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Die Geschichte gehört allen
Historikerin kämpft gegen Erinnerungslücken in Belarus

11. Juli 2018 | Von Jasper Steinlein
Tatsjana Pjatrowa hat eine große Leidenschaft: die Geschichte von Belarus. Fotos: Jasper Steinlein

In Belarus wollen viele die schmerzhaften Kapitel ihrer Geschichte vergessen. Sie sehen sich lieber als sowjetische Helden. Die Historikerin Tatsjana Pjatrowa ist überzeugte Patriotin – und setzt sich gleichzeitig für eine offene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ein.

Von Jasper Steinlein, Minsk

Über ihre Heimat Belarus kann Tatsjana Pjatrowa stundenlang reden. Darüber, dass es in der Hauptstadt Minsk schon im 18. Jahrhundert mehr Theater und Hochschulen gegeben habe als in Moskau. Darüber, warum Adam Mickiewicz, den auch Polen und Litauer als ihren Nationaldichter ansehen, eigentlich den Belarussen gehöre. Darüber, wie die belarussische Sprache sich langsam vom Stigma einer Bauern- oder Nationalistensprache befreie und von der staatlichen Kulturpolitik gefördert werde.

Die 31-jährige Historikerin brennt für ihr Fach; daran zweifelt niemand, der sie auf einer Exkursion durch ihre Heimat begleitet hat. Sie reiht Anekdote an Anekdote, spielt auf ihrem Handy Songs der belarussischen Neofolk-Gruppe „Krambambula“ vor und macht im Vorbeigehen verschmitzt auf Restaurationsfehler an Kirchen und Häusern aufmerksam.

Belarussische Sprache als Forschungsobjekt

Dass sie die inzwischen fast überall sieht, liegt auch daran, dass sich Pjatrowa tagein, tagaus mit der Geschichte ihres Landes beschäftigt. Gerade hat sie ihre Doktorandenstelle an der Nationalen Akademie der Wissenschaften angetreten und forscht nun drei Jahre lang zur Geschichte der belarussischen Sprache. Für die Aufnahmeprüfung gelernt hat sie nachts, neben der Arbeit als Reiseleiterin. Auch ihre übrige Zeit widmet Pjatrowa dem „Erhalt des historischen Erbes“, wie sie sich selbst gern ausdrückt – und rührt dabei oft an wunde Stellen, die viele ihrer Landsleute lieber aus der Erinnerung ausblenden.

Belarus, das auch Weißrussland genannt wird, gilt vielen Westeuropäern als letzte Diktatur Europas. Seit Alexander Lukaschenko 1994 die erste und bislang einzige Präsidentschaftswahl nach der Unabhängigkeit gewann, hat er das Land in eine bleierne Stabilität gelenkt, in der alles unter Verdacht steht, was nicht staatlich kontrolliert wird. Bürgerproteste wie die Demonstrationen gegen eine „Schmarotzersteuer für Arbeitslose“ im Frühjahr 2017 werden zerschlagen, Regierungsgegner eingesperrt oder eingeschüchtert. Auf der Rangliste der Pressefreiheit liegt das Land auf Platz 153 von 180 – zehn Plätze hinter Russland; kein anderes Land Europas rangiert niedriger.

In der Kultur hat sich ein eigenartiges Nebeneinander von Nationalstaat und kommunistischem Nachlass herausgebildet. „Wir suchen noch immer nach unseren Wurzeln“, beschreibt Pjatrowa dieses oft widersprüchliche Identitätskonstrukt. „25 Jahre sind nicht viel und nicht wenig, aber der Prozess dauert an.“ Einerseits ist die untergegangene Sowjetunion omnipräsent – im Straßenbild, in den bürokratischen Endlostiteln der Institutionen, in der politisch-wirtschaftlichen Anlehnung an den Nachbarn Russland. Andererseits betonen die Belarussen mit Vorliebe ihre nationalen Eigenheiten: Vom Traktor bis zum Hotel heißt fast jedes Prestigeprodukt „Belarus“, Symbole wie der Storch, die Kornblume oder die mit Ornamenten bestickte Tracht sind auch bei vielen jungen Leuten populär.

