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Die Rollenbrecherinnen
Gender-Stereotype nachaltig verändern

9. Februar 2022 | Von Sarah Tekath
Das ist das Ziel der Amsterdamer Organisation „Project Fearless“ ist Mädchen zum Beispiel durchs Skateboarden selbstbewusst und furchtlos zu machen.

Noch immer gibt es bestimmte Sportarten, Aktivitäten und Berufe, die als typisch weiblich oder typisch männlich gelten. Das fängt schon bei Kindern an. Die Amsterdamer Organisation „Project Fearless“ und das Projekt „Bildbrecher“ wollen das ändern und zeigen Mädchen, was in ihnen steckt.

Von Sarah Tekath, Amsterdam

Der Countdown läuft. Jetzt heißt es, alles geben. 40 Sekunden lang. Die Teenagerin hebt beide Fäuste, die in dicken Boxhandschuhen stecken. Vor ihr ragt der schwere Boxsack auf. Der Timer piept und sie legt los. Mit aller Kraft drischt sie auf den Sack ein, schlägt von links und rechts, bringt den Sack mit ihren Tritten fast zum Umkippen. Anfeuerungsrufe der anderen Teilnehmerinnen hallen durch den Raum. Das Geschrei motiviert sie, das Letzte aus sich herauszuholen. Am Ende ist ihr Gesicht knallrot. Das Mädchen ist völlig außer Atem. Aber sie strahlt, denn so stark wie heute hat sie sich noch nie gefühlt. 

Das ist das Ziel der Amsterdamer Organisation „Project Fearless“: Mädchen durch verschiedene Programme selbstbewusst, stark und furchtlos machen. Dafür werden einerseits verschiedene Sport-Workshops angeboten, etwa Skateboarden, Fünf-Kilometer-Lauftrainings, Bouldern, Touch Rugby und Kickboxen. Andererseits gibt es die sogenannten Building-Workshops in Kunst, Wissenschaft und Handarbeit, um den Mädchen zu zeigen, dass sie mit ihren eigenen Händen etwas schaffen können. Die Kurse dauern üblicherweise mehrere Wochen, es gibt aber auch eintägige Schnupper-Events. Sie finden an verschiedenen Orten in Amsterdam statt – in Stadtvierteln mit hohem Ausländer*innenanteil, aber nicht ausschließlich.

Selbstbewusst durch Sport

Das Projekt finanziert sich über mehrere Wege: Teilweise durch Sponsoring lokaler Unternehmen, aber auch durch einen Kostenbeitrag, den die Eltern bezahlen. Ein achtwöchiger Workshop zum Thema Kunst und Aktivismus kostet etwa 50 Euro, Skateboarden 150 Euro. „Wir haben aber auch Teil- und Vollstipendien“, sagt Merida Miller, Gründerin von „Project Fearless“. „Wir wollen auf keinen Fall, dass die Teilnahme an der finanziellen Lage scheitert.“ Auch deshalb sind einige Angebote kostenlos, wobei Spenden erbeten werden. Die Zielgruppe des im Jahr 2019 gestarteten Projekts sind Mädchen und non-binäre Kinder zwischen neun und 14 Jahren. Bis jetzt haben mehr als 200 von ihnen an den Kursen teilgenommen.

Mittlerweile wird Raya für ihre Tricks auf dem Board von jüngeren Mädchen bewundert.

Eine davon ist die 13-jährige Raya, die schon mit elf Jahren bei „Project Fearless“ angefangen hat und seitdem beim Skateboarden und den Lauftrainings mitmacht. „Am Anfang war ich etwas nervös, zum Skateboarden zu gehen, weil ich dachte, dass das eher was für Jungs ist. Aber ich habe gesehen, dass es nur Mädchen und Trainerinnen waren, und ich war beruhigt.“ Für Raya ist „Project Fearless“ vor allem ein sicherer Ort, an dem sie sie selbst sein kann und wo es kein Problem ist, Fehler zu machen. Mittlerweile kämen die jungen Anfängerinnen zu ihr und würden sie für ihre Tricks bewundern, erzählt sie.

