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Die Kraft des Theaters
Beim Kongo-Tribunal sitzt die Regierung auf der Anklagebank

18. Juni 2015 | Von Simone Schlindwein
Das Kongo-Tribunal zeigt die wesentlichen Probleme des Landes vermeintlich spielerisch auf. Fotos: Simone Schlindwein

Zum ersten Mal in der 20-jährigen Geschichte des Kongo-Krieges wird die Frage nach den Verantwortlichen gestellt. Ohne ein funktionierendes Justizsystems ist das Kongo-Tribunal mehr als nur Theater.

Von Simone Schlindwein, Bukavu

Mit einem Hammerschlag eröffnet der vorstehende Richter den Prozess. Die Lichter im Zuschauerraum des großen Theatersaals werden gedimmt. Scheinwerfer und Kameralinsen richten sich auf die Bühne, auf welcher ein Gerichtssaal nachgebaut ist: Der Richter und der Chefankläger sitzen an einem Tisch, daneben eine fünfköpfige Jury. Der Zeugenstand ist noch leer, die Anklagebank auch. Es ist ein einzigartiges Experiment, das sich der Schweizer Regisseur und Theatermacher Milo Rau da ausgedacht hat. Es grenzt schier an Größenwahn, das gibt er offen zu.

Die Worte „Wahrheit und Gerechtigkeit“ prangen in großen Lettern über dem Bühnenbild – zwei hehre Schlagworte, die nicht weiter von der Realität jenseits des Veranstaltungssaals entfernt sein können. Denn jenseits der Mauern des Jesuitenkollegs in der Provinzstadt Bukavu, im Osten der Demokratischen Republik Kongo, herrscht seit über 20 Jahren Anarchie und Bürgerkrieg. Als „Welthauptstadt der Vergewaltigung“ wird Bukavu oft in den Medien bezeichnet, denn hier steht das weltberühmte Panzi-Krankenhaus, in dem ausschließlich sexuell missbrauchte Frauen und Mädchen behandelt werden. In keinem Land der Welt wird so systematisch Gewalt gegen Frauen angewandt, wie im Kongo. Die Verantwortlichen für diese Gewaltspirale zu finden – das soll zum ersten Mal auf dieser Theaterbühne mitten im Kriegsgebiet versucht werden.

Nur wenige Frauen sitzen im Publikum, die VIPs nehmen in der ersten Reihe Platz.

Dafür hat sich Lwashiga, Chefin der lokalen Frauenorganisation CAUCUS, in einem bunten Kleid schick gemacht. Sie und ihre fünf Mitstreiterinnen sind die einzigen wenigen Frauen im Publikum. Die Einladungskarten für die zweitägige Vorstellung haben Raus’ Teammitglieder gezielt an Regierungsinstitutionen und Nichtregierungsorganisationen verschickt. „In unserer Gesellschaft ist es dann meist so, dass die Männer sich die Karten unter den Nagel reißen,“ sagt Lwashiga und seufzt, „dabei geht es doch vor allem um uns, uns Frauen.“

Erneut haut der Richter mit dem Hammer auf den Tisch. „Das Verfahren ist eröffnet“, sagt Jean-Louis Gilissen. Der belgische Anwalt war schon am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag und am Sondertribunal für den Genozid in Ruanda 1994 tätig. In Raus „Kongo-Tribunal“ wird er jetzt zum ersten Mal die Gewaltverbrechen in dem rohstoffreichen Riesenland im Herzen Afrikas verhandeln.

Regisseur Rau tritt ans Rednerpult. „Es ist ein fiktives, ein symbolisches Verfahren“, erklärt er. Doch so ganz stimmt das dann auch nicht. Die Fälle, die in den beiden Anhörungstagen auf dieser Bühne verhandelt werden, sind real. Ebenso die Opfer der Massaker und Vertreibungen, sowie die Tatorte und Augenzeugen. Weil es im Kongo kein funktionierendes Justizsystems gibt, ist Raus’ Kongo-Tribunal mehr als nur Theater: Zum ersten Mal in der Geschichte wird hier die Frage nach der Verantwortung für die Verbrechen gestellt. „Nach all den Millionen Toten und den unzähligen Vergewaltigungen ist es dringend an der Zeit, eine Autopsie dieser Verbrechen durchzuführen“, sagt Christine Schuler-Deschryver in ihrer Eröffnungsrede.

