In Frankreich hat der Klimawandel im Sommer 2022 für Extreme gesorgt: Viele Hitzetote, verheerende Waldbrände, Trockenheit. Damit wird auch der Klimaprotest radikaler: Die Gruppe „Dernière Rénovation“ stört Großereignisse oder blockiert den Verkehr. Im Gegensatz zur „Letzten Generation“ in Deutschland hat sie aber einen ganz besonderen Fokus: die Gebäudesanierung.
Von Carolin Küter, Lyon
Freitagmorgen in Lyon: Auf der Stadtautobahn drängeln sich die Autos im Berufsverkehr. Noch. Denn neun junge Menschen, die auf einer Zufahrtsstraße stehen, wollen für eine Störung sorgen. In einer Traube stehend ziehen sie sich orangene Warnwesten über. „Dernière Rénovation“, zu Deutsch „letzte Renovierung“, steht jetzt auf ihren Rücken, daneben ein Logo, das ein Haus mit einer Flamme im Inneren zeigt. Ein paradoxes Symbol, denn wenn es kalt wird in Frankreich, wird Wärme für Millionen Menschen zum unerschwinglichen Luxus. Laut Umweltministerium ist fast ein Fünftel der Wohnungen im Land sehr schlecht isoliert. 14 Prozent der Französinnen und Franzosen geben an, in ihrem Zuhause zu frieren.
Für die meist jungen Aktivist*innen von „Dernière Rénovation“ ein Grund, zu drastischen Mitteln zu greifen. Ähnlich wie die Klimaprotestierenden in anderen Ländern wollen sie die Regierung mittels zivilen Ungehorsams dazu bewegen, die Klimapolitik zu verschärfen, haben dabei aber eine ganz spezifische Forderung: Sie wollen, dass die Regierung ausreichend Mittel bereitstellt, damit Eigentümer*innen schlecht isolierte Häuser energieeffizient renovieren können. Denn unter einem kalten Zuhause leiden nicht nur die Bewohner*innen, sondern es wird auch viel Energie verschwendet.
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„Letzte Möglichkeit, um Dinge zu ändern“
Für ihre Ziele stören die Aktivist*innen seit Monaten Fußballspiele und Opernaufführungen, versuchen, sich an Regierungsgebäude zu ketten oder blockieren den Verkehr. „Dernière Rénovation“ organisiert seit November in Lyon Protestaktionen. Zehn Aktivist*innen gehören laut Angaben der Gruppe zum festen Kern, etwa 100 engagieren sich ab und zu. Regelmäßige Proteste gibt es zudem noch in Paris und Toulouse. In anderen Städten seien die Gruppen im Aufbau, so eine Sprecherin des Netzwerks.
Die 22-jährige Sophie (Anmerkung der Redaktion: Die genannten Aktivistinnen wollten ihre Nachnamen zu ihrem Schutz nicht nennen) ist heute in Lyon zum ersten Mal mit dabei. Sie sei aufgeregt, sagt sie, und sich gleichzeitig sicher, dass sie das Richtige tue. „Ich habe schon so viel versucht: Klimamärsche, wählen gehen, Petitionen. Aber das bringt alles nichts. Ziviler Ungehorsam ist die letzte Möglichkeit, die wir haben, um die Dinge zu ändern“, so die Kunststudentin.
Gemeinsam mit den anderen Aktivist*innen begibt sie sich an den Rand der Fahrbahn. Sie lassen ein paar Lastwagen vorbeiziehen, zwei Mitglieder der Gruppe halten dann die folgenden Autos per Handzeichen dazu an, langsamer zu fahren. Von Gehupe begleitet stellen sich die sieben weiteren Protestierenden hinter ihnen auf. Motorräder fahren an der Seite vorbei. Als die Reihe dicht ist, setzt sich die Gruppe gemeinsam nieder. Der Eingang zu einem hinter ihnen liegenden Tunnel ist damit blockiert. Das Hupen wird lauter. Nur ein paar Sekunden später springen mehrere Männer aus ihren Autos, beschimpfen die Aktivist*innen und versuchen, diese wegzutragen. Die Protestierenden zeigen keine Reaktion, lassen sich wie nasse Säcke an den Fahrbahnrand ziehen – und krabbeln wieder zurück.
