In der Flüchtlingskrise wird Palermos damalige Stadträtin Agnese Ciulla zum gesetzlichen Vormund von mehr als 900 Kindern und Jugendlichen und erhält den Beinamen „Große Mutter“. Dank ihres Einsatzes ändert sich die Gesetzeslage in Italien, sodass heute auch Bürger*innen die Obhut für junge Migrant*innen übernehmen können.
Von Helen Hecker, Palermo
Es ist fünf Uhr morgens. Noch halb verschlafen geht Adele an ihr unaufhörlich läutendes Handy. Wie so oft bleibt der jungen Frau kaum Zeit, sich anzuziehen und unverzüglich zu handeln: Die Polizei ist gerade dabei, ein Heim für minderjährige Geflüchtete zu schließen. Bevor sie das Haus verlässt, gibt sie ihrer Tochter noch schnell einen Kuss. Die Kleine hat heute Geburtstag. Ob die Mutter es pünktlich zur Feier schafft, kann sie jedoch noch nicht versprechen – neben ihren eigenen zwei Kindern warten Hunderte von Flüchtlingskindern auf ihre Fürsorge.
Das, was die Protagonistin Adele in dem italienischen Spielfilm „Tutto il giorno davanti“, zu Deutsch „Den ganzen Tag vor sich“, durchlebt, beruht auf der wahren Geschichte der Sizilianerin Agnese Ciulla und ihren Erfahrungen als Stadträtin von Palermo. Während ihrer fünfjährigen Amtszeit von 2012 bis 2017 wurde die Italienerin zum gesetzlichen Vormund von mehr als 900 unbegleiteten Minderjährigen, die aus Ländern wie dem Senegal, Somalia, Nigeria und Syrien vor Krieg und Armut geflohen sind.
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„Das italienische Gesetz besagte damals noch, dass nur der Bürgermeister oder sein Delegierter die Vormundschaft übernehmen können“, erklärt die 48-Jährige. Ciulla erklärte sich als Verantwortliche für Sozialpolitik dazu bereit. Einer Verantwortung, der sie – wie sie heute sagt – nur gerecht werden konnte, weil sie hinter sich sowohl privat als auch institutionell ein Netzwerk hatte, das sie unterstützte.
Frau, Mutter und Politikerin
Die Idee, die Geschichte der ehemaligen Kommunalpolitikerin für den TV Sender „Rai Uno“ zu verfilmen, stammt von Regisseur Luciano Manuzzi, der aus zahlreichen Zeitungsberichten über die Herausforderungen der Stadträtin erfuhr. „Als ich damals die Schlagzeile las, war ich schockiert, aber auch von Neugier ergriffen“, erzählt der Filmemacher. Für das Drehbuch des Spielfilms arbeitete er eng mit Ciulla zusammen, um viele der wahren Begebenheiten so getreu wie möglich wiederzugeben.
„Der Film hatte im März 2020 Premiere. Es war der erste Tag des Corona-Lockdowns in Italien und ich saß mit meinen beiden Kindern auf der Couch“, erinnert sich Ciulla. Auch wenn sie das Drehbuch kannte, sei sie besorgt gewesen, dass ihre 13-jährige Tochter und ihr 19-jähriger Sohn einige Episoden, in denen es um sie selbst ging, nicht gutheißen würden. „Schließlich hatte meine Arbeit damals direkte Auswirkungen auf ihr Leben und sie haben vieles am eigenen Leib erfahren.“ Glücklicherweise hätten beide das meiste mit Humor genommen und sich in einigen Szenen sogar wiedererkannt.
Tatsächlich schildert die Geschichte von Agnese Ciulla nicht nur die Schwierigkeiten und politischen Herausforderungen in Hinblick auf die Bewältigung der Flüchtlingskrise in Europa, sondern ist auch ein Beispiel für das Engagement von Frauen in der Politik und den damit verbundenen Vorurteilen. „Oft wird gesagt, dass hinter einem großartigen Mann eine großartige Frau steht. Ich scherze dann gern und sage, dass hinter einer großartigen Frau immer ein großartiger Babysitter wacht“, lacht die alleinerziehende Mutter.