„Es bereichern sich gewisse Leute, während der Rest des Landes in Armut lebt“

Die Kongolesin ist Mitgründerin des Panzi-Krankenhauses und die berühmteste Frauenrechtlerin im Land. Sie ist mit einem Schweizer verheiratet, Tochter eines Belgiers und stammt aus einer angesehen Familie im Ostkongo. Das gibt ihr einen gewissen Schutz – doch sie ist vor allem mutig genug, das laut auszusprechen, was sich im Kongo sonst niemand zu sagen wagt: „Wir leben in einem orchestrierten Chaos, durch welches sich gewisse Leute bereichern, während der Rest des Landes in Armut lebt.“ Richter Gilissen ruft den Chefankläger auf.

Chefankläger und Frauenrechtsanwalt Sylvestre Bisimwa beim Kongo-Tribunal.

Der Kongolese Sylvestre Bisimwa betritt in einer schwarzen Robe die Bühne und verliest die Quasi-Anklageschrift: Darin stellt er die exzessive Gewalt in direkten Zusammenhang mit dem Rohstoffreichtum: „Wer profitiert – die internationalen Konzerne oder eine kleine kongolesische Elite, die sich bereichert?“, fragt er und linst ins Publikum. In der ersten Reihe sitzen Vertreter der Regierung: der Provinzgouverneur, der lokale Geheimdienstchef, der General der in der Provinz Süd-Kivu stationierten Armeeeinheiten. Sie alle wurden gezielt zu Raus’ „Kongo-Tribunal“ eingeladen.

In der ersten Reihe wurden ihnen VIP-Plätze frei gehalten. Dass sie dabei direkt auf der Anklagebank sitzen, das wird ihnen erst im Verlauf der Inszenierung bewusst. Ganz unfreiwillig werden sie zu aktiven Teilnehmern des Spektakels. „Die Jury wird am Ende der zweitägigen Anhörung darüber ein Urteil fällen“, sagt er. Bisimwa ist als Anwalt einer Frauenrechtsorganisation 2013 im Ostkongo vor das Militärgericht gezogen, um die Armeeführung der Vergewaltigung anzuklagen. Auch am Internationalen Strafgerichtshof hat er schon Kongos Frauen vertreten. In Raus’ Tribunal-Theater spielt er sozusagen sich selbst.

Vermummt in einer braunen Ganzkörperschutzhülle wie ein Imker tritt ein Mann in den Zeugenstand. Seine Stimme wird durch ein spezielles Mikrofon verstellt, klingt blechern durch die Lautsprecher. Doch die Schutzmaßnahmen sind notwendig. Gegen die Obrigkeiten auszusagen ist lebensgefährlich im Kongo. Er berichtet von einem Massaker im Flüchtlingslager Mutarule, unweit von Bukavu an der Grenze zu Burundi, bei welchem vor genau einem Jahr 35 Menschen getötet und 27 schwer verletzt wurden. Er legt der Jury Fotos der Leichen als Beweise vor. Bewaffnete Männer seien in das Lager eingedrungen. Der Zeuge hätte Kongos Armee und die UN-Blauhelme angerufen, die in der Nähe stationiert waren, berichtet er. Doch niemand schritt ein.

Ein bisschen Demokratie im fiktiven Gerichtssaal

„Hätten Soldaten und Blauhelme das Massaker verhindern können?“, fragt Bisimwa den Zeugen. „Ja“, sagt dieser. „Wer trägt also die Verantwortung?“, fragt der Staatsanwalt nach. Die Antwort kommt ohne zu zögern: „Die Regierung.“ Die Regierungsvertreter, die aus der 2.000 Kilometer entfernten Hauptstadt Kinshasa eingeflogen waren und die erste Reihe in Beschlag genommen haben, zucken zusammen. Einer mit einem Stöpsel im Ohr und einem Funkgerät am Gürtel greift direkt zum Telefon. Dass in Raus’ Kongo-Tribunal nicht in erster Linie die internationalen Minengesellschaften, sondern die Regierung auf der Anklagebank steht, war abzusehen. Die Stimmung im Saal ist zum Zerreißen gespannt. Die Regierungsvertreter tuscheln.

Jeder erhält im Zeugenstand genau fünf Minuten Redezeit: Die Bäuerin, die von einer Minenfirma von ihrem Acker vertrieben wurde, genauso wie der Provinzgouverneur, dem Gilissen mit eisernen Hammerschlägen den Mund verbieten muss. Zum ersten Mal sind in diesem fiktiven Gerichtssaal alle Menschen gleich. Frauenrechtlerin Lwashiga lächelt in der Verhandlungspause glücklich: „Ich finde die pädagogische Rolle des Richters phantastisch – er schafft es tatsächlich, etwas Demokratie herzustellen.“ Zum ersten Mal bekämen hier die einfachen Menschen die Gelegenheit, den Machthabern die Wahrheit ins Gesicht zu sagen.