Sie habe keine Angst, sagt die 25-jährige Liza (Name geändert), die das Geschehen im Schneidersitz sitzend fast regungslos an sich vorbeiziehen lässt. „Wir sind solidarisch. Wir wissen, warum wir hier sind und warum wir das machen.“ Etwa zehn Minuten dauert die Blockade, bis ein Trupp von etwa 15 Polizist*innen auftaucht und die sechs Männer und drei Frauen deutlich geübter als die Autofahrer an die Böschung schleift. Minuten später fließt der Verkehr wieder flüssig. Die Aktivist*innen werden abgeführt.
Klimaaktivist*innen müssen sich vor Gericht verantworten
Fünf Stunden habe die anschließende Untersuchungshaft gedauert, berichtet Liza später. Welche juristischen Folgen ihr drohen, weiß die Studentin der Agrarwissenschaft noch nicht. Im schlimmsten Fall könnte es sogar eine Haftstrafe sein, aber diese werden bei zivilem Ungehorsam selten verhängt. Es gibt bereits erste Prozesse gegen „Dernière Rénovation“. In einem Fall müssen sich Aktivist*innen verantworten, die die Tour de France gestört haben. In einem weiteren Verfahren sprach ein Pariser Richter zwei junge Männer zwar schuldig, den Verkehr behindert zu haben, verzichtete aber auf eine Strafe.
Liza sagt, sie würde für ihre Forderungen auch eine Haft in Kauf nehmen. Denn die Regierung tue immer noch so, als sei der Klimawandel kein Problem. Tatsächlich hängt Frankreich hinterher – obwohl Präsident Emmanuel Macron das Thema immer wieder auf die Agenda setzt: So wurden die neuen europäischen Klimaziele während der französischen EU-Ratspräsidentschaft vorangetrieben. Um die für 2030 angesetzte Marke von 55 Prozent weniger CO2-Ausstoß im Vergleich zu 1990 zu erreichen, muss das Land seine Anstrengungen jedoch verdoppeln, ermahnte der Hohe Klimarat, ein Expert*innengremium, das die Klimapolitik der französischen Regierung bewertet.
Macron antwortete darauf Ende Januar: In einem Twitter-Video versprach, in den kommenden acht Jahren in allen Bereichen noch einmal doppelt so viel CO2 einzusparen. Die entsprechenden Gesetze sollen bis zum Sommer ausgearbeitet werden. Bereits zuvor erhöhte Macron den Druck auf seine Regierung: Als Reaktion auf die Gelbwesten-Proteste, die 2018 nach einer geplanten Benzinsteuererhöhung ausbrachen, konnten 150 Französinnen und Franzosen in einer Bürgerbefragung Maßnahmen für eine sozial verträgliche Klimapolitik erarbeiten.
Laut einer Analyse des Radiosenders „France Info“ wurde der Großteil der beschlossenen Maßnahmen jedoch von der Regierung verwässert. Auch mit seiner Neujahrsansprache erweckte Macron bei vielen den Eindruck, die Klimakrise nicht ernst zu nehmen. Mit Blick auf den extremen Hitzesommer 2022 fragte er: „Wer hätte die Klimakrise mit ihren spektakulären Auswirkungen in unserem Land vorhersehen können?“ – und erntete Spott und Häme auch von renommierten Klimaforscher*innen.
Gebäuderenovierung ist soziales Thema
Warum aber haben die französischen Klimaaktivist*innen die Gebäuderenovierung zu ihrer Hauptforderung erkoren? Schließlich werden die meisten CO2-Emissionen in Frankreich laut Hohem Klimarat durch den Verkehr produziert (30 Prozent). Der Gebäudesektor liegt mit 18 Prozent erst an vierter Stelle. Für Hélène Sibileau vom „Buildings Performance Institut Europe”, einer europäischen Denkfabrik, die den Energieverbrauch von Gebäuden untersucht, ist die Antwort klar: In Frankreich spielten soziale Gesichtspunkte stets eine große Rolle.