Ihr Rettungsanker während ihrer Zeit als Stadträtin seien vor allem ihr Ex-Mann und eine gute Freundin gewesen, die sich beherzt um ihre Kinder gekümmert hätten, als sie versuchte, die Nöte anderer Kinder zu lindern. So bekommt Ciulla in der Öffentlichkeit bekommt den Beinamen „Große Mutter von Palermo“. Gemocht habe sie diesen jedoch von Beginn an nicht. „Eine Journalistin der Tageszeitung „La Repubblica“ wurde sich bei einem Interview plötzlich bewusst, dass sich Hunderte von Jungen und Mädchen in meiner gesetzlichen Obhut befanden. Sie fragte mich, wie ich damit zurechtkäme. Ich antwortete ihr: schlecht“, erzählt die Italienerin.
In einer historischen Krise die gesetzliche Vormundschaft für alle diese Kinder und Jugendlichen gleichzeitig zu übernehmen habe bedeutet, diese Rolle nur schlecht erfüllen zu können. „Vormund zu sein heißt, die Rechte der Kinder nicht nur zu garantieren und zu schützen, sondern auch in ihrem Alltag durchzusetzen.“ Dazu gehört unter anderem, für eine angemessene Unterbringung und sozialpädagogische Betreuung zu sorgen, sie rechtlich zu vertreten, aber vor allem auch sicherzustellen, dass das Kind sowohl physisch wie psychisch wohlauf ist. „Bei einem, zwei oder dreien ist das vielleicht möglich. Aber bei Hunderten?“
Palermo öffnet Hafen und Herzen
Das zum Film erschienene Buch „La grande Madre“, zu Deutsch „Die große Mutter“, welches Agnese Ciulla gemeinsam mit der Journalistin Alessandra Turrisi verfasste, reist zu jenem Tag zurück, an dem die Stadt Palermo zum ersten Mal ihren Hafen für 358 Geflüchtete öffnete: den 2. Mai 2014. Wie die meisten Italiener*innen hatte Ciulla bis dahin die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer durch Medienberichte verfolgt. Mit dem Ausbruch des sogenannten „Arabischen Frühlings“ 2011 waren immer mehr Boote, sowohl an der Küste der kleinen Insel Lampedusa als auch an den Häfen Augusta oder Pozzallo im Süden von Sizilien, gestrandet.
Aufgrund der zugespitzten Lage war nun jedoch auch die Hauptstadt der Insel gefordert. So fand sich die Politikerin – gemeinsam mit Bürgermeister Leoluca Orlando und unzähligen freiwilligen Helfer*innen – eines Morgen um 5.30 Uhr das erste Mal selbst am Hafen von Palermo ein, um die Schiffbrüchigen zu empfangen. Nach diesem langen Tag übernahm sie die Obhut für die ersten 50 Minderjährigen. Es sollten in den kommenden Jahren noch viele Gesichter folgen, die Agnese Ciulla jedes Mal persönlich auf dem Landungssteg begrüßte.
Im schlimmsten Krisenjahr 2016 nahm die Stadt Palermo allein 15.000 Geflüchtete auf. Heute sind rund 7.000 unbegleitete Minderjährige in ganz Italien registriert – darunter Neugeborene, deren Mütter die Fahrt über das Mittelmeer nicht überlebt hatten sowie zahlreiche 15- und 16-Jährige, die sich allein auf den Weg gemacht hatten, um in Europa ihr Glück zu finden und die oftmals über Monate oder sogar Jahre in libyschen Gefängnissen inhaftiert und gefoltert worden sind. Geschichten, die selbst für starke Gemüter schwer zu ertragen sind und hinter denen sich immer ein einzelnes Schicksal befindet, das verdient, mit Sorgfalt begleitet zu werden – so Agnese Ciulla.
Jedes Kind ist einzigartig
In ihrem Buch beschreibt sie, wie sich einige der vielen Nächte am Hafen von Palermo in ihr Gedächtnis gebrannt haben: „Ich werde den Geruch dieser langen Nacht nie vergessen. Der Geruch des Todes, der sich mit der Hoffnung der Erretteten und den Tränen derer vermischte, die tagelang neben einem leblosen Körper gereist sind. ‚Gewöhnt man sich mit der Zeit daran?’ – wurde ich einmal gefragt. ‚Nein’, war meine Antwort. Daran gewöhnt man sich nie.“
Bis zu 24 Stunden kann die Prozedur der Erstaufnahme bei der Polizei, Sozialarbeiter*innen, Sanitäter*innen sowie internationale Organisationen dauern, die eng mit den örtlichen Institutionen zusammenarbeiten, um nicht nur die Registrierung und medizinische Versorgung der Geflüchteten zu garantieren, sondern auch einen geeigneten Wohnplatz zu finden. Nicht immer sei direkt klar gewesen, wie viele Minderjährige sich auf einem Boot befanden.