Der Gerichtszeichner hält die unterschiedlichen Kommentare bildlich fest.

Offensichtlich wird auch: Die Rohstoffe, alle voran die seltenen Erze wie Coltan und Kassiterit, die zur Handy-Produktion in den Industrienationen benötigt werden, sind nicht die Ursachen, warum bewaffnete Milizen und Soldaten im Kongo sich im großen Stil an den Frauen vergehen. Dieser simplen Erklärung kann auch Frauenrechtlerin Lwashiga nichts abgewinnen. „Wenn wir darüber selbstkritisch nachdenken, dann kann unser Rohstoffreichtum doch auch ein Segen sein und zur Entwicklung beitragen“, sagt sie.

In anderen Ländern, in denen es Mineralienvorkommen gibt, würde doch auch nicht vergewaltigt und getötet. „Es sind unsere Autoritäten, die die Konflikte schüren und von der Gewalt profitieren.“ Die Armee sei nicht nur nicht in der Lage, die Bevölkerung vor den Milizen zu schützen, sondern die Soldaten vergingen sich systematisch an den Frauen in den Dörfern. „Wir leben in einer Welt endloser Straflosigkeit – das ist das Problem.“

Die Delegierten von Regierungssprecher Lambert Mende schreiben eifrig mit, um ein Statement vorzubereiten. In den Aussagen der Provinzregierung im Zeugenstand wird nämlich offensichtlich: Die Machthaber im Kongo sind sich uneinig. Der Innenminister von Süd-Kivu beschuldigt die Armee, die Bevölkerung zu malträtieren. Provinzgouverneur Marcellin Cishambo wirft seinen Vorgesetzten in der Hauptstadt vor, sich ein Minengesetz von Großkapitalisten in der westlichen Welt aufgezwungen haben zu lassen. Als der Vertreter des Regierungssprechers letztlich die Erklärung aus Kinshasa verliest, wird er vom Publikum ausgebuht.

Vor dem Toren des Jesuiten-Colleges sammeln sich ein paar Demonstranten. Sie haben Plakate gemalt. „Sieben Millionen Tote sind genug!“, steht darauf geschrieben. Diese Opferzahlen sind reine Hochrechnungen, jedes Jahr steigen sie um eine Million. Protestführer Jean Kijana schreit in ein Megafon: „Wir verlangen einen realen Internationalen Gerichtshof für den Kongo!“ Frauenrechtlerin Lwagisha steht neben ihm und nickt: „Ich hab’s ja gewusst, sobald das Tribunal vorbei ist werden die Leute sagen: Ach schade, dass es nur Fiktion war!“

Die Anhörungen des „Kongo-Tribunal“ gehen am 26. Juni in Berlin in den Sophiensälen weiter. Dort wird die Rolle der Weltbank und der EU verhandelt, die jüngst ein Gesetz zur Zertifizierung von Mineralien verabschiedet hat. Kann dies die Gewalt im Kongo stoppen? Wir freuen uns über Ihre Meinung.

 

Geschichte hinter der Geschichte

Unter uns Journalisten, die wir schon seit vielen Jahren über den Kongo berichten, ist ein Running Gag besonders beliebt: „Kommt ein Filmteam in den Dschungel geflogen und sucht eine vergewaltigte Frau. Es geht zum Dorfältesten und fragt ganz diskret nach. Der bestellt alle Dorfbewohner ein und sagt: „Wer jemals Opfer sexueller Gewalt geworden ist, erhebe sich!“ Alle stehen auf. Auch die Männer.“ Das ist nicht nur ein Witz, sondern auch bittere Wirklichkeit.

Es gibt sie, die Kollegen, die zum ersten Mal im Dschungel aufschlagen, mit dem Auftrag Vergewaltigungen zu dokumentieren. Die Gretchenfrage ist dann stets: Wie findet man ein Opfer, „am besten eines, das auch noch gut vor der Kamera darüber reden kann?“ Mir wird diese Frage oft gestellt, gerne abends an der Hotelbar. Man verweist diese Kollegen dann an Krankenhäuser wie Heal Africa oder das Panzi-Hospital, die sich auf sexuelle Gewalt spezialisiert haben. Da liegen tausende Frauen und Mädchen. Alle Opfer.