Berufe basiert auf typischen Geschlechtereigenschaften

Dass es hinsichtlich veralteter Geschlechterrollen in den Niederlanden noch viel zu tun gibt, weiß auch Tess Schoneveld. Sie ist Projektmanagerin am Amsterdamer Expertisezentrum Genderdiversität in Technik und IT und dort für das Projekt „Bildbrecher“ zuständig, das Grundschüler*innen über Geschlechtervielfalt in technischen Berufen informiert. Sie erklärt: „In den Niederlanden sind viele Berufsgruppen immer noch basiert auf veralteten Vorstellungen von angeblichen Eigenschaften der Geschlechter. Frauen arbeiten in pflegenden Berufen oder mit Kindern, Männer arbeiten im Bereich Technik oder Politik. Darum wollen wir den Kindern zeigen, dass es auch anders geht.“

Ein gemaltes Bild zeigt eine Frau bei ihrer Arbeit am Laptop (Foto: VHTO Beeldenbrekers / Mila van Egmond).

Schonevelds Einschätzung bestätigen auch Zahlen des niederländischen Bundesamtes für Statistik. So sind nach Erhebungen des Jahres 2021 von zehn Personen, die in technischen Berufen arbeiten, acht männlich. In pädagogischen Berufen hingegen sind von zehn Personen sieben weiblich, in pflegenden Berufen sogar acht. Schulen können sich auf der Webseite kostenlos für eine „Bildbrecher“-Unterrichtsstunde anmelden, um eine Expertin einzuladen, die ihren technischen Beruf vorstellt.

Dieses Angebot wird, so Schoneveld, von Grundschulen in den gesamten Niederlanden wahrgenommen. Die sozialen Hintergründe der Kinder werden dabei nicht erfasst. Das Projekt wird finanziert durch die Allianz Chancengleichheit des Ministeriums für Bildung, Kultur und Wissenschaft, es werden aber auch einzelne Klassen von Unternehmen gesponsert.

Nur männliche Vorbilder

„Die Schüler erfahren, dass der Gast Brücken baut, dann malen sie ein Bild. Meist mit männlichen Personen“, so Schoneveld. Die Vorstellung etwa einer Architektin soll vor allem den Schülerinnen deutlich machen, was beruflich möglich ist. „Viele Mädchen ziehen eine solche Arbeit für sich nicht in Erwägung“, erklärt Schoneveld. „Das liegt daran, dass sie keine weiblichen Vorbilder in diesen Berufen haben. Wenn wir sie fragen, ob sie jemanden kennen, dann ist es immer der Vater, der Opa oder der Nachbar, aber so gut wie nie eine Frau aus dem direkten Umfeld.“

„Schau mal hinter dich. Du rennst so schnell, dass du Feuer fängst“, steht auf Meeshas Plakat beim Lauftraining.

In den Unterrichtsstunden, an denen Jungen und Mädchen teilnehmen, sei es oft das erste Mal, dass Mädchen mit technischen Berufen in Berührung kämen. Darum gehe es beim Projekt „Bildbrecher“ vor allem darum, das Bild einer Frau in einem technischen Beruf zu normalisieren. So stellen sich zum Beispiel weibliche Software Engineers, 3D-Druck-Ingenieurinnen oder Produktentwicklerinnen vor. „Die Kinder dürfen dann, je nachdem wie alt sie sind, zum Beispiel Bau-Material anfassen, ein technisches Gerät ausprobieren oder einfach nur einen Helm aufsetzen.“ Eine der Frauen habe die Kinder mit einem Produktscanner verschiedene Barcodes scannen lassen, woraufhin Worte angezeigt worden seien, aus denen sie Sätze bilden mussten.

Den Mangel an weiblichen Vorbildern hat auch Catherine Sorbara erlebt, die einen Doktortitel in Medical Life Science and Technology hat und bei „Project Fearless“ Workshops zum Thema Wissenschaft und Klimawandel gibt. „Mein Vater, mein Bruder, meine Lehrer. Alle meine Vorbilder im Bereich Technik, Mathematik und Wissenschaft waren männlich“, erklärt sie. Als Mädchen habe sie deshalb immer das Gefühl gehabt, sich extra beweisen zu müssen gegen die Jungs. In ihrem achtwöchigen Kurs lässt sie die Mädchen experimentieren, um die Grundlagen des Klimawandels zu verstehen. „Wir simulieren die Erderwärmung in einer Flasche oder entwickeln Konzepte für nachhaltige und effiziente Windräder“, so Sorbara.

„Ich möchte, dass sie die Möglichkeit bekommen, sich selbst auszuprobieren. In der Schule geht es in wissenschaftlichen Fächern um gute Noten, aber bei uns soll es normal sein, zu scheitern. So ist es auch in der Wissenschaft. In 99 Prozent der Fälle liegt man daneben.“ Bei ihr stehe nicht der Erfolg im Vordergrund, sondern der Spaß an wissenschaftlichen Experimenten.