So habe es beispielsweise oft Jungen gegeben, die älter als 18 Jahre waren, sich aber als minderjährig ausgegeben hätten, um dadurch eine Aufenthaltserlaubnis in Italien zu bekommen. Viele junge Mädchen dagegen machten sich älter, um zu verhindern, dass sie von den Behörden in ein Heim gebracht wurden. „Oft standen sie unter Druck, dass die Menschenhändler, die ihre Überfahrt nach Europa finanziert hatten, sie nun zur Prostitution zwingen wollten“, so Ciulla. Genau aus diesem Grund habe sich etwas an der damaligen Gesetzeslage ändern müssen, um ein neues System der Fürsorge zu schaffen, das sich der einzelnen Lebensgeschichten annimmt.
Im Folgenden setzte sich die Stadträtin also dafür ein, dass nicht nur institutionelle Vertreter*innen wie sie, sondern auch speziell geschulte Bürger*innen als sogenannte Tutor*innen eine Vormundschaft für ausländische Minderjährige übernehmen können. „Noch bevor auf nationaler Ebene 2017 mit dem Gesetz ,Zampa‘ formell die Rechte unbegleiteter minderjähriger Migrant*innen mit denen italienischer Staatsbürgerschaft gleichgestellt wurden, haben wir in Palermo alle Institutionen an einen Tisch geholt und die Grundlage dafür geschaffen“, erklärt sie.
Die Herausforderung habe jedoch darin bestanden, langfristig ein Integrationsmodell zu erarbeiten, das die individuellen Rechte der Kinder mit Würde behandelt, anstatt sie nur irgendwohin zu stecken. „Eine solche Integration kann keinen starren Regeln folgen“, merkt Ciulla an. Stattdessen müsse sichergestellt werden, dass jedes Kind eine persönliche Betreuungsperson hat, die sich seiner Ängste und Sorgen annimmt. Heute gibt es in ganz Italien mehr als 3.000 Tutor*innen: 450 von ihnen in Sizilien und damit jener Region, die aktuell knapp die Hälfte der minderjährigen Migrant*innen in Italien beherbergt.
Im Schoß von Mutter Palermo
Viele der Jungen und Mädchen, die unter ihrer Obhut standen, sind Agnese Ciulla im Gedächtnis geblieben. Von einigen wie der jungen Joy, die zum Opfer des Straßenstrichs wurde, fehlt jede Spur. Andere haben ihren Weg gefunden. „Erst neulich traf ich einen der Jungen mit seinem Pflegevater, der den Traum hatte, in Europa Fußballspieler zu werden.“ Vor Gericht habe sie sich damals dafür eingesetzt, dass das junge Talent die Erlaubnis bekam, an offiziellen Spielen teilzunehmen. Die FIFA hatte dies bis dahin Spieler*innen mit Flüchtlingsstatus untersagt, um einem Missbrauchsskandal in Spanien Einhalt zu gebieten.
Dank dem Engagement der Politikerin entschiede das Gericht zugunsten des Jungen, der heute einer Karriere im Fußball entgegensieht. Bereits vor ihrem Mandat als Stadträtin arbeitete die gebürtige Palermitanerin über 20 Jahre lang als Sozialarbeiterin mit Kindern in Problemvierteln. Nach dem Ende ihrer politischen Karriere widmet sie sich deswegen erneut den Schwächsten der Gesellschaft und setzt sich heute als Verantwortliche des Italienischen Verbands für Obdachlose für Wohnungslose ein. Rückblickend sagt Agnese Ciulla, dass sie ihre Arbeit nicht aufgrund mütterlicher Leidenschaft ausgeübt habe, sondern aus einem politischen Selbstverständnis.
Die „Große Mutter“, der sie den Titel ihres Buchs widmete, sei eigentlich die Stadt Palermo: „Sie ist eine Mutter in ihrer ganzen Komplexität, die jeden willkommen heißt, aber gleichzeitig leidet, weil sie nicht immer für alle die besten Bedingungen schaffen kann.“ Es reiche jedoch aus, zehn Minuten im Herzen von Palermo auf einer Bank zu sitzen. Dann gehe die ganze Welt an einem vorbei und man*frau könne begreifen, dass eine Stadt mit Menschen aus vielen Kulturen eine wahre Bereicherung ist.
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