Anne Lorne ist Französin, jung, katholisch und politisch engagiert. Vor vier Jahren demonstrierte sie bei der „manif pour tous“ gegen die sozialistische Regierung und die Einführung der Homo-Ehe. Sie sieht sich selbst als Vertreterin einer ehemals stillen konservativen Masse an Menschen, die mittlerweile wieder Gehör in der Öffentlichkeit findet. Für die konservativen Republikaner will die Lyonerin jetzt selbst ins Parlament einziehen.
Von Carolin Küter, Lyon
Anne Lorne ist wütend. Gerade auf einem Wochenmarkt in Lyon angekommen, sticht ihr ein Wahlplakat der Links-Außen-Partei „La France Insoumise“ (übersetzt „Das nicht unterworfene Frankreich“) des Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Melenchon ins Auge. Es wurde auf einen Stromkasten geklebt. „Schauen Sie sich das an, das ist wildes Plakatieren. Wenn wir das machen würden, würde man uns den Prozess machen“, sagt die junge blonde Frau. Aber Lorne hat keine Zeit, sich weiter aufzuregen. Die Kandidatin der konservativen Republikaner für die französische Parlamentswahl im Juni ist im Wahlkampf.
Sie will einen von vier Wahlkreisen in Lyon, immerhin der drittgrößten französischen Stadt, erobern. Doch bevor sie und ihr Team richtig damit anfangen, für sie als lokale Abgeordnete zu werben, stehen erst einmal die Präsidentschaftswahlen mit den beiden Wahlrunden im April und Mai an. Das Volk kann aus insgesamt elf Kandidaten die Nachfolge des sozialistischen Amtsinhabers François Hollande wählen. Die Gewinner des ersten Wahlgangs treten dann in einer Stichwahl gegeneinander an.
Ausgerüstet mit Flyern zum Programm des Kandidaten ihrer Partei, François Fillon, sondiert Lorne an diesem Donnerstagnachmittag die Marktbesucher. Sie nähert sich einer älteren Dame. „Ach Fillon, der ist doch korrupt. Der sollte seinen Platz räumen“, schimpft die Seniorin. Dem Kandidaten wird vorgeworfen, seine Frau und zwei seiner Kinder zum Schein als parlamentarische Assistenten beschäftigt und sich so mehr als 600.000 Euro erschlichen zu haben. Gegen das Ehepaar Fillon und den ehemaligen Stellvertreter des Politikers wird derzeit ermittelt. Die Popularität des Politikers in den Umfragen ist durch das Bekanntwerden der Vorwürfe stark gesunken. Derzeit liegt er auf etwa gleichauf mit Melenchon auf dem dritten Platz – und würde damit nicht in die Stichwahl kommen.
Katholikin und Mutter von vier Kindern
Lorne lenkt das Gespräch mit der Marktbesucherin sofort auf ein anderes Thema: Dafür, dass Fillon seinen Platz räume, sei es zu spät. „Aber er hat eine solide Basis und ein sehr schönes Programm.“ Die Seniorin arbeitet sich an den Themen ab, die ihr offensichtlich Frust bereiten: Es könne nicht sein, dass Menschen das Sozialsystem missbrauchten, während sie ihr ganzes Leben lang hart gearbeitet habe, beklagt sie sich. Lorne pflichtet ihr bei. „Arbeit muss aufgewertet werden“, sagt sie und es klingt wie ein Befehl, der keine Widerrede duldet.
Lorne gehört zu einer Gruppe junger Franzosen aus stark katholisch geprägten Milieus, die sich in den vergangenen fünf Jahren aus Opposition zur Präsidentschaft des Sozialisten Hollande einen Platz am rechten Rand der bürgerlichen Politik erobert haben. Die gebürtige Lyonerin, 36 Jahre alt, bekennende Katholikin, verheiratet und stolze Mutter von vier Söhnen im Alter von sechs bis zwölf Jahren. Sie ist zwar seit Jahren ehrenamtlich politisch engagiert, aber Berufspolitikerin zu werden war für die studierte Geo-Historikerin lange keine Option, sagt sie. Schließlich habe sie an ihren eigenen Eltern gesehen, wie wenig Zeit dann für die Familie bleibt.
Vater und Tochter im gleichen Lokalparlament
Lornes Vater ist Politiker und Generalsekretär der nationalkonservativen und EU-skeptischen Partei „Mouvement pour la France“ (übersetzt „Bewegung für Frankreich“), die auch mit Ideen des „Front National“ sympathisiert. Er sitzt wie sie als Abgeordneter im Parlament der Region Auvergne-Rhône-Alpes. „Meine Kinder sind nicht gerade begeistert, dass ich Politik mache“, erklärt Lorne. Aber es sei für sie eine Ehre, dass sie als Kandidatin für einen wichtigen Wahlkreis in einer Großstadt ausgewählt wurde. „Es gibt nicht viele Frauen, die diese Chance bekommen. Vor allem, wenn sie, wie ich, nicht einen entsprechenden Abschluss haben“, sagt sie in Anspielung auf die „Grandes Écoles“, die französischen Elite-Unis, auf denen die politische Führungsriege des Landes geschmiedet wird.
