Er ist das derzeit wohl bekannteste Gesicht Saudi-Arabiens – zumindest in der westlichen Welt. Der Blogger Raif Badawi wurde vor einem Jahr zu 1.000 Stockhieben, zehn Jahren Gefängnis und einer hohen Geldstrafe verurteilt. Raifs Frau, Ensaf Haidar, ist mit den drei gemeinsamen Kindern nach Kanada geflüchtet. Wie in der arabischen Welt üblich, hat sie nach der Hochzeit ihren Familiennamen behalten. Von Kanada aus hat sie eine Medienkampagne gestartet, damit Raifs Gesicht und seine Geschichte nicht vergessen werden. Unsere Korrespondentin hat mit Ensaf Haidar, über mehrere Monate hinweg, immer wieder telefoniert.
Von Sabine Rossi, Kairo
„Es tut mir leid“, sagt Ensaf Haidar, „kannst du mich gleich noch einmal anrufen?“ oder „entschuldige, ich bin noch in einem Interview – geht es in zehn Minuten?“ Mit der Frau von Raif Badawi in Ruhe zu sprechen, erfordert Geduld. Beim letzten Mal war sie auf dem Heimweg im Bus. Ein anderes Mal war sie unterwegs zu einer Mahnwache vor der saudischen Botschaft in Kanadas Hauptstadt Ottawa. Unermüdlich setzt sich Ensaf Haidar für die Freilassung ihres Mannes ein.
Sie arbeite sehr viel, den ganzen Tag, sagt sie. Auf Facebook und Twitter sammelt sie Fotos von Protestaktionen aus aller Welt. Sie dankt jedem, der sich für Raif einsetzt, mit einem persönlichen Post oder einer Videobotschaft.
Ensaf Haidar: „Die Welt hat mich überrascht. So viele Menschen stehen uns bei, hoffentlich bis zum Ende, bis Raif zu uns nach Kanada kommt. Das Mindeste, was ich für sie tun kann, ist jedem zu danken.“
Dafür hat Ensaf Haidar ihr Studium hinten angestellt. Nach ihrer Ankunft in Kanada hatte sie sich an der Uni für Französisch eingeschrieben, aber für die Vorlesungen fehlt ihr einfach die Zeit. Ensaf und Raif hatten sich im streng religiösen Saudi-Arabien durch Zufall kennengelernt. Raif habe sie versehentlich angerufen. Eigentlich habe er ihren Bruder sprechen wollen, sagt Ensaf, denn der habe sich ab und an ihr Handy geliehen. Nach dem ersten Telefonat habe Raif dann regelmäßig angerufen.
Ensaf Haidar: „Raif und ich haben uns nie von Angesicht zu Angesicht gegenüber gesessen. Erst nachdem wir offiziell geheiratet haben. Ich habe ihn vorher vom Fenster aus gesehen oder an der Tür. Aber dass wir zusammengesessen hätten – nein. Das ging erst nach der Trauung.“
In Saudi-Arabien, dort wo die Heiligen Städte Mekka und Medina liegen, gilt eine strenge Auslegung des Islam. Religion und Politik, also Klerus und Monarchie, sind aufs Engste miteinander verbunden. Frauen und Männer sind im öffentlichen Leben getrennt. Frauen dürfen nicht Auto fahren, und reisen können sie nur, wenn sie ein männlicher Verwandter begleitet.
Ensaf Haidar: „Als Frau in Saudi-Arabien war es schwer. Alles gilt als haram, als Sünde. Der Mann hat alle Rechte, und die Frau hat gar keine. Sie hat keine eigenständige Rolle in der Gesellschaft. Sie ist wie ein Kind, das von einem Mann geführt wird, ganz gleich welcher: der Vater, der Sohn, der Ehemann. Sie darf keine Meinung haben. Sie ist wie abgeschnitten von allem, und sie wird bewusst in dieser Abhängigkeit gehalten.“
Mit Raif sei das anders gewesen, sagt Ensaf. Er habe sie nach ihrer Meinung gefragt, habe hören wollen, wie sie zu seinen Ideen stehe. Gegen den Widerstand ihrer Eltern hat sich Ensaf durchgesetzt und Raif schließlich geheiratet. Das ist ungewöhnlich in Saudi-Arabien, wo Ehen üblicherweise von Eltern und Verwandten arrangiert werden. Als sie am Tag ihrer Hochzeit zum allerersten Mal neben Raif saß, sagt Ensaf, sei sie aufgeregt und schüchtern gewesen, aber vor allem auch glücklich.