Der Kongo gilt in der Medienöffentlichkeit als der Schauplatz schlechthin für Vergewaltigung; wer besonders brutale sexuelle Gewalt dokumentieren will, reist nach Ostkongo und sucht sich dort seine Opfer. In den meisten Berichten wird als Grund für diese maßlose sexuelle Gewalt der Rohstoffreichtum des Landes angegeben. Es ginge um Coltan – das Erz, das für die Herstellung von Smartphones gebraucht wird und auf dem Weltmarkt gefragt ist. „Hörst du die kongolesischen Frauen in deinem Handy schreien?”, wählte sich einmal eine Aktivistengruppe als Slogan für ihre Forderungen nach „fair Phone“. Die Opfer werden instrumentalisiert für eine Marketingkampagne und dem Verbraucher suggeriert: Wenn nur alle faire Smartphones kauften, dann müsste im Kongo keine Frau mehr leiden. Das ist: Schwachsinn.

Es ist die Verantwortung von uns Journalisten, die Zusammenhänge zu verstehen. Bei der endemischen sexualisierten Gewalt geht es weder um Coltan noch um sexuelle Befriedigung, sondern um eine tiefgehende strukturelle Gewalt, die nicht nur die Frauen betrifft, sondern alle: Kinder, Alte – auch die Männer. Es gibt niemanden, der keine Gewalt erlebt. Dass stattdessen die Erklärungsmuster „Rohstoffe“ und „Handy“ auftauchen, zeigt dass einige ihren Job nicht richtig machen und es lieber Aktivisten überlassen, die vermeintlichen Zusammenhänge zu erläutern.

Auch ich hatte meinen Running-Gag-Moment. Es war 2011 im kleinen ostkongolesischen Dorf Luvungi. Die UN hatten gemeldet, dass dort knapp 400 Frauen in nur drei Tagen vergewaltigt worden waren. Da standen wir also, inmitten des Dorfes auf dem Fußballfeld, wo der Hubschrauber gelandet war. Mit Kamera und Notizbuch ausgestattet: auf der Suche nach vergewaltigten Frauen.

Der erste Station, wie sollte es anders sein, war der Gemeindevorsteher. Der wiederum führte uns zum lokalen Polizeichef. Dieser rief den örtlichen Armeekommandeur herbei, welcher noch den Pfleger von der örtlichen Gesundheitsstation hinzuwinkte. Etwa zwölf indische Blauhelmsoldaten begleiteten uns auf Schritt und Tritt – zur Sicherheit, denn dies sei Rebellengebiet. So endeten wir in einem windschiefen Armeezelt, in dem ein paar Dutzend Männer im Kreis saßen, die uns alle abwechselnd von den Vergewaltigungen berichteten, die die Rebellen hier verübt hätten. „Wollen Sie mal sehen, was sie den jungen Mädchen angetan haben?”, fragte der Polizeikommissar. Bevor ich antworten konnte, trug eine Frau ein vierjähriges Mädchen im rosa Kleidchen hinein. Es bewegte sich nicht und wurde wie eine Puppe inmitten der im Kreis sitzenden Männer abgesetzt. Ihre inneren Verletzungen seien so stark, dass sie blute und nicht laufen könne. „Machen Sie ein Foto!“, sagten die Männer.

Zum Glück hatte der Fotograf schon das Zelt verlassen. Ich ging ihm nach. Er war den Hügel hinaufgestapft, um ein paar Panoramaaufnahmen zu machen: lauter kleine Dörfer zwischen den Hügeln. Wir sahen Frauen, die die Äcker an den Hängen beharkten. Die an Marktständen Tomaten verkauften und am Flussufer Wäsche wuschen. Wir sahen Mädchen, die Wasserkanister schleppten. Einfach unvorstellbar: Rein rechnerisch konnte bei knapp 400 Vergewaltigungsopfern keine einzige verschont geblieben sein, kleine Mädchen und Großmütter inklusive. Es gab nur ganz wenige Männer im Dorf. Die Frauen sind in diesem Bürgerkriegsland das Rückgrat der Gesellschaft. Wer die Sozialstruktur zerstören will, muss bei ihnen anfangen.

Dann kam der Regen, und wir stellten uns unters Vordach einer kleinen Lehmhütte. Darin saß eine junge Frau und gab ihrem Baby die Brust. Sie winkte uns herein. Wir nannten sie später für unseren Bericht Marie, weil wir ihre Identität schützen wollten. Sie rief ihre Nachbarinnen zusammen: ein 16-jähriges Mädchen, das von der Vergewaltigung schwanger geworden war. Eine runzelige 79-jährige Großmutter, deren Wickelrock nach Urin roch, weil sie als Folge der Vergewaltigung das Wasser nicht mehr halten kann. Sie alle wollten reden. Doch nicht nur über jene Nacht der Vergewaltigungen, sondern über 20 Jahre systematischen Terror, den sie erfahren haben. Rebellen, die Raubzüge begehen, die junge Männer entführen, töten. Von ihren eigenen Männern, die eine Miliz gegründet haben, um sich zu wehren und seitdem im Wald leben und ebenfalls plündern und töten – eine Spirale der Rache.

