebens“ hatte sie eigentlich nur einmal vortragen wollen, dann aber war es plötzlich ausverkauft. Seitdem stehen Éva und ihre Tanzpartnerin Emese Cuhorka drei Mal pro Monat im Budapester Theater „Vígszínház“ auf der Bühne und haben zusätzlich Gastspiele andernorts – kürzlich sogar in Berlin und Erfurt. „Ich hatte mein ganzes Leben lang den Eindruck, das Mittel, mit dem ich mich am besten ausdrücken kann, ist der Tanz“, sagt Éva.

Tanzen ist Évas Leben. Sie hatte auch dann getanzt, als sie den Tod sehen, riechen, spüren konnte. Nach Auschwitz wurde Éva ins Zwangsarbeiterlager Münchmühle im damaligen Allendorf, einem der knapp 130 administrativ zum Stammlager Buchenwald gehörenden Außenlager, überführt. „Dort haben wir in riesengroßen Hallen gearbeitet. Und so eine Halle ist doch eine Aufforderung zum Tanzen!“, sagt Éva. Es sei alltäglich gewesen, dass sie und die anderen Mädchen zwischendrin – trotz der stundenlangen, schweren Arbeit – hier und da etwas tanzten. „Zwei Mal hatten wir die Genehmigung bekommen, eine richtige Bühne zu bauen. Das war ein Privileg! Einmal trugen wir Shakespeares ‚Antonius und Cleopatra‘ vor, in zeitgemäßen, selbst genähten Kostümen aus Salpetersäcken und bunten Drähten. Das war wunderbar.“

Die Fabrik, in der Éva im Lager in Allendorf arbeitete, war Teil der „Reichswerke Hermann Göring“, einem der großen Konzerne im Deutschen Reich, zu denen auch I.G. Farben gehörte. „Im gesamten Komplex waren insgesamt 17.000 Menschen. Wir waren eine Gruppe aus tausend Frauen, die meisten zwischen 14 und 25 Jahre alt. Unser Lager war im Verhältnis zum Komplex kleiner, separat gelegen und dadurch im Verhältnis überschaubarer.“ Es sei ein Glück gewesen, dass das Werk davor bereits von deutschen Arbeiter genutzt worden war. „Folglich war für den deutschen Arbeiter eine Dusche gebaut worden. Eine Dusche!“, wiederholt Éva. „Das spielte eine wichtige Rolle darin, dass wir am Leben geblieben sind. Wir hatten keine Läuse, kein Typhus.“

Außerdem, so erzählt Éva, habe ihr Oberscharführer „etwas mehr Verstand gehabt als ein durchschnittlicher SS-Führer“. Er habe erkannt, dass es wichtiger sei, sein eigenes Fell zu retten, als alle Verordnungen auszuführen. Als das Ende des Krieges nahte, erhielten alle Lagerführer einen Befehl: Weder die Rote Armee noch die Alliierten dürften ein intaktes Lager finden. Daraufhin begannen die Todesmärsche, die nochmals mehreren Tausend Menschen das Leben kosteten. „Unser Oberscharführer war wenigstens so weit bei Sinnen, dass er uns in die Richtung trieb, aus der die Alliierten zu erwarten waren“, berichtet Éva. „Dadurch hatte unsere Gruppe keinen eigentlichen Todesmarsch – nach ‚nur‘ vier Tagen war alles vorbei.“

Der wesentliche Unterschied

Das Handy in Évas Hand klingelt. „Mein kleiner Engel, ich kann jetzt nicht sprechen, ich gebe gerade ein Interview. Ja meine Teure, komm nachher ruhig vorbei. Küsschen!“ Den Faden hat sie nicht verloren. „Ich bin begeisterte Feministin, ein richtiger Blaustrumpf!“, verkündet Éva. „Ich fand immer, dass wir Frauen in der Ausstellung in Buchenwald zur Geschichte des KZ nicht richtig repräsentiert werden. Momentan wird sie erneuert und man versprach mir, die Frauen würden endlich ihren würdigen Platz in der Dauerausstellung erhalten. Und siehe da – ich darf das Vorwort zur Broschüre der Ausstellung schreiben“, sagt Éva stolz.

Dann kündigt sie eine Aussage an, die sie auch aus einer „feministischen Befangenheit “ heraus träfe: “Ich sage, dass es im Frauenlager in bisschen anders war. Es gibt zwar Untersuchungen, dass die Verhältnisse im Frauenlager nicht besser waren – auch wir mussten schwere Arbeit leisten, eigentlich Männerarbeit. Ich meine jedoch, dass es einen kleinen, aber wesentlichen Unterschied in der Psyche von Frau und Mann gibt.” Das sei allen voran Zusammenhalt und Empathie. Bereits in Auschwitz-Birkenau, wo Éva sechs Wochen verbringen musste, hätten sich dauerhafte Fünfergruppen gebildet. In Évas war sie mit 18 Jahren die Älteste. Dazu kamen zwei 17-jährige Mädchen aus ihrer Schule, man kannte sich gut. Und zuletzt ein Schwesternpaar, 14 und 16 Jahre alt.

