Chen Yu-ping will Taiwans überkommene Geburtsmedizin revolutionieren. Die Gynäkologin bietet Frauen in der sogenannten „Werkstatt der guten Schwangerschaft“ eine sanfte Alternative zur fremdbestimmten Krankenhausentbindung.
Von Carina Rother, Taipei
Eine Frau windet sich in einem Krankenhausbett in den Armen ihres Mannes. Sie gibt leise Klagelaute von sich. Über dem runden Bauch trägt sie eine pinke Krankenhausrobe. Neben ihr steht eine Ärztin, mit Haarnetz und Mundschutz, und redet ihr gut zu. Davon abgesehen erinnert nichts an dieser Geburtsszene an ein medizinisches Setting. Eine gelbliche Motivtapete schmückt die Zimmerwand, das Licht ist gedimmt, die kleine Tochter der Frau läuft an der Hand der Großmutter durch den Raum. Dann wird der Bildschirm schwarz, zu hören sind nur angestrengte Presslaute, dazu die aufmunternden Stimmen von Ärztin und Hebamme, und schließlich – das Schreien eines Säuglings.
Das Geburtsvideo ist zu sehen auf der Webseite der „Haoyun Gongzuoshi“, wörtlich die „Werkstatt der guten Schwangerschaft“. Es ist einer von vielen Berichten, die Familien dort als Text, Bilderserie oder Video hinterlassen haben. Sie zeigen gebärende Frauen in Badewannen, auf Yogabällen, vor Hebammen sitzend, um den Hals ihrer Partner*innen hängend oder mit frisch geborenen Babys auf der nackten Brust. Szenen wie diese sind in Taiwan eine absolute Seltenheit.
Hebammen waren fast verschwunden
„99,79 Prozent aller Geburten in Taiwan werden nur von Ärzt*innen betreut. Das ist eine erschreckende Zahl“, sagt Chen Yu-ping, Gründerin der Werkstatt und selbst ausgebildete Gynäkologin. Hebammengeburten sind in Taiwan äußerst selten. In Krankenhäusern gibt es sie nicht; die Krankenkasse zahlt nur entweder für die Betreuung durch eine Hebamme oder einer Gynäkologin. Zehn Jahre lang war der Hebammenberuf aus Taiwan deshalb quasi verschwunden.
„Viele haben Vorurteile gegen diese Art von Geburt: Sie sei gefährlich, unkultiviert und rückständig“, erklärt Chen. So wurde Taiwan zum Land mit den wenigsten Hebammen der Welt, bis ein paar engagierte Frauen begonnen haben, die Praktik wieder zu erlernen und weiterzugeben. Die Werkstatt der guten Schwangerschaft der 48-jährigen Ärztin ist einer der ganz wenigen Orte in Taiwan, wo die Geburtshilfe durch Hebammen im Mittelpunkt steht.
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Rund 37 Prozent aller Geburten in Taiwan sind Kaiserschnitte – oft ohne medizinische Indikation. Werdende Eltern suchen sich den Geburtstermin gerne selbst aus, und dem medizinischen Personal bringt es Planbarkeit im hektischen Schichtalltag. Deswegen ist auch die medizinische Einleitung der vaginalen Geburt durch wehenfördernde Mittel gängig. Zahlen dazu hat Gynäkologin Chen nicht; sie werden in Taiwan nicht erfasst. Aber Erfahrungsberichte belegen, dass in der Mehrzahl der Kliniken bereits Monate vorher mit den Eltern ein Termin festgelegt wird – wer das nicht will, kann von der betreuenden Gynäkologin abgewiesen werden.
Was Chen besonders verzweifeln lässt, ist Taiwans extrem hohe Dammschnittrate von 99,87 Prozent. Das Einschneiden des Scheidenausgangs in Richtung After ist eine chirurgische Maßnahme, die schwere Risswunden verhindern oder eine vaginale Geburt bei Komplikationen verkürzen soll. Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt den Eingriff bei rund einem Zehntel aller Geburten als medizinisch notwendig ein. Aber in Taiwan ist eine vaginale Geburt ohne den Dammschnitt quasi undenkbar.
