Die gebürtige Pakistanerin Raheel Raza, 67, lebt in Kanada, arbeitet als Journalistin, Autorin, Menschenrechtsaktivistin und ist Präsidentin des „Council for Muslims Facing Tomorrow“. Sie wirbt für einen modernen, liberalen Islam und findet den Westen im Umgang mit Islamisten naiv. Für ihre kontroversen Positionen erhält sie Todesdrohungen. Mareike Enghusen hat via Skype mit ihr gesprochen.
Frau Raza, Sie haben im vergangenen Herbst eine mehrwöchige Tour durch Europa gemacht. Was hat Sie dort am meisten beeindruckt?
Ich war erstaunt, wie politisch korrekt die Europäer sind, mehr noch als die Kanadier. Europäische Regierungen überschlagen sich fast, um die Migranten zufriedenzustellen. Unter anderem habe ich Schweden besucht, das Land, das die größte Zahl von Migranten per Einwohnerzahl aufgenommen hat. Schweden ist ein nördliches Land und nun kommen Menschen aus Nordafrika, Syrien und Pakistan, mit einer anderen Sprache, einer anderen Kultur – das ist schwierig für beide Seiten, für Neuankömmlinge genauso wie für die Gastgeber. Aber leider spricht die schwedische Regierung nicht gern über die Probleme.
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Manche Zuwanderungskritiker behaupten, der Islam sei per se nicht mit westlichen Werten vereinbar. Sie sind jedoch selbst gläubige Muslimin.
Ja, und hätte ich genügend Zeit und Geld würde ich liebend gern eine eigene Moschee gründen: von Frauen für Frauen. Ich bin in Pakistan mit einem ganz anderen Islam aufgewachsen. Meine Eltern waren praktizierende Muslime, aber bei uns zu Hause gab es Musik, Bücher und Toleranz für Andersgläubige. Mein Vater war Zahnarzt, meine Mutter Lehrerin. Sie legten viel Wert auf Bildung und schickten mich zur Universität. Pakistan war damals viel pluralistischer als heute. Ende der 70er Jahre kam jedoch ein Präsident an die Macht, der von der strengen Wahabi-Ideologie in Saudi-Arabien fasziniert war. Er begann, die Trennung der Geschlechter durchzusetzen und den Menschen die Religion aufzuzwingen. Mein Mann und ich waren schon damals Aktivisten in dem Sinne, dass wir den Status Quo hinterfragten. Ich kritisierte vor allem den Status der Frauen. Pakistan war nicht mehr der Ort, an dem man solche Fragen stellen konnte, deshalb zogen wir 1979 erst nach Dubai und später nach Kanada, wo wir Freiheit, Demokratie und Gleichberechtigung vorfanden.
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Warum blieben Sie auch im freien Kanada Aktivistin?
Wir waren in Kanada, als die 9/11-Anschläge geschahen. Das änderte alles. Ich begann, mich im Dialog mit anderen Glaubensgemeinschaften zu engagieren und sprach mich öffentlich gegen die gewalttätigen Extremisten aus, die vorgaben, in meinem Namen zu handeln.
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Vor fünf Jahren haben Sie den „Council for Muslims Facing Tomorrow“ mitbegründet. Mit welchem Ziel?
In den frühen Tagen der muslimischen Einwanderung nach Kanada gelang es einigen Gruppierungen, sich als Vertreter aller Muslime zu etablieren. In vielen europäischen Ländern geschah etwas ähnliches. Westliche Regierungen unterstützen diese Organisationen, weil sie Muslime gern als einheitlichen Block betrachten. Dabei übersehen sie die große Vielfalt in muslimischen Communities. Deshalb habe ich mich mit vier gleichgesinnten Muslimen zusammengetan und eine eigene Organisation gegründet, um zu zeigen: Es gibt noch andere Stimmen! In unserem Beratungsgremium sitzen auch jüdische und christliche Vertreter. Wir wollten die Organisation so divers wie möglich aufstellen.
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Was unterscheidet Ihre Organisation von anderen muslimischen Verbänden?
Heute werden Muslime in westlichen Gesellschaften in erster Linie von drei Strömungen beeinflusst: dem Wahabi-Salafismus aus Saudi-Arabien, dem Khomeinismus für die Schiiten und von den Muslimbrüdern, die am gefährlichsten sind, weil sie so subtil agieren. Manchmal wissen westliche Regierungen sogar von ihren Aktivitäten, haben aber kaum legale Mittel, um sie zu stoppen. Deshalb müssen wir Muslime selbst diesen Leuten Einhalt gebieten. Das Ziel unserer Organisation ist es, eine authentische, einheimische Bewegung für Muslime in Kanada zu formen. Wir wollen die Schönheit unseres Glaubens zurückzuholen und das Narrativ weglenken von all der Gewalt und den Problemen, die heute mit dem Islam verbunden sind.