Regeln, um zu überleben

„In unserer Fünfergruppe haben wir uns gegenseitig sehr viel geholfen“, erinnert sich Éva. Sie und die anderen Mädchen stellten Regeln auf. „Eine wichtige Regel war, dass wir so miteinander sprechen wie zu Hause – nichts Gemeines also. So ein Lager ist ja bereits ein unheimlich gemeiner Ort.“ Darüber hinaus tauschten sie Brot gegen Zahnbürsten und wuschen sich jeden Tag, ob sie wollten oder nicht. „Wir hatten die Regel, dass wir unsere Schüssel nicht wie ein Hund auslecken durften. Und wir haben immer darüber geredet, was wir machen werden, wenn wir nach Hause kommen. Dass wir zurück in die Schule gehen. Man hatte uns ja aus der Schulbank gerissen, um uns nach Auschwitz-Birkenau zu deportieren.“ Sie hätten auch stets jedes Stück Brot auf alle verteilt, sogar die Brösel. „Immer immer. Und wir waren immer alle dabei, es war eine Zeremonie. Wir haben uns ersucht, einander zu helfen“, sagt Éva. Sie spricht mit einer dramaturgischen Voraussicht, mit einer Intensität, als passiere es gerade eben. Und mit Formulierungen der deutschen Sprache, die sie noch als junges Mädchen in ihrem Heimatort Debrecen in Ostungarn gelernt hat und einem kindlichen Zauber, als sei sie immer noch 18 Jahre alt.

Ich pflege zu sagen, dass wir ohne diesen Zusammenhalt, die Empathie und gegenseitige Unterstützung ganz bestimmt nicht nach Hause gekommen wären. Ich bin überzeugt davon – und der Beweis ist, dass selbst die 14-Jährige überlebt hat. Die Seele einer Frau ist anders. Wir können Kinder bekommen, sie erziehen, für uns ist es ganz natürlich, zu helfen, zu umsorgen. Das ist ein Bedürfnis! Wenn man jemanden hat, dem man helfen kann, fühlt man sich gebraucht. Das hat uns am Leben gehalten.“

Jugendliche erreichen

Es ist besonders berührend, wenn Éva mit Menschen über ihr Erlebtes spricht, die selbst gerade so jung sind wie sie damals. In Ungarn jedoch – einem Land mit einer ohnehin recht ausgeprägten Schweigekultur gegenüber dem Holocaust  – werde es immer schwerer, die mehr und mehr vom Thema entfremdeten Jugendlichen zu erreichen. Diese Erfahrung machte Éva auch mit ihrem eigenen Enkelsohn. „Er ist schon über 20, hatte aber nie Interesse an der Thematik“, erzählt sie. Ihr Buch „Die Seele der Dinge“ hat er nie gelesen. „Oma, das ist mir zu traurig“, hatte er gesagt, „ich will nichts darüber wissen.“

So kam Èva auf die Idee von „Sea-Lavender“. Sie dachte sich: Wenn man diese Jugendlichen nicht über Bücher und Vorträge erreichen kann, dann vielleicht über ein Theaterstück. „Denn die schauen doch gern Videos auf YouTube. Einmal konnte ich meinen Enkel überzeugen, sich eine Vorstellung anzusehen. Und er war ganz außer sich. Das hat ihn erreicht!“

Das erste Judengesetz Europas

Ungarische Jugendliche  sind oft schlecht über den Verlauf des Zweiten Weltkriegs im eigenen Land informiert. Doch der Umgang mit dem Thema ist in Ungarn auch abseits des Geschichtsunterrichts zurückhaltend, insbesondere in der Schuldfrage: Welche Rolle spielte Ungarn bei der Judenverfolgung? Auch hier will Éva aufklären.