Ensaf Haidar: „Wenn du mit einem Mann zwei Jahre telefonierst, dann kennst du ihn. Zwei Jahre haben wir Tag und Nacht gesprochen. Nur zum Schlafen haben wir voneinander gelassen. Ich habe ihn zwar nicht gesehen, aber alles, was er tat, erzählte er mir, was er isst, wie er kocht. Ich war bei jedem Schritt bei ihm – übers Telefon. Ich habe mich gefühlt, als ob wir zusammenleben. Es fehlte nur noch, dass wir das tatsächlich im selben Haus taten.“
Ensaf wusste von Raifs Blog. Auf die „Die Saudischen Liberalen“ beschäftigte er sich mit der Trennung von Staat und Religion, mit Frauenrechten und Rechten von Minderheiten. Er stellte auch öffentlich die Macht des Klerus infrage und rüttelte damit an den Grundfesten der konservativen saudischen Gesellschaft. 2012 wurde er verhaftet. Ensaf floh mit den drei Kindern – zunächst in den Libanon, dann weiter nach Kanada. Ihre Eltern und ihr Schwiegervater hätten in dieser Zeit versucht, ihre Scheidung von Raif zu erzwingen und die Kinder zurück nach Saudi-Arabien zu holen. In Kanada sei sie vor den saudischen Behörden sicher, sagt sie.
Zu Raif hat Ensaf unregelmäßigen Kontakt. Meist darf er einmal in der Woche mit ihr sprechen. Wieder nur am Telefon. Oft nicht mehr als ein paar Minuten. Über den Alltag im Gefängnis und seine Verletzungen nach den Stockschlägen spreche Raif ungern. Lieber wolle er erfahren, wie es ihr und den Kindern gehe. Lange hatte ihnen Ensaf verschwiegen, dass ihr Vater im Gefängnis ist. Sie habe sie schützen wollen. Doch dann kam der 9. Januar, jener Tag, an dem Raif zum ersten – und bisher einzigen – Mal nach dem Freitagsgebet öffentlich ausgepeitscht wurde.
Ensaf Haidar: „Da waren alle Fernsehkanäle und Zeitungen voll mit Raifs Geschichte. Sogar die kleinen Kinder hier wussten davon. Mir war wichtig, dass sie es von mir erfahren und nicht draußen von irgendwem. Jetzt haben sie sehr viele Fragen, aber wir haben keine Antworten, die sie zufrieden stellen. Wir hoffen, dass diese Krise wie Sommerwolken schnell vorbeizieht.“
Aus Saudi-Arabien gibt es dafür bisher keine Anzeichen. Die offiziellen Stellen schweigen. Der neue König, der nach seiner Krönung traditionell Inhaftierte begnadigt, hat weder Raif noch andere Menschenrechtsaktivisten erwähnt. Immer wieder kursieren Gerüchte, dass Raifs Prozess neu aufgerollt werden könnte. Im schlimmsten Fall könnte er zum Tode verurteilt werden, wenn die Richter zu dem Schluss kommen, dass er vom islamischen Glauben abgefallen ist. Viele in Saudi-Arabien sehen das so.
Schätzungen gehen davon aus, dass etwa zwei Drittel der Einwohner unter 30 sind. Sie haben die neuesten Smartphones, sind bei Facebook, Twitter und Instagram, aber ihre Ansichten bleiben konservativ. Ensaf erhält regelmäßig Tweets, dass Raif diese Strafe verdient habe. Doch sie lässt sich nicht einschüchtern. In Saudi-Arabien hat sie selbst islamische Theologie studiert und kann in Raifs Schriften nichts Verwerfliches finden, nichts, das den Islam beleidigt. Wenn die Angst wieder in ihr aufsteige, habe sie gleichzeitig immer auch Hoffnung, sagt sie. Hoffnung, dass Raif bald zu ihr und den Kindern nach Kanada komme. Nur vorstellen könne sie sich noch nicht, wie dieser Tag sein werde. Sie sagt, es sei – Zitat – „unmöglich, das zu beschreiben – Raif soll einfach kommen und mich sehen.“
Weiterführende Links:
- Ensaf Haidar betreut eine Homepage, auf der sie über Aktionen für Raif Badawi informiert. Sie ist außerdem bei Facebook und Twitter aktiv: http://www.raifbadawi.org/
- Hintergrund zu Raifs Texten bei Amnesty International: http://www.amnesty.de/journal/2015/april/schlaege-fuer-die-freiheit
- Zehn Fakten zur Menschenrechtslage in Saudi-Arabien von Amnesty International: http://www.amnesty.de/2015/3/6/saudi-arabien-10-schonungslose-tatsachen