Während der Rest der Welt auf das Ende der Corona-Pandemie hinfiebert, scheint das Leben auf der Mittelmeerinsel Alicudi in gewohnter Gelassenheit fortzuschreiten. Seit jeher ist das abgeschiedene Eiland Anlaufpunkt für emanzipierte Frauen und Aussteigerinnen auf der Suche nach individueller Freiheit.
Von Helen Hecker, Palermo / Alicudi
Rund 50 Seemeilen vom italienischen Festland entfernt ragt das kleine Eiland aus dem Mittelmeer empor. Sobald die Tage im Winter stürmischer werden, lässt das Tragflächenboot, das Alicudi mit dem Rest des äolischen Archipels verbindet, vergeblich am Horizont auf sich warten. Dann bleibt das fünf Quadratkilometer große Inselchen oftmals für Tage von der Außenwelt abgeschnitten. Knapp 80 Seelen leben auf dem einstigen Vulkan. Im Sommer kommen für wenige Wochen gut und gern 200 dazu.
Wer hier strandet, merkt schnell, dass das Leben genügsam ist. Zwei Tante-Emma-Läden, eine Bar und eine Poststube gibt es. Nach Einbruch der Dämmerung sollten die Inselbesucher*innen eine Taschenlampe einstecken, denn Straßenlaternen sind auf Alicudi ebensowenig vorhanden wie Autos. Das einzige Transportmittel, das die steilen Treppensteige meistert, die sich den Berg hinaufschlängeln, sind die rund 20 Mulis. Egal ob Reisegepäck oder Kühlschränke, ohne die Maultiere würde der Verkehr stillstehen. Nur für Menschen sind die Vierbeiner zu störrisch.
Deutsche Enklave im Mittelmeer
Auch die 81-jährige Eva-Maria Stark muss gut 600 Stufen und einen 45-minütigen Fußmarsch in Kauf nehmen, um von der Anlegemole am Fischerhafen zu ihrem Haus zu gelangen. „Übung macht den Meister“, lacht sie inbrünstig. Bereits 1984 zog die damals alleinerziehende Mutter mit ihren Söhnen auf das Eiland. „Eigentlich wählte nicht ich die Insel, sondern die Insel wählte mich“, korrigiert sich die Auswanderin. Damit gehört sie zu den ältesten Inselbewohner*innen und ist eine der vielen Deutschen, die Alicudi zur neuen Heimat machten.
Bis heute habe sie ihre Entscheidung nicht bereut – nur das Alter mache ihr Sorgen. „Nachdem ich vor einigen Monaten schwer gestürzt war, holte mich einer meiner Söhne nach Deutschland zurück. Ich sollte dort bleiben. Doch das kam mir nicht in die Tüte!“ Nach kurzer Zeit stand die gebürtige Meißnerin erneut mit Sack und Pack an der Mole. Ob ihr Traum, hier zu sterben, in Erfüllung gehen mag, sei jedoch fraglich.
Das spartanisch eingerichtete Haus der ehemaligen Hauptschullehrerin befindet sich in nächster Nähe des sogenannten deutschen Viertels „Pianicello“. Hier, an einem der höchstgelegenen Orte der Insel, gibt es bis heute weder Elektrizität noch fließendes Wasser. Jeden Tropfen zieht die betagte Frau aus dem sogenannten „Jungbrunnen“. „Bei uns ticken die Uhren noch anders“, kichert sie. „Einige der Einheimischen wundern sich noch immer darüber, dass wir verrückten Deutschen hier oben alles unbedingt so beibehalten wollen, wie es einst war.“
Klar sei das Leben beschwerlicher als anderswo, aber genau das mache es zum Paradies. Dabei funkeln die Augen von Eva-Maria Stark bedeutungsvoll, als kenne sie ein Geheimnis, das sonst nur Eingeweihte enträtseln.„Für uns Frauen ist die Insel ein Ort der individuellen Freiheit. Hier können wir so sein, wie wir sind“, erklärt sie. Die überzeugte Feministin weiß, wovon sie redet. Politik hat in ihrem Leben immer eine große Rolle gespielt.
