Dora Saldarriaga hat es mit der ersten politischen Frauenbewegung Kolumbiens bei der Kommunalwahl ins Medellíner Rathaus geschafft. Sie will nicht nur die Stadt verändern, sondern wie man in ganz Kolumbien Politik macht.
Von Katharina Wojczenko, Medellín
„Estamos listas“ – zu Deutsch „Wir sind bereit“ – heißt die Bewegung, die den traditionellen Parteien Kolumbiens etwas entgegensetzen will. Ihr erstes Ziel: mehr Frauen und Geschlechterthemen im Stadtrat von Medellín, der immerhin zweitgrößten Stadt des Landes. Dora Saldarriaga ist hier seit der Wahl im Oktober 2019 als Stadträtin für die Bewegung vertreten. Die 41-Jährige ist geschieden und hat keine Kinder, zwei Katzen und fällt mit ihren kurzen Haaren in Kolumbien auf. Dazu trägt sie roten Lippenstift und strahlt eine fröhliche Energie aus – selbst wenn eine Erkältung ihr im Wahlkampf fast die Stimme raubt.
Saldarriaga wuchs als jüngstes von acht Geschwistern in Santa Elena auf, einer der ländlichen Gemeinden, die 70 Prozent des Stadtgebiets von Medellín ausmache. In der Stadtpolitik tauchen sie aber vor allem als Naherholungsgebiet und Tourismus-Ziel auf – zulasten der Landwirtschaft, von der die ländliche Bevölkerung lebt, kritisiert Saldarriaga. Weil sie das ärgerte, engagierte sie sich im Gemeinschaftsrat von Santa Elena. Da sie „aus dem hintersten Dorf komme“, wollte sie sich schon immer für die Ausgegrenzten einsetzen, sagt sie. Erst für die Landbevölkerung, dann für die Frauen.
Heute ist sie Anwältin mit mehreren Uniabschlüssen. Sie hat sich auf Menschenrechte spezialisiert und setzt sich seit Jahren für die Rechte von Frauen ein, im Frauenreferat des Rathauses ebenso wie in sozialen Organisationen und an ihrer Uni, der Universidad Autónoma Latinoamericana in Medellín. Dort gründete die Jura-Professorin die Beobachtungsstelle für Geschlechterfragen an der Rechtsfakultät, wo Studierende ihr Wissen an echten Fällen testen können. Die Stelle organisiert auch Kampagnen gegen Sexismus an der Uni und beschäftigt sich mit strategischen Rechtsstreits in Bezug auf die Menschenrechte der Frauen.
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„Ich bin eine Frau fürs Risiko”, sagt sie. „Wenn jemand sagt: Das geht nicht – dann treibt mich das an, und schon mache ich das.” Das klingt nach Rambo, bedeutet aber in Saldarriagas Fall vor allem: einen langen Atem, immer wieder darüber reden, erklären. Und Teamarbeit. Sie spricht meist von „wir“, wenn es um das Erreichte geht. „Wir Frauen sind sehr engagiert im Sozialen, in der Bildung, in allen Bereichen“, erklärt sie. „Aber die wirklich bedeutenden, strukturellen Entscheidungen treffen Männer.” Deshalb ging sie in die Politik. Sie will Medellín gerechter für alle machen – und dabei nicht zuletzt die „Klüfte“ zwischen den Geschlechtern überwinden.
Damit meint Saldarriaga nicht nur das Einkommen, sondern auch, wie wenig Gewalt gegen Frauen thematisiert wird. So werde bei der Bekämpfung der steigenden Mordrate in Medellín vor allem über die Männer geredet. Diese machen wie in ganz Kolumbien die meisten Opfer aus: Im Jahr 2019 gab es 591 Ermordete, 542 davon waren Männer, meistens jung und von Verbrecherbanden getötet.
Dabei sei die Gewalt gegen Frauen ebenfalls groß nur anders, meint Saldarriaga. So sei Gewalt in der Familie bisher viel zu wenig Thema für die Stadt gewesen. 2019 gab es knapp 7.900 Anzeigen – mehr als 5.300 von Frauen. Etwa 1.700 Frauen von ihnen wurden Opfer sexueller Gewalt. Die Stadt selbst geht davon aus, dass die Dunkelziffer doppelt so hoch ist.
Um das zu ändern, traten für „Estamos Listas“ bei der Wahl im Oktober zwölf Frauen und sechs Männer an. Denn die gesetzliche Quote von 30 Prozent für Wahllisten gilt für beide Geschlechter. Die Quotenmänner setzten sie auf die hintersten Plätze. Damit hatten die Männer kein Problem: Sie sind überzeugte Feministen und schildern eindringlich, warum die kolumbianische Macho-Politik mehr Frauen für einen Kulturwandel braucht.
Zum Beispiel Geovanny Celis Rangel: „Der schönste Satz von „Estamos Listas“ ist: Wir wollen auf Medellín aufpassen. Wir Männer sind dazu nicht in der Lage. Und das sage ich, der ich heterosexuell und Vater zweier erwachsener Kinder bin. Ich habe als Witwer meine Söhne großgezogen und verstanden, dass meine patriarchale Erziehung mir in der Jugend Privilegien gab, mir aber manches vorenthalten hat: Gefühle, Liebe, Zärtlichkeit, Empathie. Das musste ich mir erst aufbauen.“
Nach dem Nein zum Friedensabkommen ging es los
Auslöser für die Gründung von „Estamos Listas“ war der Schock über die Volksabstimmung zum Friedensabkommen zwischen Staat und FARC-Guerilla nach mehr als 50 Jahren Bürgerkrieg im Jahr 2016. Die Kolumbianer*innen lehnten dieses ab – mit einer knappen Mehrheit und geringer Wahlbeteiligung. In Medellín jedoch mit 62 Prozent. „Wir Frauen waren völlig verzweifelt”, erinnert sich Dora Saldarriaga. „Wie kann eine Stadt, die nicht direkt vom bewaffneten Konflikt betroffen war, gegen ein Friedensabkommen stimmen? Das ist so frustrierend für unsere und die nachfolgenden Generationen.”