Pjatrowas eigener Nationalstolz speist sich vor allem daraus, andere Belarussen an die Auseinandersetzung mit der Geschichte heranzuführen. Mit Begeisterung erzählt sie von Projekten des Junghistorikervereins „Gistoryka“, in dem sie als Geschäftsführerin mitwirkt. Regelmäßig laden die Mitglieder zu populärwissenschaftlichen Vorträgen ein, die auch delikate Themen wie „Geschichte der Prostitution in Minsk“ haben können. In der Provinzstadt Mir, 85 Kilometer südwestlich von Minsk, haben sie einen Wettbewerb für Kinder veranstaltet. Das dortige Schloss ist ein beliebtes Ausflugsziel.

„Die Kinder haben das Schloss gemalt und in der örtlichen Kirche konnten Besucher drei Wochen lang über das schönste Bild abstimmen. Die Kinder hätten dabei gelernt: „Ein Architekturdenkmal, das ist nicht nur Notre Dame de Paris oder das Brandenburger Tor, sondern das gibt es auch in meiner Umgebung“, schwärmt Pjatrowa. Immer wieder betont sie, dass die Belarussen „ihre Geschichte und ihre Kultur kennen und lieben lernen“ müssten.

Sie selbst führt ihren Enthusiasmus auf ihren Vater zurück: „Er hat immer davon geträumt, Wissenschaftler zu werden. Abends las er – ich kann mich nicht daran erinnern, dass er je ohne ein Buch schlafen ging“, erzählt sie. Weil er aber früh eine Familie ernähren musste und sowjetische Soldaten mit Familie zahlreiche Vorteile genossen, trat ihr Vater stattdessen in die Rote Armee ein und war als Major in der damaligen DDR stationiert. „Obwohl er nicht Historiker werden konnte, hat er mir weitergegeben: Wir sind Belarussen, wir müssen unsere Geschichte lieben“, sagt Pjatrowa, die in Dresden zur Welt kam und im Alter von vier Jahren mit ihrer Familie in die belarussische Provinz übersiedelte.

Mit 18 Jahren ist Pjatrowa zum Studium allein nach Minsk gezogen und hat in kurzer Zeit eine Reihe von Abschlüssen gesammelt: Dozentin für musikalische Literatur, Kunsthistorikerin an der Staatlichen Universität für Kultur und Kunst, Bildungsmanagerin am Republikanischen Institut für höhere Bildung, Absolventin der Verwaltungsakademie des Präsidenten. Danach hat sie zwei Jahre im Kulturministerium gearbeitet. „Manchmal kam ich morgens zu spät zur Arbeit, weil hier gerade die Kolonne des Präsidenten vorbeifuhr“, erinnert sie sich, als sie an der Kreuzung zwischen der Minsker Hauptverkehrsader „Prospekt der Sieger“ und dem Mascherow-Prospekt steht. Ob sie das gestört oder amüsiert hat, lässt sie sich nicht anmerken. Politik ist in Belarus kein Plauderthema, sondern „Sache der Politologen“. Höchstens mit einem Witz oder einer ironisch hingeworfenen Bemerkung lassen manche Bürger tiefer blicken. Von Pjatrowa kommt kein solches Signal.

Abriss des historischen Viertels Asmalowka gestoppt

Dabei mischt sie sich durchaus in staatliche Vorhaben ein, wenn es um ihre Sache, die Geschichte, geht: Um das historische Viertel Asmalowka im Minsker Zentrum etwa ringen Bürgerinitiativen schon seit 2014 mit den Behörden. Dort wurden in den 40er Jahren zweistöckige Wohnhäuser für sowjetische Offiziere erbaut, zum Quartier gehören ein Kindergarten und ein Luftschutzbunker. „Das sind die ersten Nachkriegshäuser in der Hauptstadt,“ erklärt Pjatrowa, „aber weil die Stadt wächst, sollen sie abgerissen werden und an ihrer Stelle Hochhäuser für Businesszentren entstehen.“ Immer wieder gaben sich die Behörden durch kleine Zugeständnisse kompromissbereit – und setzten ihre Pläne trotzdem fort. Gemeinsam mit anderen Aktivisten und den rund 900 Bewohnern Asmalowkas hat Pjatrowa schließlich erreicht, dass das Bauvorhaben vorerst ruht. Durch ihre steile Hochschulkarriere ist sie gut vernetzt – und geschützt, wenn sie als Aktivistin auftritt.