So sei die politische Diskussion in Frankreich ganz anders als in Deutschland: In der Bundesrepublik werde sehr viel mehr über Energiequellen diskutiert, während in Frankreich das Thema Renovierung auch wegen des sozialen Aspekts wichtig sei. 2013 hat bereits die Regierung unter Präsident François Hollande ehrgeizige Ziele zur Gebäudesanierung ausgegeben, 500.000 Häuser sollten es pro Jahr werden. Macron setzte im Programm für seine Wiederwahl in diesem Jahr noch einen drauf und versprach die Mittel für 700.000 Sanierungen pro Jahr.
Die Regierung wird an ihren hohen Zielen gemessen – die sie nicht erfüllt. So bemängelt der Hohe Klimarat, dass sich die staatlichen Hilfen für Haus- und Wohnungsbesitzer*innen zu sehr im Klein-Klein verlören. Eigentümer*innen würden zum Beispiel ihre Heizung austauschen oder das Dach isolieren – und dann jahrelang nichts. Sinnvoller wäre eine umfassende Renovierung auf einen Schlag.
Soziale Organisationen kritisieren, dass Haus- oder Wohnungsbesitzer*innen zu viel selbst zahlen müssten und besser beraten werden sollten. Ärmere Eigentümer*innen schreckten deswegen oft davor zurück, Bauarbeiten in Angriff zu nehmen, seien aber am Häufigsten darauf angewiesen. Denn die in Frankreich „Energiesiebe“ genannten besonders schlecht isolierten Gebäude werden am Häufigsten von Einkommensschwachen bewohnt. Die Forderung nach einer umfassenden Gebäuderenovierung hat also einen sozialen Schwerpunkt, den es so bei Klimaprotesten bisher nicht gab, sagt Sylvie Ollitrault, Expertin für Umweltbewegungen am nationalen Forschungszentrum CNRS.
Zudem kämpfe „Dernière Rénovation“ gegen ein allgegenwärtiges, drängendes Problem, so Ollitrault. „Nach dem Hitzesommer und der Energiekrise versteht jeder Durchschnittsbürger, was der Klimawandel ist.“ Trotzdem sei die Bewegung weit davon entfernt, ein Massenphänomen zu werden. Im Gegenteil, die Methode sorgt auch für viel Ärger und Unverständnis. Ganz so hitzig wie in Deutschland wird die Diskussion um Verkehrsblockaden in Frankreich zwar nicht geführt, doch der Ausdruck „Öko-Terrorismus“ fiel auch dort schon.
Ollitrault hält das für unangemessen – erst recht, weil das Land in der jüngsten Vergangenheit tatsächliche schwere Terroranschläge erlebt habe. „Wer diesen Ausdruck benutzt, will stigmatisieren und Angst machen“, so die Politologin. Nach Ollitrauts Auffassung sehen sich die Demonstrierenden als Warnende. Dass ihr Protest spalte, sei ihnen bewusst: „Sie hoffen, dass die Menschen schockiert und aufgerüttelt werden.“ Denn ohne einen tiefgreifenden Wandel der Gesellschaft könne der Klimawandel ohnehin nicht bekämpft werden, so die Logik – Konflikte seien damit unausweichlich.
Für die Gruppe selbst sind ihre Aktionen „pure Verzweiflung“, erklärt eine Sprecherin. „Wir wissen einfach nicht, was wir sonst noch tun sollen.“ Das politische Echo ist verhalten: Die linken Parteien erreichten zwar, dass das Parlament im Haushalt für 2023 zwölf Milliarden Euro zusätzlich für die Gebäuderenovierung bewilligte – die Regierung verhinderte das jedoch.