Der ungarische Holocaust dauerte 57 Sommertage. Damit dies möglich werden konnte, musste er gründlich vorbereitet werden, betont Éva: „Statt der drei Judengesetze von 1938, ’39 und ’41, von denen in Ungarn zumeist gesprochen wird, gab es in Wahrheit vier: Das erste – und somit das erste antisemitische Gesetz des modernen Europa überhaupt – wurde 1920 ratifiziert, 13 Jahre, bevor Hitler an die Macht kam.“ Der sogenannte „Numerus Clausus“ sollte damals die Aufnahme von Juden an ungarische Universitäten auf sechs Prozent beschränken, bevor jüdische und jüdischstämmige Ungarn zur Zeit des Nationalsozialismus immer krasser in ihren Rechten beschnitten wurden. Sie und jeder, von dem sich herausstellte, dass er etwas mit ihnen zu tun hat, wurden der freien Berufswahl beraubt, von jeglichem Besitz, bis am 27. April 1944 die Deportationen begannen.

„1920 aber“, so Éva, „war das Deutsche Reich noch nirgendwo. Und 21 Jahre später lasen sich die Judengesetze hier genauso wie dort – dabei besetzte die Wehrmacht Ungarn erst 1944.“ SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, der die „Judenfrage“ in ganz Europa lösen sollte und für die Deportation von Millionen von Menschen verantwortlich zeichnete, soll gar davon gesprochen haben, wie erfreulich er Ungarns Kooperationsbereitschaft im Gegensatz zu Dänemark gefunden habe. Unter seiner Regie deportieren SS, Wehrmacht, Gestapo und ungarische Gendarmen insgesamt 437.402 Ungarn nach  Auschwitz-Birkenau.

Das schlechte Gewissen der Gesellschaft

Éva kritisiert generell den Umgang mit dem Holocaust in ihrem Heimatland und die fehlende Auseinandersetzung. „In Deutschland hat man viel empfindlichere Ohren für das Thema“, sagt Éva entschieden. Sie ist dort seit 2004 mehrmals pro Jahr  zu Gast. „Obwohl ich Ungarin bin und schon seit Jahren nach Deutschland fahre, hatte man mich in Ungarn bis 2010 nirgendwohin eingeladen. Die ungarischen Schulen finden: Das ist doch schon alles so lang her. Und es ist keine angenehme Periode in der Geschichte. Es sei also besser, so wenig als möglich darüber zu sprechen.“ Heute sei die Meinung in Ungarn eine etwas andere, sagt Éva: „Man soll schon über den Holocaust sprechen, nur eben nicht so, wie er wirklich passiert ist.“

Viele wünschten sich, Éva als Überlebende sollte sagen, „das Ungarn damals, das war ein ganz anderes als das heute! Das, was damals mit mir passiert ist, das waren die Deutschen, die das arme, unschuldige, kleine Land dazu gezwungen haben, die ungarischen Juden zu deportieren.“ Und Éva weiß auch, warum: Es sei schrecklich und unheimlich schwer, sich mit dem geschichtlichen Erbe auseinanderzusetzen, „aussprechen zu müssen: Mein Großvater hat als SS-Mann Menschen ermordet.“ Diese Auseinandersetzung habe in Deutschland stattgefunden – in Ungarn jedoch nie.

Ob so eine Auseinandersetzung in Ungarn noch passieren könne? Éva glaubt nicht daran. „Doch ich muss alles tun, dass zumindest meine Geschichte gehört wird“, sagt sie ruhig. „Denn die Sache ist: Solche Geschehnisse setzen sich als kollektives schlechtes Gewissen auf die Gesellschaft, und das tritt immer wieder in Erscheinung.“ Auch deswegen hat sie noch viele Pläne. „Da man ja immer große Träume haben soll, habe ich mir vorgenommen, dass wir ‚Sea-Lavender‘ 150 Mal spielen. Ich habe es mir ausgerechnet: Das sind nur drei Jahre.“ Insgeheim aber hoffe sie, dass sie es noch viel öfter vortragen.

Weiterführende Links:

Mehr zum Theater-Ensemble The Symptoms, Dramaturgin Réka Szabó und Spielplan für “Sea Lavender” hier

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Von Lisa Erzsa Weil, Budapest

Lisa Erzsa Weil studierte Kulturwissenschaften an der Elte-Universität in Budapest und an der Universität in Hildesheim. Nach dem Studienabschluss zog es sie erneut in die ungarische Hauptstadt, wo sie aktuell als freie Journalistin und Übersetzerin arbeitet. Vorher war sie zwei Jahre lang Leiterin des Kulturressorts bei der Budapester Zeitung. Mehr unter: http://weil-lisa-vagyok.tumblr.com.

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Mareike GraepelHaltern
Die US-Amerikanerin Cindy O’Brien lebt seit den 90er Jahren in Connemara, ganz im Westen von Irland und züchtet seltene Seeschnecken. Die sogenannten japanischen Abalone gedeihen an der irischen Küste gut. Sie gelten als Delikatesse und Aphrodisiakum, kosten bis zu 44 Euro pro Kilo – und sehen aus wie Vulven.

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