Die Folgen der gewaltvollen Geburt
„Der Dammschnitt beschleunigt die Austreibungsphase und das Kind ist schneller auf der Welt. Vermeide ich damit nicht, dass die Frau weniger leiden muss?“ ist die Begründung, die Chen Yu-ping immer wieder hört. Für sie beruht die Praktik auf überkommenen Vorstellungen: Frühe gynäkologische Lehrbücher hätten von dem Kinderkopf als „Rammbock“ gesprochen, der das Tor der Scheide sprengen muss. „Männliche Kriegsmetaphern“, nennt sie das, die noch immer in den Köpfen der Medizinier*innen nachwirkten.
Chen bevorzugt ein anderes Bild: „Die Scheide ist wie eine Blume, die sich langsam öffnet. Genauso wie der Muttermund: Wenn der Kinderkopf auf den Scheidenausgang tritt, wird der Damm langsam weicher und dünner. Und wenn sich die Blume geöffnet hat, dann kommt langsam der Kopf heraus“, erklärt sie. Ein früher Dammschnitt erzeuge daher eine viel tiefere Wunde als ein natürlicher Riss. Chen musste am eigenen Leib erfahren, welche Folgen der Schnitt haben kann. Sie hat selbst zwei Kinder geboren. Das dicke Narbengewebe der Dammschnitte beeinträchtige noch Jahre später den Bewegungsradius ihrer Hüfte, erzählt sie.
„Und ich habe noch schlimmere Geschichten gehört.“ Auch deswegen will sie aufklären: „Für die Mediziner sind es Interventionen, aber für die Psyche von Mutter und Kind ist es ein Trauma. Diese gewaltvolle Geburt hat Auswirkungen auf die lebenslange Entwicklung und die Beziehung zwischen Mutter und Kind.” Dass es auch anders geht, beschreibt die Ärztin in ihrem 2021 auf Chinesisch erschienen Sachbuch „Geburt muss keine Verletzung sein“ – das erste taiwanische Buch überhaupt, das Gewalt im Kreissaal thematisiert.
Kein Problembewusstsein trotz gutem Gesundheitssystem
Doch wie kann es sein, dass in Taiwans Medizin keinerlei Bewusstsein für Geburtstraumata herrscht? Schließlich hat die Insel eigentlich ein hervorragendes Gesundheitssystem. Mit der nationalen Krankenversicherung haben die 24 Millionen Einwohner*innen des Landes günstigen Zugang zu einer umfassenden Gesundheitsversorgung. Krankenhäuser und ärztliche Praxen sind gut ausgestattet, Wartezeiten sind auch bei Spezialuntersuchungen kurz.
Das Problem: Die niedrigen Kosten und die hohe Auslastung des Personals führen dazu, dass wenig Zeit bleibt für individuelle Bedürfnisse. Deshalb sind die Krankenhäuser auf größtmögliche Rationalisierung aus: Weheneinleitung nach Termin, in einem Zimmer mit anderen Gebärenden unter Periduralanästhesie, bis der Muttermund vollständig geöffnet ist. Dann folgt die Verlegung in einen hell erleuchteten Kreißsaal, wo die Gebärende in Rückenlage unter Anleitung eines Arztes oder einer Ärztin entbindet. Viele neuere Standards wie geburtsfördernde Positionen, Spätabnabelung und Hautkontakt zwischen Mutter und Kind nach der Geburt haben noch keinen Einzug gefunden.
Wer das wünscht, muss lange nach einer Privatklinik suchen und dort tief in die Tasche greifen. Ein anderer Grund sei die anhaltende Dominanz alter Herren, meint Chen Yu-ping. Als sie vor 20 Jahren ihre Arbeit in einem großen Taipeier Krankenhauses anfing, lag das Verhältnis von Männern zu Frauen in der Geburtshilfe bei 5:1. Bis heute seien Frauen stark unterrepräsentiert, sagt sie, und mit ihnen das Bewusstsein dafür – Zitat – „dass hier was schiefläuft“.