Ihr Engagement macht inzwischen Schule: Bürger wenden sich jetzt an ihren Verein „Gistoryka“, weil sie wissbegierig sind oder selbst gegen den Abriss von Gebäuden eintreten wollen, aber nicht wissen, wie. Für Pjatrowa ist das ein Erfolg: „Den Leuten ist nicht mehr egal, was mit ihrem Erbe geschieht“, sagt sie und sieht darin auch eine Überwindung der Fortschrittsgläubigkeit und Untertänigkeit vieler Bürger im Sozialismus: „Sie denken nicht mehr, dass ein Objekt, das alt ist, keine Bedeutung hat. Wenn ein Mensch versteht: Das ist meins, das ist ein Teil von mir, von meiner Identität, dann wird er es nicht zu Schaden kommen lassen.“

Viele blinde Flecken in der Erinnerungskultur

Doch noch immer gibt es Abschnitte der Geschichte, an die sich Belarus als Nation nur ungern erinnert: etwa an den stalinistischen Terror, die Zeit der Massenverhaftungen, Erschießungen und Schauprozesse in den 30er Jahren. Oder an die Ermordung europäischer Juden auf dem Gebiet „Weißruthenien“ im Nationalsozialismus. Dass die deutsche Wehrmacht das Land nach wenigen Wochen überrannt hatte, passt nicht ins Geschichtsbild eines Staates, der zwei Drittel seiner Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg verlor und deshalb lieber den siegreichen Soldaten der Roten Armee, den Partisanen und Untergrundkämpfern huldigt. Auch die Verschleppung und Versklavung hunderttausender Belarussen als NS-Zwangsarbeiter erwähnten offizielle Geschichtsbücher lange mit keinem Wort.

In der Provinzstadt Mir restauriert ihr Verein einen verwaisten Judenfriedhof.

Tatsiana Pjatrowa bleiben solche blinden Flecken in der Erinnerungskultur natürlich nicht verborgen. Sie hat an einem Online-Archiv mitgearbeitet, das die Schicksale sogenannter „Ostarbeiter“ in biographischen Interviews dokumentiert. Diese Methode hat auch die Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch für ihr Buch „Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft” genutzt, das den Reaktorunfall von 1986 in Zeitzeugenprotokollen aufarbeitet. Die Autorin hat mehr als zehn Jahre im Exil gelebt – aus Protest, weil sie in Belarus nicht mehr öffentlich auftreten durfte, nachdem sie Lukaschenko kritisiert hatte.

Pjatrowa hingegen sagt, sie könne bislang nicht von Repressionen durch den Staat berichten. Die Zeitzeugeninterviews sind in einer Datenbank im Internet kostenlos zugänglich und werden auf Konferenzen diskutiert. „Wenn ein Mensch etwas erlebt hat, hat er es nun einmal erlebt”, sagt sie – aber räumt dann verhalten ein: Manchmal, wenn sich die Schilderungen zu stark von der offiziellen Version unterschieden, könne eine Publikation darüber nur im Ausland gedruckt werden.

In der Provinzstadt Mir, wo ihr Verein seit vier Jahren einen verwaisten Friedhof restauriert, auf dem vor allem Juden begraben sind, gebe es hingegen keine Probleme. Die kommunale Regierung habe nichts dagegen, da sie dort weder große Bäume fällen noch Löcher graben – „Wir ehren sowohl die Geschichte als auch das Gesetz.” Kritik am belarussischen System ist von ihr nicht zu hören. Es bringe nichts, zu tönen: „Ihr seid schlecht, ihr gehört verurteilt!”, meint Pjatrowa. Besser sei es doch, auf die Verantwortlichen zuzugehen, damit sich ihr Denken verändere.

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Von Jasper Steinlein, Hamburg

Jasper Steinlein wohnt in Hamburg, arbeitet als Redakteur für tagesschau.de und reist von dort regelmäßig in die russischsprachige Welt, unter anderem nach Russland, in die Ukraine und ins Baltikum. Davor war er Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung. Wichtigster Grundsatz als Journalist: „Reden mit“ statt „reden über“! Mehr unter: http://steinlein.online. Vor seinem Outing als Transmann war er 2017 bis 2020 Teil unseres Korrespondentinnen-Teams.

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