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Was wollen Sie mit dem Namen „Muslims Facing Tomorrow“ ausdrücken?
Über mehrere Jahre hinweg wurde ich zu einer jährlichen Konferenz namens „Facing Tomorrow“ nach Israel eingeladen, die der damalige israelische Präsident Shimon Peres veranstaltete. Er versammelte Menschen aus aller Welt in Jerusalem, um über künftige globale Herausforderungen und mögliche Lösungen zu diskutieren. Ich fragte die Veranstalter, ob ich den Namen für meine eigene Organisation verwenden könne, denn er ist so relevant für unsere aktuellen Probleme: Viele Muslime wünschen sich heute, wieder im 7. Jahrhundert zu leben, anstatt nach vorn zu schauen und die Moderne und die Aufklärung zu begrüßen. Ich dagegen will mich der Zukunft zuwenden.
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Es heißt manchmal, der Islam brauche einen muslimischen Martin Luther, der den Glauben reformiert. Was halten Sie davon?
Dem stimme ich absolut zu! Tatsächlich habe ich mich vor einem Jahr zusammen mit 14 Muslimen aus der gesamten westlichen Welt zusammengetan, um eine muslimische Reformbewegung zu gründen und den Islam ins 21. Jahrhundert zu bringen.
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Kann die Scharia, das islamische Rechtssystem, denn so flexibel ausgelegt werden, dass sie mit den Werten liberaler Gesellschaften vereinbar ist, beispielsweise der Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann?
Es besteht ein weit verbreitetes Missverständnis darüber, was die Scharia eigentlich ist. Im Koran, unserem heiligen Buch, wird das Wort „Scharia“ nur dreimal erwähnt – und es steht für moralische und ethische Führung. Die tatsächlichen Gesetze der Scharia wurden 100 Jahre nach dem Tod des Propheten festgelegt. Die Verfechter der Scharia behaupten, die Scharia sei heilig, aber das ist nicht wahr. Diese Gesetze wurden vor Jahrhunderten von Menschen gemacht, sie benachteiligen sowohl Frauen als auch Minderheiten und genau deshalb müssen sie ans 21. Jahrhundert angepasst werden.
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In einem Ihrer Artikel haben Sie geschrieben, Donald Trump liege in mancher Hinsicht richtig, was radikalen Islamismus betrifft. Was meinten Sie damit?
Der frühere US-Präsident Barack Obama brachte es nicht über sich, die Worte „radikale islamistische Ideologie“ in den Mund zu nehmen. Aber die Menschen sind nicht dumm: Sie wissen, dass es ein Problem mit radikaler islamistischer Ideologie gibt. Wenn dann jemand kommt, der sagt, diese Ideologie ist ein Problem, dann hören die Leute natürlich hin – auch wenn Trump diese Dinge auf eine sehr krude Art ausdrückt. Was wir brauchen, ist eine ausgewogene Debatte über radikalen Islam und muslimische Einwanderung. Jedes Problem hat zwei Seiten und es nützt nichts, eine davon zu unterdrücken.
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Sie haben sogar Sympathie für Trumps Vorschlag geäußert, Muslimen pauschal die Einwanderung in die USA zu verweigern.
Ich bin nicht für ein pauschales Einwanderungsverbot. Mein Vorschlag lautete: Wenn ein Land mit Masseneinwanderung konfrontiert und damit überfordert ist, dann ist ein temporärer Stopp keine schlechte Idee, insbesondere gegenüber Ländern, die Terror exportieren. Man räumt ja auch erst sein Haus auf, bevor man Gäste einlädt.
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Erhalten Sie Drohungen, wenn Sie solche Meinungen öffentlich äußern?
Ja, und das ist eine gute Sache: Das bedeutet, jemand hört zu (lacht). Ich habe Todesdrohungen bekommen, ich wurde verklagt und ein saudischer Kleriker hat eine Fatwa (ein islamisches Rechtsgutachten; in diesem Kontext eine Todesdrohung, Anmerkung der Redaktion) gegen mich ausgesprochen.
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Wie haben Sie von der Fatwa erfahren?
Sie kam per E-Mail. Eigentlich ist das ziemlich bedrohlich, aber ich lache über solche Dinge nur. Das ist die einzige Methode, damit umzugehen. Ließe ich mich einschüchtern, hätten meine Gegner Erfolg. Also lege ich mein Schicksal in Gottes Hände und mache weiter.
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Glauben Sie, für muslimische Frauen ist es noch schwerer als für Männer, sich öffentlich so kontrovers zu äußern?
Oh ja, unbedingt! Frauen soll man sehen, nicht hören. Eine muslimische Frau, die spricht wie ich, ist ein Dorn im Auge muslimischer Extremisten.
Raheel Razas Buch „Their Jihad, Not My Jihad“ lässt sich als PDF-Datei auf ihrer Webseite herunterladen.