In den 1970er Jahren war sie aktiv in der Emanzipationsbewegung in Deutschland und 1980 veröffentlichte sie ihr Buch „Geboren werden und gebären“. Mit dem Verkauf der ersten Auflage erwarb sie ihr Haus auf der Insel. „Ich verliebte mich in Alicudi, weil man hier den Hauch der griechischen Antike bis heute spürt.“ Den Neubeginn in Italien teilte sie mit anderen. Sie habe damals echte Aufbauarbeit geleistet und die verlassenen Häuser in Pianicello wieder hergerichtet. So seien viele der Mitstreiterinnen in jenen Tagen aus Deutschland hierher gekommen.
Die Insel verändert die Menschen
Pionier*innenarbeit leistete auch eine andere Eva aus Deutschland. Ihr Grab befindet sich heute auf dem kleinen Friedhof oberhalb des Belvedere. Tochter Renee Strecker hält das Erbe ihrer Mutter lebendig, auch wenn sie selbst nur die Hälfte des Jahres auf Alicudi verbringt. „Für drei bis vier Monate im Winter zieht es mich nach Berlin, wo meine Kinder leben und mein Atelier ist. Dort realisiere ich dann jene Ideen, die hier entstehen“, erklärt die Künstlerin. Die Insel sei eine Art Therapie, welche die Menschen verändere.
„Reisende kommen mit einer gewissen Erwartung hierher, bringen ihre gewohnten Strukturen und Probleme mit. Dann passiert etwas mit ihnen und sie kehren anders zurück, als sie gekommen sind.“ Auch ihre Mutter nutzte die therapeutische Wirkung der Insel und bot nach ihrer Ausbildung zur Heilpraktikerin über viele Jahre Behandlungen gegen Depressionen und Angststörungen in einem selbstgemauerten Trulli an.
„Um frei denken zu können und sich selbst zu erkennen ist es wichtig, auch an physische Grenzen zu gehen“, so die Malerin. Alicudi sei darin eine unbequeme Lehrmeisterin. Körperliche Anstrengung gehört hier dazu. Auf der anderen Seite sei man die ganze Zeit in unmittelbarem Kontakt mit der Natur und nicht mit all den täglichen Ablenkungen aus Deutschland konfrontiert. Renee Strecker sagt: „Hier finde ich jene Freiräume, die mir in Berlin fehlen.“
Machtwort der alten Dame
Sie war gerade einmal 12 Jahre alt, als sie Mitte der 1970er Jahre mit ihrer Mutter und der jüngeren Schwester nach Alicudi zog. Die einheimischen Fischer und Bauern wunderten sich über die alleinerziehende Frau, die zwei Jahre in Folge auf die Insel kam, um ein Haus zu finden. „Damals machte noch niemand auf Alicudi Urlaub. Die Bevölkerung war bitterarm. Ich erinnere mich an die Kinder, die, wenn überhaupt, ein einziges Paar Schuhe besaßen und im Gegensatz zu uns rund um die Uhr arbeiten mussten“, so Strecker.
Viele Bewohner*innen verkauften damals ihr Hab und Gut, um in Australien ihr Glück zu versuchen. Gegenüber der eigensinnigen Deutschen waren sie misstrauisch. Schließlich war sie die erste Frau, die allein ein Haus auf der Insel kaufen wollte. Und ihre Hartnäckigkeit zahlte sich aus. Sie wurde an das Bett einer greisen Signora geführt, die sie minutenlang musterte und letztlich meinte: „Die Frau gefällt mir.“
Es war das Zünglein an der Waage, das es der alleinerziehenden Mutter ermöglichte, zu bleiben. Per Handschlag wurde der Hauskauf vollzogen und der Grundstein für die kleine deutsche Enklave auf dem Eiland gelegt. „Meine Mutter nannte Alicudi immer ,Insel der Frauen’“, erinnert sich Strecker.