Außerdem wolle sie den Mädchen etwas an die Hand geben gegen die beunruhigenden Berichte über Klimawandel in den Medien. „Die Mädchen wissen sehr genau, wie heikel die Lage ist und dass die Welt nicht genug unternimmt. Das kann ihnen Angst machen. Aber durch das, was sie bei mir lernen, können sie proaktiv werden und haben nicht mehr das Gefühl, ausgeliefert zu sein.“

Was sie selbst zu leisten imstande ist, musste auch die elfjährige Meesha, die jetzt seit eineinhalb Jahren bei „Project Fearless“ an Lauftrainings und Skateboarden teilnimmt, erst lernen: „Als ich mit dem Lauftraining begonnen habe, war ich nervös, was die Leute denken könnten, wenn ich Teile der Runde gehe, anstatt sie zu laufen.“ Seitdem habe sich ihr Laufen aber stark verbessert und sie sei deswegen sehr selbstsicher.

Es sind diese Unsicherheiten der Mädchen, die Merida Miller dazu veranlasst haben, eine möglichst junge Zielgruppe für „Project Fearless“ zu wählen. „Junge Mädchen haben weniger Bedenken. Sie trauen sich Dinge und probieren alles aus. Kommen sie in die Pubertät, beginnen sie, an sich zu zweifeln und machen sich Sorgen, was andere von ihnen halten könnten, wie sie ankommen und wie sie aussehen.“

Selfie von Merida, Raya und Meesha (von links).

Auch Tess Schoneveld vom Projekt „Bildbrecher“ sagt: „Wir fokussieren uns auf Kinder von knapp fünf bis zwölf Jahre. Das tun wir, weil sich in diesem Alter Rollenbilder noch nicht so verfestigt haben. Im Laufe ihres Lebens werden Kinder stark im Alltag und in den Medien damit konfrontiert und dem wollen wir zuvorkommen, indem wir Frauen in typischen ‚Männerberufen‘ vorstellen.“

Das Bild von Geschlechterrollen ändern

Dies bestätigt auch Rayas Vater Jake Noakes: „Raya hat in einem von Project Fearless organisierten Workshop einen kurzen Promo-Film für das Projekt gedreht, zusammen mit einer Filmemacherin. Dabei hat sie gesehen, dass es auch Frauen in diesem eher als typischen Männerberuf empfundenen Bereich gibt. Das ist eine Inspiration für sie. In der Schule hören die Kinder ständig, dass Mädchen alles können, was Jungs können. Aber das ist nur Theorie. Hier können es die Mädchen selbst erleben.“

Ein Einfluss, der sich bemerkbar macht, denn Raya träumt davon, später beruflich etwas Kreatives zu machen – vielleicht mit Film. Aber bis es so weit ist, ist sie fest entschlossen, so bald wie möglich eine Mentorin bei „Project Fearless“ zu werden, um jungen Mädchen die Unterstützung zu geben, die sie selbst auch bekommen hat.

Wie sich die Kinder entscheiden werden, die in der Grundschule am Projekt „Bildbrecher“ teilgenommen haben, ist jetzt noch nicht abzusehen. Aber egal, was die Zukunft bringen wird, die Mädchen wissen jetzt, dass sie stark und furchtlos genug sind, alles zu tun, was sie wollen.

Disclaimer: Unsere Niederlande-Korrespondentin Sarah Tekath, Autorin dieses Textes, engagiert sich selbst als freiwillige Trainerin bei „Project Fearless“ in Form von Selbstverteidigungs- und Kickbox-Kursen für Mädchen und Frauen.   

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Von Sarah Tekath, Amsterdam

Sarah Tekath kommt ursprünglich aus dem Ruhrgebiet, hat in Prag gelebt und schrieb dort als Freie für die Prager Zeitung und das Landesecho. Im Jahr 2014 zog sie nach Amsterdam, wo sie unter anderem für das journalistische Start-up Blendle arbeitete. Seit 2016 ist sie selbständige Journalistin und hat sich in den vergangenen Jahren vor allem auf die Produktion von Podcasts spezialisiert.

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Mareike GraepelHaltern
Die US-Amerikanerin Cindy O’Brien lebt seit den 90er Jahren in Connemara, ganz im Westen von Irland und züchtet seltene Seeschnecken. Die sogenannten japanischen Abalone gedeihen an der irischen Küste gut. Sie gelten als Delikatesse und Aphrodisiakum, kosten bis zu 44 Euro pro Kilo – und sehen aus wie Vulven.

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