Die Vergewaltigungen waren nur die Spitze eines Eisbergs, eine Form der Gewalt, neben vielen anderen. Und es betraf nicht nur die Frauen, sondern auch die Männer. Über fünfzig Männer wurden ebenfalls Opfer, inklusive dem Dorfvorsteher. Niemand wurde verschont. Ich schämte mich furchtbar. Das war alles zu kompliziert, um es in einer Zeitung zu beschreiben. Was Gewalt und Krieg an sich sind, das wissen wir Deutschen doch überhaupt nicht mehr. Doch im Kongo ist Gewalt wie in allen langjährigen Kriegsgebieten ein Normalzustand: in den Familien, den Gemeinden, der Gesellschaft. Gewalt, die sich über Generationen weiter aufschaukelt.

Und da waren jede Menge Fragezeichen. Warum geschieht das? Warum rammen die Täter den Frauen Macheten in den Unterleib bis sie verbluten? Welchen Sinn macht es, sich an einer Großmutter zu vergehen? Was hat dieser brutale Gewaltakt mit sexueller Lust zu tun? Wieso geschieht dieser Horror so systematisch? Auf viele dieser Fragen habe ich bis heute keine Antwort.

Seit dem Drama von Luvungi werden Massenvergewaltigungen als „Kriegswaffe“ bezeichnet. Der Penis wurde zum Zerstörungsinstrument. Neue Statistiken besagten, dass jeder dritte Mann ein Täter sei. „Ein Land voller Vergewaltiger“, titelte eine Zeitung. 2012 verlor die Regierungsarmee eine Schlacht gegen die Rebellen und zog sich geschlagen in die Kleinstadt Minova zurück. Dort machten sie sich über die Frauen her. Wieder kamen unzählige Journalisten eingeflogen, um die Vergewaltigungen zu dokumentieren. Wieder wurden unzählige Maries interviewt. Wieder derselbe Running-Gag-Moment. Verdammt.

Im Zuge meiner Recherche besuchte ich in Goma ein Trauma-Zentrum, das sich auf Vergewaltigungen spezialisiert hat. Psychologen arbeiteten hier, auch deutsche. Die meisten Patienten waren junge Männer. Einer davon war der 19-jährige Bonerge: Als Sohn eines getöteten Vaters und einer vergewaltigten Mutter hatte er sich mit 16 einer Miliz angeschlossen und zwar einer, die Luvungi überfallen hatte. Was Bonerge und die anderen jungen Männern im Beisein der Psychologen erzählten, ließ mir den Atem stocken. Selbst mehrfach von Kameraden und Kommandeuren vergewaltigt, bekam Bonerge als 17-Jähriger den Befehl, keine Frau im Dorf zu verschonen. Wer nicht gehorcht wird exekutiert. Wer keinen hochkriegt, muss sich eines Hilfsmittels bedienen: Dann kommt der Stock, der Gewehrlauf oder die Machete ins Spiel. Mit sexueller Lust und Befriedigung hat das alles nichts zu tun. Im Gegenteil. In den jüngst veröffentlichten psychologischen Studien steht: 85 Prozent der Täter sind selbst Opfer von Gewalt. Zwölf Prozent wurden sexuell missbraucht, meist von ihren Kommandanten. 73 Prozent wurden gezwungen, Gewalt auszuüben. Dazu gehören auch Kannibalismus und Enthauptungen.

Viele Journalisten neigen dazu, sich das heraus zu picken, was in den Medien am meisten Schlagzeilen macht. Im Kongo sind es die Vergewaltigungen. In Norduganda waren es die Kindesentführungen und die abgeschnittenen Lippen, in Sierra Leone die abgehakten Hände, in der Zentralafrikanischen Republik die Menschenfresser. Doch das sind alles nur Facetten eines riesigen Gewaltarsenals. Und die Täter sind Produkte jener brutalisierten Gesellschaften. Und selbst Opfer. Wie geht noch mal der Witz? Alle stehen auf.

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Von Simone Schlindwein, Kampala

Simone Schlindwein ist die Afrika-Korrespondentin für die tageszeitung in der Region der Großen Seen. Außerdem arbeitet sie regelmäßig für die ARD und die Deutsche Welle. Seit 2008 berichtet sie vor allem über den Kongo, die Zentralafrikanische Republik, den Südsudan, Uganda, Ruanda und Burundi. Mehr: http://simoneschlindwein.blogspot.de.

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