Lorne ist in der heißen Wahlkampfphase vier Mal in der Woche auf Märkten, um für François Fillon und ihren eigenen Sitz in der Pariser Nationalversammlung auf Stimmenfang zu gehen. Sie bekomme viel von der Politikverdrossenheit im Land zu spüren: „Man steckt uns Politiker alle in die gleiche Schublade.“ Dabei würde die Mehrheit der Parlamentarier und die Hunderten von Ehrenamtlichen, die in den Parteien engagiert sind, sehr gute Arbeit leisten. „Aber das interessiert die Medien ja nicht“, so Lorne. Stattdessen werde auf dem Scheinbeschäftigungsskandal um Fillon herumgeritten. Dass der Kandidat angesichts des juristischen Verfahrens gegen ihn selbst zum Bild des korrupten Politikers beiträgt, will sie nicht gelten lassen.
„Ich glaube an die Unschuldsvermutung, das ist schließlich ein grundlegendes Prinzip der Verfassung unserer Republik. Die Medien machen sich zu den neuen Richtern. Zwischen den Informationen, die rund um die Uhr im Fernsehen verbreitet werden und den wirklichen Problemen der Franzosen liegen Welten“, sagt sie wütend. Deswegen würden sich die Menschen von der Politik abkehren. Sie sei angetreten, um „das echte Land wieder mit der Politik zu verbinden“.
Wahlkampf mit eigenen Mitteln
Bevor sie in die Berufspolitik kam, hat Lorne in der Kommunikationsbranche gearbeitet. Ihre Aufstellung als Kandidatin finanziert sie mit eigenen Mitteln und Spenden von Parteimitgliedern, Sympathisanten und Freunden. Mitglied der Republikaner ist sie seit 2002. Der Gründungsparteitag und der ehemalige Präsident Nicolas Sarkozy hätten sie vom Programm der Rechten überzeugt.
Initialzündung für ihren Eintritt in die aktive Politik war jedoch erst ihr Engagement in der „manif pour tous“ (übersetzt „Demo für alle“). Die Bewegung gründete sich Ende 2012 aus Protest gegen die von den Sozialisten geplante Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe, der sogenannten „Ehe für alle“ und das damit einhergehende Adoptionsrecht. Lorne war in Lyon eine der führenden Figuren. Die Organisatoren brachten auf dem Höhepunkt der Proteste zu Beginn 2013 im ganzen Land Zehntausende Menschen aus bürgerlichen bis rechtsextremen Gruppierungen auf die Straße – ein Widerstand gegen die Homo-Ehe, der in dieser Heftigkeit für viele liberale Franzosen überraschend kam und deutlich größer war als in anderen europäischen Ländern. Am Ende wurde das Gesetz im Mai 2013 trotzdem verabschiedet.
Laut einer Umfrage konnte sich 2014 ein Drittel der Menschen im Land mit den Werten und Ideen der Bewegung identifizieren. Im Zentrum der von katholischen Aktivistinnen angeführten Forderungen stand die Erhaltung der klassischen Familie. Denn für „manif pour tous“-Anhänger wie Lorne ist das Vater-Mutter-Kind-Modell viel mehr als nur eine Form des Zusammenlebens: „Das ist das Schema, auf dem unsere Gesellschaft gegründet ist.“ Bei den Protesten sei es deswegen auch um nichts weniger als einen Kulturkampf gegangen.
Für Lorne ist die Massenmobilisierung durch die „manif pour tous“ ein Zeichen dafür, dass es ein „schweigendes Volk“ gab, das sich von der Politik unverstanden fühlte. Um die Bewegung und ihre Ideen weiter zu führen, gründete sie 2013 gemeinsam mit anderen Gleichgesinnten „sens commun“ (übersetzt „gesunder Menschenverstand“). Die Anführer des Bündnisses sind größtenteils junge gebildete Katholiken wie Lorne, die sich als Familienmenschen mit konservativer Weltanschauung präsentieren. „Sens commun“ hat etwa 9.000 Mitglieder und ist mittlerweile an die Partei der Republikaner angegliedert. Mit der Wahl des bekennenden Katholiken François Fillon zum Präsidentschaftskandidaten witterten französische Medien einen steigenden Einfluss des Bündnisses. So will Fillon zum Beispiel die Homo-Ehe wieder aufheben.