Fünf Frauen luden 2017 Interessierte zu einem ersten Treffen ein. Ihnen war klar: „Wir müssen diesem Diskurs von Krieg und Hoffnungslosigkeit der dominierenden Parteien etwas entgegensetzen”, erklärt Saldarriaga. Sie gingen auseinander mit der Aufgabe, neue Kreise zu bilden und noch mehr Freundinnen und Bekannte einzuladen, um sich für eine andere Art von Politik stark zu machen. Am Ende waren sie mehr als 2.000 Frauen: Akademikerinnen aber auch Afrofrauen, indigene Frauen, Hausfrauen, Unternehmerinnen, Freiberuflerinnen, Künstlerinnen, Lesben, Transfrauen, Frauen vom Land und der Stadt, junge Frauen, Seniorinnen – eine Bandbreite, wie sie in traditionellen Parteien extrem selten ist.
Korruption um jeden Preis verhindern
Von denen will sich „Estamos Listas“ auch sonst absetzen. Das kolumbianische Parteiensystem ist durchsetzt von Korruption. Wer aufgestellt werden will, braucht in der Regel viel Geld oder muss sich verschulden. Immer wieder gibt es Skandale zu Stimmenkauf. Deswegen trat „Estamos Listas“ mit einer geschlossenen Kollektiv-Liste an. Rund 2.000 registrierte Unterstützerinnen bestimmten online die 18 Kandidat*innen aus 39 Bewerbungsvideos. Die Bürger*innen konnten am Wahltag nur das Symbol der Bewegung ankreuzen: eine wachsame, weise Eule.
Den üblichen teuren, personalisierten öffentlichen Wahlkampf und die internen Profilierungsauseinandersetzungen sparte sich die Bewegung so. Spendensummen begrenzten die Frauen, um Einflussnahme zu vermeiden. Sie finanzierten sich stattdessen mit dem Verkauf von Tassen, Armbändern und Halstüchern mit dem Eulenmotiv und Benefiz-Kulturveranstaltungen. Bei ihren Treffen entscheiden sie basisdemokratisch, es soll eine betriebsame, freundschaftliche Atmosphäre herrschen – genau wie im Wahlkampf, wo die Frauen lachend und singend durch die Straßen von Medellín zogen.
Dass Dora Saldarriaga die Spitzenkandidatin der Bewegung war, fiel von außen nicht auf: Sie sprach genau wie alle anderen Menschen, trug Werbematerial und erhielt keine Sonderbehandlung von ihren Mitstreiterinnen. Und die Frauen hatten Erfolg: Dora Saldarriaga errang aus dem Stand einen Sitz im Stadtrat – und das bei einer Konkurrenz von zehn Parteien, zwei weiteren Bewegungen und zwei Parteibündnissen. Seitdem hat sich Saldarriagas Leben komplett verändert. Im Januar begann die Stadtratsarbeit. An der Uni gibt sie nur noch ein Seminar. Den Rest widmet sie dem politischen Mandat, für das sie ähnlich wie an der Uni bezahlt wird.
Ihre Bilanz nach wenigen Wochen als Stadträtin: Begeisterung gepaart mit einem Wermutstropfen. Nur fünf der 21 Mitglieder des Stadtrats sind Frauen. Aber: „Wir haben es geschafft, den Geschlechter-Blickwinkel in alle Debatten einzubringen“, sagt Saldarriaga, „In so kurzer Zeit ist so viel passiert, dass es mir wie ein Jahr vorkommt. Aus der Uni kannte ich das nicht.” Dann zählt sie all die Arbeitsgruppen auf, die neu gegründet wurden wie zum Beispiel zu sexueller Gewalt. Das neue Ziel von „Estamos Listas“: Sie wollen auch ins Regionalparlament von Antioquia mehr Frauen bringen, um die Ungerechtigkeit auf der nächsten Ebene zu bekämpfen.
Frauen und Politik in Kolumbien
Die Kommunal- und Regionalwahlen 2019 waren ernüchternd. Zwar brachten sie neue progressive Kräfte nach vorn und den etablierten Parteien herbe Verluste, allen voran dem rechtskonservativen Centro Democrático von Präsident Iván Duque. Doch setzten sich beispielsweise an der Karibikküste die alten Clans durch. An vielen Orten standen nur Kandidat*innen mit massivem Korruptionsverdacht zur Wahl.
Auch für Frauen gab es Rückschritte. Zwar bekam die Hauptstadt Bogotá mit Claudia López die erste weibliche, lesbische Bürgermeisterin. Landesweit nahm die Zahl der Frauen in politischen Gremien und Ämtern jedoch ab. So gibt es aktuell in 1.101 Rathäusern nur 130 Bürgermeisterinnen, in neun von 32 Regionen sogar gar keine.
Die Initiativen, die Frauen unterstützten, die sich zum ersten Mal politisch engagieren wollten, reichten nicht aus. Die Parteien gaben einen Großteil der öffentlichen Gelder zur Frauenförderung für andere Dinge aus, wie die Vereinten Nationen kurz vor der Wahl belegten. Und für den Wahlkampf bekamen Frauen von ihren Parteien deutlich weniger Geld als die Männer. Abschreckend könnte auch sein, dass politisches Engagement in Kolumbien immer noch gefährlich ist: 22 Kandidat*innen wurden 2019 ermordet, 171 bedroht.