Deswegen gründete sie 2014 gemeinsam mit gleichgesinnten Frauen aus gesellschaftlichen Bereichen die „Birth Empowerment Alliance“. Die Nichtregierungsorganisation setzt sich nach eigenen Angaben für „Geburtsautonomie“ und eine „sanfte Geburt“ ein. Sie fordert Hebammenstellen in Krankenhäusern und schafft mit Kursen ein Bewusstsein dafür, wie selbstbestimmtes Gebären aussehen kann. Und Chen Yu-ping ging noch einen Schritt weiter: In ihrer „Werkstatt der guten Schwangerschaft“ werden Schwangere nicht nur vorbereitet – seit 2016 können sie dort auch gebären.
Ort für eine selbstbestimmte, sichere Entbindung
Die engagierte Ärztin zeigt stolz den Geburtsraum: ein abgedunkeltes Zimmer in einer kleinen Taipeier Nebenstraße. Darin stehen ein großes Bett, eine Badewanne, ein zusammengefalteter Rollstuhl. Auch ein Waschbecken und eine Couch gibt es. Und viel Platz für Bewegung, zum Beispiel auf dem großen Geburtsball. Nur das Sammelsurium aus Kompressen, Binden und anderen Utensilien in einem Regal erinnert daran, dass hier medizinische Betreuung stattfindet. An der Decke hängen Beamer, die Bilder auf drei Seiten des Raumes werfen: beruhigende Szenen von Berglandschaften und Sonnenuntergängen. Die Gebärenden können es sich selbst aussuchen. Und sie sind eingeladen, Familie und Freund*innen mitzubringen.
Die Geburtsbegleitung übernimmt ein Team aus Hebammen, die mit der Werkstatt zusammenarbeiten. Nur wenn es Komplikationen gibt, wird die Ärztin eingeschaltet. Sie kennt jede Frau bereits aus den Vorsorgeuntersuchungen in ihrer gynäkologischen Sprechstunde im Taipei Union Hospital for Women and Children. Die Klinik gehört zu den wenigen, die auf Wunsch interventionsarme Geburten anbietet und mit Hebammen zusammenarbeitet. Dass sich Hebammen in Notfällen ohne Angst an eine Klinik wenden können, sei entscheidend für eine sichere Geburtshilfe abseits von Krankenhausstrukturen, betont Chen.
Risikoschwangerschaften werden direkt in der Klinik entbunden – auch hier mit Hebammenbegleitung. Sogar Hausgeburten mit Hebammen macht Chen Yu-ping für ihre Patient*innen möglich. Für diese Option hat sich ein deutsch-taiwanisches Paar entschieden, das gerade bei der Ärztin in Betreuung ist. „Ich finde, wir haben bei ihr mehr Rechte und Entscheidungsspielraum als anderswo“, sagt der werdende Vater Huang Cheng-yu. Seiner Partnerin Eva Pulina war es wichtig, dass ihre Geburtsbegleiter*innen ihre Wünsche respektieren würden. „Sowohl die Ärztin als auch unsere Hebamme ließen uns den Geburtsort frei wählen“, berichtet die 29-jährige Sprachlehrerin.
Ihr Kind wird eines von über 400 sein, die mit Chen Yu-pings Begleitung sanft auf die Welt gekommen sind – ein großer Erfolg. Besonders Mütter, die zuvor schon in einem Krankenhaus entbunden haben, schätzten die Erfahrung in Chens „Werkstatt“. „In unserer Geburtshilfe wollen wir ihnen die Möglichkeit geben, das Trauma der ersten Geburt zu heilen und die Geburt zu genießen – denn es kann ein Genuss sein“, sagt Chen Yu-ping zum Abschied.
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