Lorne sagt, ihr Engagement für „sens commun“ habe ihr dabei geholfen, sich ein Netzwerk und eine ideologische Leitlinie aufzubauen. Das Bündnis funktionierte in ihrem Fall als Nachwuchsschmiede der bürgerlichen Rechten: Lorne machte sich einen Namen als ultra-konservative Figur in der lokalen Politik. Bei den Regionalwahlen 2015 ließ Laurent Wauquiez, der heutige Präsident der Region Auvergne-Rhône-Alpes, die Lyonerin auf seine Liste setzen. Ihre Funktion als Delegierte für „sens commun“ hat sie aufgegeben, seitdem sie als Abgeordnete für die Republikaner im regionalen Parlament sitzt. 2017 folgte die Aufstellung als Kandidatin für die Nationalversammlung in einem Wahlkreis, in dem der Sieg möglich, aber keinesfalls sicher ist.
Nation, Geschichte und Identität sind die zentralen Wörter
Möglicherweise hat sich Wauquiez vom Temperament und Geschick Lornes beeindrucken lassen, mit dem sie die Positionen der Partei vertritt. Beim Stimmenfang auf dem Wochenmarkt wirkt sie jedenfalls wie in ihrem Element. Die 36-Jährige betont jedoch, dass eine dauerhafte politische Karriere für sie nicht in Frage kommt. Sie merke bereits jetzt, wie in der Politik intrigiert werde. Auch sie selbst spüre manchmal die Versuchung, sich auf Kosten anderer zu profilieren, so Lorne. Sie habe sich jedoch Hindernisse gesetzt, die sie davor schützen sollen: ihre Kinder und Wahlkampfhelfer mit dem richtigen moralischen Kompass.
Vor ihrem Eintritt in die Berufspolitik hat sie sich zusammen mit anderen jungen Gläubigen für die Aufnahme christlicher Flüchtlinge aus Kriegsgebieten im Nahen Osten engagiert. Als Kandidatin für die Parlamentswahlen und offizielle Wahlkämpferin vertritt sie eine andere Position, die von François Fillon: Einwanderung soll aufs strikte Minimum reduziert werden. Die Bekämpfung von Problemen wie Arbeitslosigkeit, Sozialmissbrauch und niedrige Gehälter hat Vorrang.
Nation, Geschichte, Identität sind Wörter, die Lorne immer wieder benutzt, wenn sie ihre politische Weltsicht erklärt. Disziplin, Fleiß und Durchhaltevermögen sind die Werte, die sie hochhält. Vor Kurzem habe sie auf einem Markt nach dem Abbau der Stände mit den Händlern noch einen Happen gegessen. „Ich liebe es, mit diesen Leuten zusammen zu sein“, sagt sie und in ihrer Stimme schwingt Bewunderung mit. „Das ist das wahre Frankreich: Menschen, die früh aufstehen und viel arbeiten.“ Sie wolle sich dafür einsetzen, dass die einfachen Leute angemessen bezahlt würden.
Die Verbindung zu dieser Wählerklientel gelingt ihr mühelos. Das demonstriert sie beim Einkauf an einem Käsestand auf dem Markt, auf dem sie Wahlkampf macht: Lorne lässt sich von dem Händler erklären, aus welcher Region der Weichkäse in der Auslage kommt, packt eine ordentliche Portion ein und scherzt: „Ich habe vier Söhne, da kommt einiges weg.“ Der Käserverkäufer ist sichtlich angetan von dem Kinderreichtum. Die beiden kennen sich. Die Politikerin versucht seit drei Wochen zusammen mit der Stadtteilverwaltung ein Ladenlokal für den Händler zu finden, der das Rentenalter erreicht hat. „Er übernimmt Verantwortung für sein Leben, das finde ich schön“, sagt sie.
Die Disziplin, die sie an anderen bewundert, legt Lorne auch selbst an den Tag. Dass sie Migräne hat, merkt man ihr erst an, als sie nach dem Wochenmarkt am Steuer ihres Autos sitzt und sich und ihre zwei Wahlhelfer zu einem Restaurant fährt, in dem sie mit anderen Ehrenamtlichen zu Abend essen wollen. Immer wieder fasst sie sich an den schmerzenden Kopf, während sie durch den Feierabendverkehr lenkt und sich darüber beschwert, dass Lokalpolitiker, die Gutes für ihre Gemeinde tun, zu wenig Aufmerksamkeit bekämen.
Abrupt hält sie auf dem Fahrradstreifen neben der Fahrbahn an. Ihr Mann wartet dort, um den Käse vom Wochenmarkt entgegenzunehmen. Während Lorne ihm die Tüte durch das Autofenster reicht, vergisst sie nicht, sich bei dem Radfahrer zu entschuldigen, den sie beim Anhalten ausgebremst hat. Lorne ist als ältestes von sieben Geschwistern aufgewachsen, das bringe ein gewisses Pflichtbewusstsein mit sich. „Ich bin mal mehrere Monate lang mit einem Bruch am Handgelenk herumgelaufen“, sagt sie und es klingt, als wäre sie stolz darauf.