Nicht nur das Machtwort der alten Dame hatte ihnen das Gefühl gegeben, das insgeheim die Frauen das Sagen hatten. „Hier haben sie die Möglichkeit, sich frei zu entfalten, ohne auf ein Klischee reduziert zu werden. Keine wurde herabwürdigend behandelt, weil sie unverheiratet oder alleinerziehend war“, so die Berlinerin. Das sei keine Selbstverständlichkeit in der oftmals patriarchalischen Gesellschaft Italiens.
Großstadthektik Ade
Die in Landshut geborene Michaela Rasp fand auf Alicudi nicht nur ihr eigenes Glück, sondern auch eine Familie. Ihrem späteren Lebensgefährten und Vater ihrer drei Kinder, Bernardo Virgona, begegnete sie zum ersten Mal während eines Ausflugs auf die Insel. Durch Zufall fand der Insulaner die damals vermisste deutsche Urlauberin, nachdem sie allein den Gipfel des einstigen Vulkans bestiegen hatte und schwer stürzt war.
Seitdem sind mehr als 30 Jahre vergangen. Doch die Entscheidung, aus Deutschland wegzugehen, war nicht allein der Liebe zu einem Mann geschuldet: „Wenn ich mich nicht in die Insel verliebt hätte, hätte es nicht funktioniert. Ich merkte, dass ich aus München weg musste, als die U-Bahn vor meiner Nase wegfuhr und ich vor Wut erzürnte, obwohl nur zwei Minuten später die nächste kam“, so die gebürtige Bayerin. Heute ist sie von der Insel nicht mehr wegzudenken. Nicht nur die Einheimischen, auch viele Tourist*innen verehren Michaela Rasp als „Königin der Insel“.
Neben ihrem eigenen Ferienhaus kümmert sich die gelernte Physiotherapeutin im Sommer um bis zu ein Dutzend weiterer Domizile. Für die Reisenden ist sie dabei nicht nur Gastgeberin, sondern Bindeglied zwischen ihnen und den Menschen Alicudis. Um sich in einer so kleinen Gemeinschaft zu integrieren reiche es nicht aus, nur die Landessprache zu lernen, so Rasp, es ginge auch darum, die Kultur zu verstehen und mit anderen zu teilen. Nach all den Jahren gehöre sie heute „weder vollständig zu der einen, noch zu der anderen Welt“, sondern zu beiden gleichermaßen.
Jenseits vom Lockdown
Besonders während der Corona-Pandemie habe die Freiheit, welche ihr Alicudi schenke, eine neue Bedeutung bekommen. Anstatt – wie der Rest Italiens – während der rigorosen Ausganssperre in den eigenen vier Wänden auszuharren, genießt die Deutsche stundenlange Spaziergänge. Eine so kleine Insel kenne keinen Lockdown, denn hier sei man gewohnt, weitgehend unter sich zu bleiben. Bis heute gab es keine*n Covid-19-Patient*innen auf Alicudi.
Wirtschaftlich spüren die Bewohner*innen jedoch die Folgen der Pandemie: Viele leben, wie Michaela Rasp, davon, Ferienhäuser zu vermieten. Die Reisebeschränkungen bedeuteten für sie zu erhebliche Einbußen. Dass es hier dennoch wenig bedarf, um glücklich zu sein, beweisen andere zivilisationsmüde Frauen und Männer, die bis heute auf die Insel kommen, um sich für eine Zeitlang – oder gar für immer – dem Trott der Großstädte zu entziehen. Längst sind dies nicht mehr nur Deutsche.
Da gibt es zum Beispiel die junge Französin Elise, die im Sommer Yoga-Kurse anbietet, oder die Italienerin Elvira Amato, die aus Mailand auf die Insel zog und daraus eine Art soziales Experiment machte. „Wie die meisten arbeitete ich irgendwann nur, um meine Miete, den Einkauf im Supermarkt, Kinobesuche oder das Restaurant zu finanzieren. Irgendwann fragte ich mich, ob das alles notwendig ist“, so die ehemalige Marketing-Angestellte.
Heute lebt sie beinahe vollständig von dem Gemüse, das sie anbaut: „Die Insel lehrt uns, dass es sich oftmals lohnt, alles auf das Wesentliche zu reduzieren, anstatt immer weiter und höher fliegen zu wollen.“